Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Henfel würde den Zug haben sehen können, wenn er nicht eben bei Nandl in der Küche gewesen wäre, das Abendessen zu bestellen, wobei er gleichzeitig eine Bestätigung seiner Meinung zu vernehmen hoffte, daß das Ausbleiben der Eltern nicht so bedenklich sei. Diese Hoffnung täuschte ihn nicht. Nandl redete ihm gerne nach dem Munde, und auch die alte Mittenwalder Köchin pflichtete bei: »Der Toni is allwei a Gschaftlhuber gwen. Mei! D Herrschaft werd net so narrisch sei und bei der Nacht abisteign. Dö san ganz gmiatli af der Hüttn, und morgen in der Fruah sans da, kreuzfidel. Gehgns nur fei bald schlafn, junger Herr, und machens eahna durchaus gar koane Gedanken net. I koch eahna an Glühwei, a recht an starkn, mit recht viele Nagerln, des beruhigt s Gmüat.«

Henfel nahm diese Absicht leutselig entgegen, bedurfte aber einer Gemütsberuhigung eigentlich schon gar nicht mehr. Nandl und die Köchin waren ihm in dieser Sache Kapazitäten, da sie seiner Meinung waren. Immerhin nahm er von dem wohlschmeckenden heißen Getränk gerne so viel zu sich, daß er vor bleierner Müdigkeit nicht imstande war, sich selbst zu entkleiden und sofort in einen dumpfen, tiefen Schlaf fiel, als der Diener die Bettdecke über ihn gebreitet hatte.

Dieser schwere Schlaf hatte keinen Traum.

Als aber draußen der Morgen graute, war es dem Schlafenden als schlüge etwas dumpf gegen seine Brust, – einmal... zweimal... dreimal. Ohne zu erwachen, aber im Schlafe erschreckend, wandte er sich gegen die Wand. – Da, was war das? Was dröhnte denn auch da so hohl und hallend? Dem Schlafenden war, er sei in einem tiefen Keller voll ungeheuerer Fässer, in denen Leute verborgen sein mußten, die mit schweren Hämmern gegen die Innenwände schlugen... Da! Die Fässer barsten, und prasselnd fielen die Dauben auseinander, und schleifende Schritte gingen hin und wieder, und die unsichtbaren Schreiter stöhnten und stöhnten.

Schweißüberströmt vor Schreck fuhr Henfel entsetzt in die Höhe und riß die Augen auf. Er wachte... ja... aber der dumpfe Lärm... das war doch Traum... nein! nein!... es klopfte an der Türe... er hörte Stimmen... Schluchzen... Jammern...

Henfel brüllte auf: »Was is denn?«

– »Junger Herr!«

– »Laßt mich doch schlafen!«

– »Junger Herr! Aufmachen! O Gott! O Gott!«

– »Was ist denn los?!«

– »Der gnädig Herr... die gnädig Frau...«

Ein fürchterlicher Schreck riß Henfel aus dem Bette. Er rannte zur Türe und schlug lang gegen sie hin, weil er auf sein Nachthemd getreten war.

Erst dieser Fall machte ihn ganz wach. Er tastete nach dem Riegel und öffnete, am ganzen Leibe zitternd. Draußen stand, totenbleich, Nandel im Unterrock, die immerzu geklopft hatte, und sah ihn mit hervorquellenden ganz starren Augen an.

»Wo?!« keuchte Henfel.

»Drent!« antwortete das Mädchen und wandte den Kopf scheu nach der Treppe. Dann lief sie, wie gehetzt, die Stiege zu ihrer Kammer hinauf, ein Kreuz nach dem andern schlagend.

Henfel stürzte die Treppe hinunter zur Diele, woher ein scharrendes Geräusch drang und ein Gemurmel, das etwas Entsetzliches hatte in dem halbdunklen Hause. Henfel sah nur einen grauen Streifen Licht von der Haustür her und gelbe schwankende Punkte um etwas Dunkles, Langes.

Henfel warf sich darüber hin. Zwei Arme zogen ihn weg.

– »Nicht aufdecken, Henfel! Komm! Dort hinein!«

Henfel sah Hermann ins Gesicht.

