Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Marionetten

Im Türgevierte erschien, mit einem langen seidenen Nachthemde angetan, Henry, dem sich in seinem zornigen Grübeln gleichfalls der Schlaf versagt hatte. Zudem nervös geworden von dem Hin- und Hergeschlurfe, Türen-auf und Türen-zu draußen, war er wütend aus dem Bette gesprungen und stand nun in einer recht drohenden Haltung da, die um so dramatischer wirkte, als er in der rechten Hand einen Stoßdegen hielt.

»Warum schläfst du nicht?« herrschte ihn, durch das seidene mit Jabots besetzte Nachthemd und überhaupt dadurch erbost, daß seine nächtliche Inspektion bemerkt worden war, Jeremias an.

»Wie kann ich schlafen, wenn jemand im Hause hin- und herschleicht,« erwiderte, ohne seine Worte mit einem liebenswürdigen Tone zu salben, Henry, »ich vermutete einen Dieb.«

– »Überlaß, bitte, die Sorge um dein Eigentum jetzt mir und mach dich nicht lächerlich mit deinem Degen.«

Lächerlich?! Henrys Stirnadern schwollen. Er – lächerlich? Es wurde ihm rot vor den Augen. Die zurückgedämmte Wut seines Innern brach vor, tobte auf.

– »Lächerlich? Du bist lächerlich, du in diesem Aufzuge. – Wer hat dir überhaupt erlaubt, meinen seidenen Nachtmantel anzuziehen?«

– »Erlaubt?! Onerhört! Und: Deinen ›Nachtmantel‹? Ein Knabe braucht keinen Schlafrock! Ich werde ihn wegschließen!«

– »Er war weggeschlossen! Er war immer weggeschlossen! Du hast den Schrank aufgebrochen! Niemand darf diesen Rock tragen, außer mir! Es ist mein eigenstes Eigentum. Mein Heiligtum! Zieh ihn aus, auf der Stelle aus!«

Henry stieß diese Worte heftig und hastig vor und machte Miene, auf die Seite hinüberzukommen, wo Jeremias stand, in dessen Hand der Leuchter zitterte, so aufgebracht war der verdächtigte, beleidigte, bedrohte Onkel.

– »Du bist verröckt. Du bist betrunken! Marsch ins Bett! Morgen sollst du etwas erleben, einfältiger und onverschämter Knabe!«

Henry hörte die Beschimpfung kaum. Sein ganzes kochendes Innere war jetzt wütend auf den Anblick seines Schlafrocks konzentriert, den der da an sich gerissen, um sich getan, entweiht hatte, Seinen Nachtmantel! Der! Seinen Stolz! Den Inbegriff der glühendsten Einbildungen seiner Jugend, die jetzt mit einem Male wieder lebendig wurden.

Er war seiner nicht mehr Herr. Die ganze Wildheit seiner Natur, die sich eigentlich immer nur versteckte und jeden Augenblick bereit war, vorzubrechen, schwoll in einem wütenden Ungestüm hoch. Mit ein paar Sätzen, unter denen der Galerieboden bebte und dröhnte, war er dicht bei dem entsetzten Schlafrock-Usurpator, der die linke Handfläche mit gespreizten Fingern abwehrend von sich hielt, während er die Rechte mit dem Leuchter gegen das Geländer stemmte.

Er wollte nach Sanna rufen, aber eine wahre Todesangst verschlug ihm die Stimme. »Dieser entsetzliche Junge wird mich morden,« klagte sein Gemüt, »und diese Frau schläft, schläft, schläft!«

Man hörte in der Tat das regelmäßige Röcheln ihres gesunden und männermäßig tiefen Schnarchens.

Indessen stieß Henry keuchend die Worte hervor: »Gib meinen Mantel her, oder ich reiße ihn dir vom Leibe!«

– Gottlob! Nur den Schlafrock und nicht das Leben! Jeremias atmete unter dieser Zuversicht auf und gewann nun Mut zum Widerstande.

»Unterstehe dich, mich anzurühren!« rief er laut, hoffend, dadurch die schnarchende Gattin zu erwecken und so Sukkurs zu erhalten.

»Zieh den Mantel aus!« knirschte Henry und trat noch einen Schritt näher, so daß Jeremias jetzt seinen heißen Atem im Gesicht spürte.

Das war nun schon wieder recht unangenehm bedrohlich.

Trotzdem ermutigte sich Jeremias zum Widerspruch: »Nein!« Und er schloß die beiden Schlafrockflügel, die sich wie aus boshafter Parteinahme für Henry geöffnet hatten.

Da brüllte Henry wie ein Tier laut auf: »Du gibst ihn her, oder ich zerreiße dich!!!« Er schmiß den Degen weg und schüttelte den schlotternden, in sich zusammenrutschenden Onkel an den Schultern. Jeremias sank unter dem Druck der Hände des in seiner Wut doppelt kräftigen Jungen auf die Knie. Der Leuchter entglitt seinen Händen und fiel krachend ins Vestibül. Henry zerrte am Schlafrock, dessen Schulterteile er zwischen den Fäusten hatte, und hob und senkte dabei den fast leblosen, jämmerlich nach Luft schnappenden Jeremias.

