Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Von den Vätern

Der Tatar

Nachdem Madame Sara in den besten Geschäften der Pragerstraße nach den besten Pariser Modellen ihre zwar ohnehin reiche, aber doch noch nicht ganz auf der Höhe des europäischen Geschmackes befindliche Garderobe ergänzt hatte und es nun an türkischen Schals, spanischen Mantillen, kleinen koketten Federhütchen, knisternden Reifröcken und durchbrochenen Halbhandschuhen mit den elegantesten Dresdner Madams mehr als aufnehmen konnte, fand sie es für angezeigt, ihre Antrittsvisitte bei der berühmtesten, ob auch ganz altmodisch gekleideten Dresdnerin zu machen, deren erlauchte italienische Herkunft zweifellos ist: bei der Sixtinischen Madonna.

Gleich den meisten anderen Fremden durchschritt auch sie (doch war es mehr ein Durchwogen) alle übrigen Säle der Galerie, ohne den an ihren Wänden prangenden Kostbarkeiten mehr als einen vorüberstreifenden Blick zu gönnen, mit dem Ausdruck der von Sehnsucht beflügelten Wisserin der höchsten Gnade, bis sie zu dem gebenedeiten Raume gelangte, wo die himmlischen Augen der Mutter und des Kindes leuchten, vor denen Papst und Heilige knien.

Die schöne Jüdin, froh, dort niemand zu treffen, ließ sich mit einem knisternden Aufbauschen ihres dunkelgrün seidenen Reifrockes in einem Fauteuil dem Bilde gegenüber nieder, erhob ihren schönen, mit vollgerundeten, schwermütig schwankenden Schmachtlocken frisierten Kopf zu dem Gemälde und führte das goldene Lorgnon an die dunklen und durch unterlegtes Beinschwarz noch mehr gehobenen Augen.

Ein wunderlicher Gegensatz, wie von Gavarni mit verruchter Raffiniertheit erfunden, diese beiden Frauenbilder einander vis-à-vis: Das lebendige, als ob es ein zwar amüsantes, aber freches Gespenst des Lebens wäre, und das aus der Kunst geborene, das fast als mehr wie Leben strahlte: als Lebensleuchten selber aus tiefster innigster Einfalt.

Madame Sara empfand selbst so etwas und zog ein Spiegelchen aus ihrem perlengestickten Ridikül, sich darin zu betrachten.

Warum schminken wir uns eigentlich so absurd, dachte sie für sich. Warum diese Masse Rot auf so viel Creme-Weiß? Nun ja, wir sind keine Göttinnen... Und doch... es wird einem wunderlich zumute.

Und sie sah wieder die Madonna an.

Und dachte weiter: – Wer hat mehr Ursache, stolz zu sein, als wir Jüdinnen? – Die schönste Römerin war dem größten Künstler Italiens gerade gut genug, eine Jüdin darzustellen... Tat er das wirklich aus – Religion?

Sie lächelte.

Wer hier die Liebe nicht sieht, hat keine Augen. – Freilich: der Papst, die Heiligen, die Engel... Enfin! Künstler können sich was herausnehmen... Künstler! Ah!... Zweierlei gibts: Künstler und Helden – oder, ohne Romantik gesprochen, Soldaten, – d. h. Offiziere.

In diesem Augenblicke wurden ihre Gedanken durch das bestimmte Gefühl unterbrochen, daß hinter ihr ein Mann stehen müsse. Eine kleine Wendung ihres Kopfes, ein Blick nach hinten, colla coda dell' occhio, genügte, ihr zu zeigen, daß ihr Gefühl sich nicht getäuscht hatte.

Eine Weile später würde sie ihn auch mit der Nase haben wahrnehmen können, denn der Herr, der jetzt schräg hinter Madame stand und keinen Blick von ihr wandte, wie wenn er nicht der Sixtinerin wegen gekommen wäre, sondern wegen der Amerikanerin, dieser Herr, ein straff aufrechter Vierziger mit blonden Koteletten in der Mode der Zeit, einem rosigen Teint, sehr hellbraunen Augen und einem Anzuge, dessen sich der Empereur in Paris nicht hätte zu schämen brauchen, liebte offenbar die starken Gerüche. Damals war unter den vornehmen Mitgliedern der Herrenwelt ein Parfüm bevorzugt, das heute zu den Lehrlingen im Kellnergewerbe herabgesunken ist: Jockei-Klub. Doch war dieses Odeur damals noch nicht so degeneriert wie heute, wo es aus den zusammengegossenen Reigen anderer Extrakte hergestellt zu werden scheint. Es war vielmehr in der Blüte seiner Kraft und duftete restlos die große Seele dessen aus, der seine Erfindung inspiriert hatte: des Prinzen von Wales, dem bei seiner Inspiration nichts Geringeres vorgeschwebt hatte, als eine Erhebung des Stallgeruchs zum Odeur, – Rennpferd-Stallgeruchs, versteht sich. Frisches Heu und Juchtenleder als Dominante. Ein wirkliches Odeur de chevalier, vielsagend und vielversprechend für geistreiche Nasen von Damen mit Temperamentsphantasie.