– »Nein! Ich will! Ich muß!«

Aber Hermann hielt ihn fest, indem er sich zu seinen Freunden wandte: »Tragt sie dort hinter. Wartet nicht auf mich. Ich bin hier nötig.«

Henfel ließ sich ins Speisezimmer führen, wo noch der unabgedeckte Tisch stand und eine unreine Luft voller Speise- und Weingerüche war. Es wandelte ihn Übelkeit an. Er fiel in einen Stuhl und heulte laut auf.

Plötzlich sprang er in die Höhe und schrie: »Was soll aus mir werden?! Was soll ich jetzt tun? Ich weiß ja gar nicht... Ich habe ja niemand... O Gott! O Gott!«

Er lief jammernd im Zimmer herum.

Hermann fand keine Möglichkeit, ihm vernünftig zuzureden, und mußte es einstweilen für das Beste halten, ihn sich austoben, sich abmüden zu lassen.

So leid ihm der Bursche tat, im Grunde widerte ihn sein Gebaren an. Denn was er hier vor sich sah, war nicht die wilde Pein eines tiefen Gefühles, nicht die qualvolle Erschütterung eines liebevollen Herzens, nicht das gewaltige Leiden eines Menschen, der angesichts des Todes zweier geliebter Menschen im intensivsten Schmerze nochmals aufs innigste durchempfand, was er je für die Verlorenen gefühlt hatte – es war keine letzte und darum tiefste Hinwendung zu den Toten, sondern lediglich ein wüstes, haltloses, schmähliches Bejammern seiner selbst.

Erst, wie sich das ausgetobt hatte, begann er, halb larmoyant, halb pathetisch, aufzuzählen, was alles er mit diesen Eltern verloren habe und wie unwürdig er alles dessen gewesen sei.

Plötzlich: »Laß mich zu ihnen! Ich muß mich vor ihren Leichen hinwerfen. Abbitte leisten muß ich ihnen, daß ich sie von fremden Händen habe holen lassen. Ich muß ihr Antlitz sehen, ihnen die Augen schließen muß ich! Nur von mir darf ihnen das geschehen!«

Hermann, überanstrengt von den ungewohnten, alle seine körperlichen und seelischen Kräfte angreifenden Mühen und Eindrücken dieser Nacht, war nicht imstande, den Gefühlsuntergrund aus diesen Worten herauszuhören. Er vernahm nur leere, hallende Worte und die Absicht, noch ein letztes Mal zu posieren. Daher antwortete er hart und verächtlich: »Erspar dir den Anblick! Was du jetzt tun willst, ist bereits geschehen. Von fremden Händen, die es wohl tun durften, weil sie mehr getan haben. Ich habe Frau Klara die Augen zugedrückt. Ich! Auch deinem Vater habe ich diesen letzten Dienst erwiesen. Beklage dich nicht deshalb! Du hättest es sicherlich nicht getan, denn deine Augen sind schreckliche Anblicke nicht gewöhnt, wie die meinen, die sie vom Leben her kennen. Aber ich kann dich nicht hindern, hinzugehen und zu sehen. Vielleicht ist es auch gut für dich. Geh, wenn du dich stark fühlst!«

Er wies auf die Tür zu dem Zimmer, in dem die Bahren standen.

Henfel tat ein paar Schritte dorthin, dann blieb er stehen: »Ist es – furchtbar?«

– »Das kommt auf dich an!«

– »Sind sie sehr – entstellt?«

Hermann zuckte mit den Achseln.

Henfel ging zur Türe und drückte auf die Klinke, ließ sie aber sogleich los. Die Türe öffnete sich weit und schlug dumpf gegen die vorstehende Ecke eines Schrankes. Man sah mitten im Zimmer die zwei Bahren nebeneinander stehen, an jedem Kopf- und Fußende eine Laterne. Unter dem groben dunkelblauen Kotzen hoben sich deutlich die Köpfe und Füße ab.

Henfel taumelte zurück.

»Nein! nein!« schrie er auf. »Mach die Türe zu! Die Türe zu! Ich kann nicht, kann nicht!« Er wandte sich um und fiel in einen Stuhl, die Hände weit von sich auf den Speisetisch streckend, daß das Geschirr aufklirrte, und das Gesicht platt auf die Tischdecke legend.

Hermann schloß die Türe.

»Du mußt mich verachten«, stöhnte Henfel.

