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Und Jeremias las. Es war, als ob die Eisengallustinte selbst, mit der das Testament geschrieben war, in ihrer ganzen bitteren Herbe über seine Lippen flösse, so widrig war das Gesicht des Lesenden:
»An meinen Vetter Jeremias Kraker, Export und Import in Hamburg, den ich mit derselben Liebe liebe, mit der er mich liebt.
Jeremias: Kapitel 9, Vers 15.«
»Was stehet dort geschrieben?« fragte Frau Sanna.
Jeremias griff in den linken Schoßflügel seines leidtragenden Gehrockes, der das Alte Testament barg, während im rechten das Neue seinen Platz hatte, und las: »Darum, so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, also: »Siehe, ich will dies Volk mit Wermut speisen und mit Galle tränken.«
»Was soll das?« fragte verdutzt Frau Sanna.
»Du wirst es bald merken,« antwortete Jeremias. »In der Unflätigkeit seines Gemütes hat sich der Hingegangene nicht gescheut, einen Vers Jeremiä gewissermaßen als Motto zu mißbrauchen. Wir sind das Volk, Sanna, das von ihm mit Wermut gespeist und mit Galle getränkt wird in diesem schändlichen Schriftstücke. Es ist sogar noch ein zweiter Vers vermerkt und dessen Sinn wird dir ohne weiteres eingehen:
Jeremias: Kapitel 15, Vers 13!!!«
Der bibelsichere Kaufmann blätterte um und las fast wimmernd: »Ich will aber zuvor euer Gut und Schätze in die Rappuse geben, daß ihr nichts dafür kriegen sollt; und das um aller eurer Sünden willen, die ihr in allen euern Grenzen begangen habt.«
»In die Rappuse!« wiederholte Frau Sanna entsetzt, »wie schrecklich!«
»Jawohl: in die Rappuse!« rief Herr Jeremias aus, »und das da ist die Rappuse, Sanna! Das da!« Er schlug klatschend auf das Testament.
»Ogottogottogott!« jammerte Frau Sanna. »Und das hat er extra rausgesucht!«
Jeremias nickte schwermütig mit dem Kopf: »Ja selbst die Bibel, die er sonst mied, mußte ihm dazu dienen, uns Pfähle ins Fleisch zu stoßen!«
»Er war ein Ungeheuer! Ich mag nicht auf seinem Sofa sitzen!« rief Frau Sanna aus und sprang auf, als sei sie einer im Polster verborgenen Stecknadel zu nahe gekommen. Und nun wandelte sie neben ihrem Gatten her, während er weiter las:
»Jeremias! Bei deiner großen Frömmigkeit, dieser durchaus probaten Diätetik der Seele, die Geist und Gemüt vor allen ungesunden Anstrengungen und Aufregungen schützt, und bei deinem streng geregelten Lebenswandel, der allen Gefahren und Schädigungen klug aus dem Wege geht, ist es mir zweifellos, daß du mich und auch meine Frau überleben wirst. Ganz bestimmt aber wirst du, denk ich, in dem Falle am Leben sein, für den ich heute am Tage der Adoption von Felix Schirmer, nun also Felix Hauart (später Henry Felix zu nennen, nach seiner Einregistrierung in ein protestantisches Kirchenbuch) dieses Testament errichte, für den Fall nämlich, daß wir, meine liebe Frau Klara und ich, diesen unseren Adoptivsohn in unmündigem Alter zurücklassen sollten. Für diesen Fall, den das Schicksal meinem teueren Sohne hoffentlich ersparen wird, bestelle ich dich zu seinem Vormund.
Dies ist mein einziges Vermächtnis an dich. Wärest du nicht der Fromme, der du im Gegensatze zu mir, dem Gottlosen, bist, so würde ich dir auch etwas anderes vermachen, ›Dinge dieser Welt‹, um in deiner Sprache zu reden. Aber, so hoch ich diese Dinge schätze und schätzen muß, da ich ja an die andere Welt nicht glaube, so sehr verachtest du sie, der hienieden nicht genießen, sondern sich nur vorbereiten will auf das himmlische Jenseits, allwo der Fromme um so höherer Seligkeit gewürdigt werden soll, je kümmerlicher es ihm ergangen ist in diesem Jammertale.