Der schönen Sara, die allzulange Ledergerüche hatte erdulden müssen, die nicht raffiniert und nicht nobilisiert waren, fehlte es an dieser Phantasie keineswegs, und so kam es, daß ihre Geruchsnerven in der bestimmten Ahnung vibrierten, der Herr hinter ihr könne eine Bedeutung für sie haben. Und so ließ sie mit scheinbarer Nachlässigkeit ihr winziges Spitzentaschentuch fallen, dessen Parfüm etwa als Komplementär-Geruch zu jenem Odeur de chevalier hätte bezeichnet werden dürfen. Sofort machte der Herr mit den Koteletten ein paar schnelle federnde Schritte nach vorn, bückte sich zu dem winzigen weißen Häufchen aus Seide, Spitzen und Duft nieder, ergriff das zarte Gewebe und überreichte es Madame mit einer Verbeugung, die, zugleich ritterlich und galant, die beste Welt verriet.

Ah, machte Sara mit vollendet gespielter Überraschung, das heißt mit einem Tone der Überraschung, dem man es anhören konnte, daß die Überraschung gespielt war. Der Herr mit den hellbraunen Augen verstand sich auf Tonnuancen aus Frauenmunde und wußte auch die richtigen Folgerungen daraus zu ziehen und sich den Folgerungen entsprechend mit Delikatesse zu benehmen. Aber hier hätte es der Erfahrung und Sicherheit eines Meisters in der Kunst der Anknüpfung mit Damen nicht einmal bedurft, denn angesichts ganz großer Gegenstände der Kunst oder Natur ist es selbst für Anfänger leicht, den Faden zu einem Gespräch anzuspinnen und fest zu drehen. Was so hoch über der gemeinen Konvenienz steht, wie die Sixtinische Madonna, verleiht mit der Macht von Souveränen auch das Recht, sich in seiner Gegenwart zeitweilig über konventionelle Schranken wegzusetzen.

So waren Weltdame und Weltmann bald in einem angenehm bewegten Gespräch, das bei Raffael begonnen hatte, über die Kunst im allgemeinen anmutig weggeschaukelt war und sich schließlich behaglich über Fragen des gesellschaftlichen Lebens in Dresden ausbreitete.

Der Umstand, daß auch der Herr als Fremder in Dresden weilte, ergab eine willkommene Erleichterung der gegenseitigen Aussprache. Eine Reisebekanntschaft, sogleich als Reisebekanntschaft determiniert, wird von Leuten von Welt, die sonst zumeist gezwungen sind, sich in festen Zirkeln zu bewegen, immer als eine angenehme Bescherung des Zufalls gerne begrüßt. Man lernt sich schnell kennen, kommt einander, wenn Sympathie im Spiele ist, sehr schnell nahe, bleibt aber doch immer Passagier, und es genügt, eines Tages zu sagen: Morgen mit dem Frühzuge reise ich weg. Nicht einmal das Stammbuchblatt früherer Zeiten ist auszufüllen:

Fällt dein Blick auf diese Seite,
Wenn du jene umgewandt,
Denk an mich mit Gunst und sage:
Diesen hab ich auch gekannt.

Fürst Wladimir Golkow, russischer Kavallerie-General außer Dienst, Kommandör des Sankt-Georgsordens für besondere Bravour im Krimkriege, besaß viel Neigung zu derlei Bekanntschaften, zumal wenn es sich um schöne Partnerinnen handelte, und er lebte recht eigentlich solcher Reisebekanntschaften wegen immer auf Reisen. Doch war Dresden, das zu jener Zeit von Russen überhaupt bevorzugt wurde, der Ort, zu dem er von Zeit zu Zeit immer wieder zurückkehrte. Daher er hier eine feste Wohnung unterhielt, eine kleine Villa in einem großen Garten der Neustadt.

Heute knattert auch durch dieses damals noch ganz ländlich stille Viertel der elektrische Trambahnwagen; die großen Gärten sind parzelliert, und in jedem der neuen kleinen Gärtchen steht, die dumm-moderne Front zur Straße gewendet, ein kleiner Steinkäfig mit Stuckornamenten, in dem ein Dresdner Partikulier wohnt, dem es gerade recht ist, daß er seinem Nachbar in die Fenster gucken und riechen kann, was der Herr Kalkulator nebenan heute zu Mittag hat. Damals aber war das eine vornehme Gegend. Wenige, aber große, mit alten Bäumen bestandene Gärten, und tief im Grün des Gartens, von der Straße kaum sichtbar, ein altes Herrenhaus mit französischem Doppeldach, ohne viel Schmuck, und ganz gewiß ohne angeklebten Schmuck, aber von guten architektonischen Verhältnissen, behaglich geschmackvoll.


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