»Laß das!« antwortete kurz Hermann. »Ich bin bereit, dir jetzt zu helfen, wenn du mich nötig hast. Irgend jemand muß dir jetzt zur Seite stehen, denn es ist allerhand zu tun. Hast du jemand, den ich herbeiholen kann, aus München vielleicht, oder Verwandte deiner Eltern, an die zu telegraphieren, ist, so will ich es besorgen.«

Henfel sprang auf: »Um Gottes willen, Hermann, geh nicht fort! Bleib bei mir! Ich habe niemand! niemand! Nur dich, nur dich!«

Plötzlich kam es wie eine Erleuchtung über ihn. Er öffnete die Augen weit und ergriff Hermanns Hand: »Du bist ja mein Bruder!«

Hermann trat einen Schritt zurück: »Was soll das heißen?«

Aber Henfel fiel ihm um den Hals und schluchzte. »Stoß mich nicht von dir! Du weißt es so gut wie ich, daß wir Brüder sind. Und wir wollen von jetzt ab als Brüder zusammen leben. Was sollte ich ohne dich auch tun? Niemand gehört zu mir, nur du!«

Hermann nahm Henfels Arme leise von seinen Schultern, ergriff aber seine rechte Hand und drückte sie, indem er sprach: »Nein, Henfel, wir gehören nicht zusammen, obgleich wir Brüder sind. Ich kann darüber jetzt nicht alles sagen. Nur dies: es wäre gegen den Willen unseres Vaters, wollten wir unseren Weg zusammen gehen. Du trägst seinen Namen, ich nicht. Du gehörst zu den Reichen, ich zu den Armen. Dein Weg wendet sich nach oben, der meine nach unten. Wir müssen uns also notwendig trennen.«

»Nein! nein!« rief Henfel aus und hielt Hermanns Hand umklammert fest: »Wüßte Papa, was du jetzt an mir getan hast, er würde es selbst wünschen, daß du bei mir bleibst und mich führst. Ich kann ja noch nicht allein gehen, ich fühls. Ich bin ja verloren ohne Führung!«

– »Dafür wird gesorgt werden. Du hast in Hamburg ›richtige‹ Verwandte, die auch staatlich dafür gelten; die werden dich schon behüten.«

– »Aber ich will nicht! Ich will dich! Was gehen mich die Verwandten an, von denen Papa nie ein Wort zu mir gesprochen hat? Sie sollen nur kommen! Ich brauche sie nicht. Ich habe dich!«

Das war schon wieder der trotzige junge Herr.

Hermann schüttelte den Kopf: »Darüber werde ich dich aufklären, wenn du ruhiger bist und wir alles Nötige besorgt haben, was jetzt geschehen muß. Bis dahin lasse ich dich nicht im Stich. Aber ich bitte dich: komme nie wieder auf solche Gedanken zurück, wie vorhin. Du wirst sie ohnehin bald vergessen haben.«

Henfel schwur, daß dies nie der Fall sein werde, aber Hermann machte seinen Beteuerungen schnell ein Ende, indem er ihm entwickelte, was jetzt zu geschehen habe.

Aufstöhnend bat ihn Henfel, ihm alles dies nach Möglichkeit abzunehmen und jede notwendige Verfügung selbständig zu treffen. Er selbst sei ganz und gar unfähig, irgend etwas zu tun, und möchte am liebsten keinen Menschen außer Hermann hören und sehen.

Es kam in der Tat eine dumpfe Willenlosigkeit über ihn, und er gelangte in den nächsten Tagen über ein dumpfes Hinbrüten nicht hinaus, während Hermann, sicher und richtig disponierend, erst in Mittenwald, wo auch die Beerdigung stattfinden mußte, und dann in München alles Nötige anordnete und in die Wege leitete. Seine letzte Handlung für Henfel war, nachdem das Vormundschaftsgericht als einzigen Verwandten des jungen Erben Herrn Jeremias Kraker in Hamburg aus den Papieren des Verstorbenen eruiert hatte, ein an diesen Herrn mit Henfels Unterschrift abgesandtes Telegramm, das ihm den Tod des Ehepaares durch Absturz in den Alpen meldete und ihn bat, sich in München zur Verfügung des Vormundschaftsgerichtes zu stellen.


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