Ist es nicht so, Jeremias?
Ich frage dich, weil ich mich selbst oft genug gefragt habe, ob das wirklich die Meinung der Frommen ist. Ich bin daran gerade im Hinblick auf dich, Jeremias, zuweilen irre geworden. Denn fleißiger noch als in die Kirche gehst du in dein Kontor, und intensiver noch als an die ewige Seligkeit denkst du an deinen Profit, und du hältst es offenbar durchaus nicht für einen Raub an deinem Christentum, daß du dich täglich durch Export und Import bereicherst. Schon als Knabe hast du mit Stahlfedern und Briefmarken einen schwunghaften, erfolgreich auf Gewinn bedachten Tauschhandel getrieben, großes Geschick entfaltend in der Ausnutzung der Konjunktur und große Beredsamkeit, wenn es dir galt, dein Briefmarkenalbum vorteilhaft um ein selteneres Stück zu vermehren, als es das war, das du dafür hinzugeben entschlossen warst. So hast du mich, o Jeremias, einmal um eine Kap der guten Hoffnung gebracht, die dreimal so viel wert war, als die Mexiko, die du mir dafür aufdrehtest.«
Herr Jeremias blieb stehen und rief erregt, indem er das Testament schwang: »Kein Wort ist davon wahr! Die Mexiko war ebenso gut; wenigstens in dem Moment, wo ich sie ihm gab. Erst am nächsten Tag fiel sie im Kurs, weil ein anderer Junge ein ganzes Kuvert voll in die Klasse brachte. Ich habe nur kaufmännische Voraussicht an den Tag gelegt damals. Das ganze Börsengeschäft beruht darauf, daß man sich über Eventualitäten durch Erkundigungen orientiert und demgemäß rechtzeitig Abschlüsse macht. Henry hat genauso mir gegenüber gehandelt und mehr als einmal. So erinnere ich mich, daß er mir eine Thurn und Taxis...«
»Halt dich doch nicht bei den Briefmarken auf!« fiel Frau Sanna ein, »das war ja nur Hohn.«
»Aber ich laß mir meine Ehrenhaftigkeit als Kaufmann nicht verdächtigen!« rief Herr Jeremias, »mein Schild ist rein!«
– »Gewiß, Jeremias! Lies weiter!«
– »Also:... aufdrehtest! Du siehst: auch ich bin Kaufmann; sonst würde ich mich an derlei nicht mehr erinnern. Aber ich verstehe nur manchmal nicht recht, wie man ein so brillanter Kaufmann sein kann wie du, und ein so brillanter Christ gleichzeitig.«
Herr Jeremias konnte nicht anders: er mußte das Testament nochmals heftig schwingen und stehenbleiben. Dabei rief er: »Ja, soll ich denn, weil ich Christ bin, alle Geschäfte den Gottlosen überlassen? Das möchte denen gefallen. Das glaube ich!«
»Es ist ja bloß Hohn, Jeremias!« beschwichtigte die Gattin. »Er meint den Unsinn ja gar nicht ernst. Lies weiter!«
Und Jeremias las: »Aber es wird wohl so sein: Ihr guten Christen, da euch das Leben nur als eine Kette von Prüfungen gilt, die im Jenseits um so höher honoriert werden, je freiwilliger sie übernommen und je glänzender sie bestanden worden sind, ihr betrachtet auch den kaufmännischen Beruf als eine Prüfung und drängt euch um so beflissener zu ihm, je widerwärtiger euch der Gedanke an irdischen Gewinn ist. Ihr leidet grausam am Profit, aber ihr überwindet mannhaft dieses Leiden, so mannhaft, daß ihr es täglich, stündlich steigert. Es ist das Kreuz, das ihr auf euch nehmt, ein Kreuz aus Gold und daher sehr schwer. Nur dadurch ist auch zu erklären, daß ihr Reichtümer sammelt, nicht, um sie zu genießen, sondern offenbar bloß zu dem Zwecke, daß sie da sind. Das wäre ganz unnatürlich, wenn ihr es nicht aus der Lust am Leiden, am Tragen tätet, – ihr Märtyrer des goldenen Kreuzes. Ist das nicht so, Jeremias?«