Da tat sich genau hinter dieser Familienszene die Tür auf; ein Lichtschein fiel ins Dunkel, und in einem sackartigen Hemde, die Haare unter einer unmöglichen Nachtmütze verborgen, erschien Frau Sanna, nicht mehr bloß Salzsäule jetzt, sondern ein gefrorener Schatten. Ihr Mund tat sich mit aufgestülpter Ober- und Unterlippe auf – schnutenartig, und tat sich wieder zu. Dann streckten sich beide Arme waagerecht vor – statuenhaft, insofern man eine Vogelscheuche zu den Statuen rechnen will. So eine Weile, indessen Henry weiter am Schlafrock und somit auch an Jeremias herumriß. Nun aber begannen Sannas Arme, immer noch steif, seltsam zu kreisen, gleichsam als wollte die gebildete Hamburgerin die Form des Kegels demonstrieren. Doch war dies keineswegs ihre Absicht und das Ganze nur eine Art Reflexbewegung. In aller Kürze: Sanna, durch das Gebrüll Henfels aus dem Bette und vor die Türe getrieben, war angesichts der Pantomime zwischen Onkel und Neffe einer Art temporären Blödsinns verfallen. Der Schreck hatte sie um Sprache und Bewegung gebracht, nur die Arme vermochten noch dieses wunderliche Kreisen um eine unsichtbare Kegelform.

Das Ganze: Der auf- und niedergetunkte Onkel und die armekreisende Tante machte im bräunlich gelben Lichte einer Öllampe, das von unter her zwischen den Säulen des Galeriegeländers heraufschwamm, den Eindruck einer grotesk-unheimlichen Marionettenszene.

War es nicht wirklich eine?

Die Frage genauer gestellt: War irgendeine der drei Figuren sich dessen bewußt, was hier vorging? Die rasende Wut Henrys, der seinen Vormund vielleicht erdrosselt haben würde, wenn seine Fäuste dessen Gurgel erwischt hätten statt des Schlafrockstoffes, und dies zur Gelähmtheit gewordene Entsetzen von Sanna und Jeremias – beides waren schließlich Äußerungen eines Feindschaftsgefühls, das sich seiner ganzen Tiefe nicht bewußt war.

Henry zumal handelte im Grunde ganz willenlos, wie in den Zuckungen eines epileptischen Anfalles, und doch war es seine innerste, eigentlichste Natur, die sich hier, durch keinerlei vernünftiges Bedenken gehemmt, äußerte. Mit demselben Gefühle wütender Genugtuung, mit dem er jetzt den verhaßten Usurpator nicht bloß seines Schlafrockes, sondern seiner Freiheit auf- und niederzwang, hätte er auf ihm herumtreten können. Und dieser wiederum, so tief die entsetzlichste Angst in ihm saß, und so unmöglich ihm jeder tätige Widerstand, jeder Versuch sich frei zu machen, schien (denn es war, als sei alle Kraft von ihm gewichen), auch dieser hätte sich eher erdrosseln lassen, als daß er den Schlafrock losgelassen und ein Wort der Nachgiebigkeit gesprochen hätte. Selbst Frau Sanna, in ihrer wortlosen Verblödung durch den Schreck, empfand als letzten Willensrest in sich das Gefühl einer starren Entschlossenheit: Nicht nachgeben! Nur nicht nachgeben!

Diese stumme Szene, in der sich alles Gegensätzliche zwischen den feindlichen Parteien wie in einer symbolischen Handlung mehr unbewußt, als bewußt aussprach, dauerte kaum eine Minute. Nur der oberste Regisseur aller Puppenspiele mag es wissen, welchen Verlauf sie genommen hätte, wenn jetzt nicht, durch den Krach des heruntergestürzten Leuchters erweckt, ein Diener mit einer Blendlaterne erschienen wäre. Wie der Reflektor der Laterne einen breiten grellen Lichtkegel über die Szene warf, war sie mit einem Schlage beendet. Henrys geballte Fäuste lösten sich, er stürzte vornüber lang hin.

War es eine mit schneller Erfassung der Situation, mit plötzlich wach werdendem Bewußtsein simulierte oder wirkliche Ohnmacht? – Er blieb steif liegen, sich in den Teppich verbeißend.

Auch Jeremias und Sanna gewannen augenblicklich Bewußtsein und Sprache.

Frau Sanna verschwand einfach, da jetzt das Gefühl, bloß behemdet zu sein, alles andere in ihr beiseiteschob. Jeremias aber erhob sich und sagte zu dem Diener: »Ein Krampfanfall! Bringen Sie den jungen Herrn ins Bett.«

Dann zog auch er sich zurück, blieb aber lauschend hinter der Türe stehen, um womöglich zu konstatieren, ob die Ohnmacht echt oder simuliert sei.


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