Hier blieb Frau Sanna stehen. »Er war verrückt, Jeremias!« rief sie mit Bestimmtheit aus. »Ich glaube, man kann das Testament anfechten!«
– »Nein, Sanna, er war nur über alle Begriffe boshaft, und er wußte ganz genau, wo hinaus er mit seinem gotteslästerlichen Spotte wollte. Höre nur weiter: »Ja es ist so. Und weil es so ist, darf ich dir von meinem Reichtum nichts hinterlassen. Zwar, er würde dich vielleicht besonders schwer drücken und dir aus diesem Grunde doppelt willkommen sein als Zuwage zu deinem Kreuze, weil mein Vermögen nicht christlich, sondern unchristlich erworben ist, nämlich nicht zu dem Zwecke mich zu drücken, sondern mir das Leben möglichst frei und heiter zu gestalten. Denn jeden Taler, den ich mir erworben habe, Jeremias, habe ich meiner Lust erworben, meiner Begierde, ein freier Herr auf Erden zu sein, alles zu genießen, was einem Menschen, wie mir, die Erde zum Genuß bietet, und zwar im möglichsten Überflusse zu genießen, schwelgerisch, inbrünstig, wollüstig.«
»Pfui!« pfiff Sanna hervor.
Düster las Herr Jeremias weiter: »Wenn mein Leben trotzdem nur wenig Wollüste gekannt hat, was ich tief beklage, so trägt die Hauptschuld daran der Umstand, daß ich nicht im Reichtum geboren und nicht für den Reichtum erzogen worden, wohl auch im Grunde eine karge Natur bin – denn ich bin dir blutsverwandt, Vetter Jeremias. So habe ich mir denn als Surrogat für alles Nichtgenossene die Wollust aufgespart, in einem Menschen nicht meines, sondern besseren Blutes einen Wollüstling zu erziehen.«
Vetter Jeremias ließ das Schriftstück sinken und sah Frau Sanna leer an. Diese wandte mit vor Grauen halboffenem Munde den Kopf wie mechanisch ein paarmal hin und her und hauchte: »Weiter!«
Jeremias las: »Doch das gehört schon zu der Orientierung, die ich dir im weiteren Verlaufe dieses Vermächtnisses, das aus Rücksicht auf dein stark ausgebildetes Christentum ein Nichtsvermächtnis sein muß, über meinen schon jetzt innig geliebten Sohn und einzigen Erben Henry Felix geben werde. Ich führe nur, um dir klar zu zeigen, wie vollkommen ich deine christlichen Überzeugungen und Empfindungen zu schätzen weiß, noch aus, was ich vorhin angedeutet habe. – Gesetzt den Fall, ich hinterließe dir irdische Güter. Was hieße das? Eine Handlung gegen meinen Begriff vom Sinne des Reichtums und eine Versündigung gegen den deinen. In diesem Zusammenhange sei nur von der Versündigung gesprochen. Für dich hat der Reichtum nur Sinn als eine freiwillig übernommene Prüfung in Gestalt seiner Erwerbung und der Weiterschleppung des Erworbenen. Dagegen, wenn ich dir, sagen wir einmal eine Million Mark hinterließe, oder, falls ich nicht Henry adoptiert hätte, mein ganzes Vermögen...«
Herr Jeremias machte eine Pause, weil ihm irgend etwas den Atem verschlug.
Dann fuhr er fort:....... »was würde das als Prüfung für dich bedeuten? Nichts. Schlechterdings nichts. Denn sie wäre keine freiwillig durch dich übernommene Prüfung. Der Schmerz, mit dem du die betreffende Summe in dein Hauptbuch eintragen würdest, wäre viel zu gering, um dir als Christen eine irgendwie tiefe Genugtuung zu geben.«
Frau Sanna blieb kopfschüttelnd stehen: »Ich sag es noch einmal, er war verröckt, wie er das schrieb. Das hat ja gar keinen Sinn und Verstand. Ich wenigstens verstehe kein Wort davon.«
– »Weil du eine christliche Seele ohne Arg bist, Sanna! Nicht zufrieden damit, gegen alles Gefühl und alles Recht zu handeln, will er seine Ruchlosigkeit auch noch scheinbar bemänteln, indem er die Fetzen des Hohnes darüber wirft. Das sind die Früchte der Lektüre dieser Bücher da!«
Herr Jeremias wies mit einer fast prophetenhaften Geste auf ein großes Bücherregal. Zwar hatte er bisher nur konstatiert, daß die Bücher in Leder gebunden waren, aber er gehörte zu den Leuten, die alles, was ihrem Geiste schrecklich ist, instinktiv auf schlechte Lektüre zurückführen.
»Gewiß hat der Junge sie auch schon alle gelesen,« murmelte Frau Sanna.
»Er ist ja selbst ein Teil ihres Geistes,« rief Herr Jeremias aus, indem er wie beschwörend die Arme hoch hob, »er ist ja ein Judensprößling!«
»Huch!« sagte Frau Sanna.
Und Herr Jeremias, nun grimmigen Tones, las weiter: »Einem Christen aber ziemt als Vermächtnis einzig eine Prüfung, und er wird um so dankbarer für sie sein, je schwerer sie ist. – Ich denke, Jeremias, du wirst gestehen müssen, daß ich, dem du, glaube ich, nie ein rechtes Verständnis für christliche Bedürfnisse zugetraut hast, überschwenglich gut für dich gesorgt habe.
Denn die Prüfung, die ich dir hinterlasse, indem ich dich zum Vormund meines Sohnes und Erben Henry Felix Hauart bestelle, ist sehr schwer. Da du sie nach den Gesetzen immerhin ablehnen kannst, so darfst du sie überdies auch als freiwillig übernommen betrachten. Du wirst sie doch übernehmen? Verzeihe die Frage. Sie ist beleidigend. Du wirst sie natürlich übernehmen, es ist ganz zweifellos.
Indem ich dies schreibe, Jeremias, sehe ich dein Gesicht vor mir, wie es in dem Augenblicke aussehen wird, da du diese Zeilen liest, und ich sehe durch deine wasserklaren Augen hindurch in dein Gehirn, und ich sehe, was sich da durcheinanderwindet. Ganz deutlich, Jeremias, sehe ich jeden deiner Gedanken, jeden. Wie mit Bibellettern gedruckt auf durcheinanderwimmelnden Spruchbändern.«
Herrn Jeremias wurde unheimlich. Da drüben in dem alten mit Glas gerahmten Spiegel konnte er sich wohl sehen. Sollte er einen Blick...? Aber nein. Unsinn!... Nicht doch!... Welche fatale Art der Nötigung. Denn das war es doch offenbar.
»Sanna, – was sagst du dazu!« wandte er sich an seine Frau, »ist das nicht... wie?«
Aber Frau Sanna hatte nichts gesagt. Auch ihr war nicht wohl zumute. Das klang so... Sie fand nicht das rechte Wort und meinte dann: »Gott sei Dank, daß wir nicht abergläubisch sind.« Aber es war ihr nicht möglich, das Bild des Verstorbenen anzusehen, das ihr gerade gegenüber hing, von seinem Freunde mit fast unheimlicher Konzentrierung auf die scharfen stahlblauen Augen gemalt.
»Lies weiter!« meinte sie kurz.