Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Der Schuß

Neapel wirkte auf Karl wie ein Stimulans von unerhörter, tiefer, brausender Kraft. Das Museo nationale machte seine Einbildungskraft von gewaltigen Vorstellungen strotzen. Die antike Welt lebte in ihm auf, mehr, viel mehr noch, als in Rom. Dort war seine Stimmung die eines Archäologen gewesen, der mit Geschmack betrachtet hatte, aber das moderne Leben der Hauptstadt der Unita Italia hatte ihn immer wieder aus seinen Träumen gerissen, und alles Vatikanische hatte sein norddeutsches Empfinden geärgert. Der Protestant war in ihm wach geworden. In Neapel richtete sich der Heide auf.

Denn hier genoß er nicht bloß ästhetisch und mit dem Gehirn. Per bacco: hier schrieb er keine lateinischen Distichen und Oden mehr! Hier tastete er nicht mehr bloß antike Bronzen mit den Augen ab, hier ließ er seine Glieder lebendiges Fleisch fühlen. Er frequentierte die antik hergerichteten Bäder, wo junge Badediener nackt hantierten und zu Szenen à la Petronius gerne und mit angeborener Begabung bereit waren.

Er lebte auf und kam auch körperlich zu Kräften. Sein Kinn wurde wuchtiger, sein Auge blickte heller. Was er tags im Museum gesehen hatte, ließ er nachts lebendig werden.

Alles das war hier viel echter, als in dem Londoner Lordsklub mit den maskierten Zirkusjungen und Hotelpagen. Diese neapolitanischen Lustknaben bewegten sich nackt so natürlich, als hätten sie zeit ihres Lebens keine Hose auf dem Leibe gehabt, und auch die Signori, die hier das antike Vestibulo belebten, hatten einen ganz anderen, hatten echt antiken Stil am Leibe, obwohl sie keine griechischen Gewänder trugen, sondern ganz einfach Bademäntel. Jeder von ihnen hätte mit Recht sagen können: civis romanus sum. So albern und affektiert sie in ihren modischen hohen Stehkragen und ihren schlecht anglisierenden Anzügen aussahen, so prachtvoll nahmen sie sich nackt aus, obwohl es keinem einfiel, sich einen Kranz aufs Haupt zu setzen. Auch führten sie keineswegs ästhetische Gespräche und beriefen sich zur Nobilisierung ihrer erotischen Neigungen auf berühmte Männer der Geschichte, sondern sie übten sie ganz einfach wie etwas Natürliches, Selbstverständliches aus und gingen ohne Umschweife direkt auf die Sache.

Man duzte sich allgemein, klopfte sich auf die Schenkel, bewunderte einander und ließ alle Konvention draußen in der Garderobe. Da waren junge Nobili, ein Prinz darunter, Grafen, Herzöge, aber auch ganz simple Herren aus irgendeinem Kontor oder Atelier; – gleichviel: hier galt nur der nackte Mensch. Die Kräftigen rangen miteinander, wer Talent dazu hatte, sang ein Lied, auch gepfefferte Gedichte wurden vorgetragen, und unaufhörlich brauste der Lärm neapolitanischer Unterhaltung mit wilden, heftigen Gestikulationen. Die Jungen, lauter tadellos schöne Burschen des verschiedensten Alters, vom zwölften Jahre an bis zum zwanzigsten, gingen von Schoß zu Schoß und mußten wohl auch zuweilen laszive Gruppen bilden, tanzen, sich jagen; – aber alles das war nicht Nachbildung, Komödie, Effekt eines Studiums, sondern ganz einfach zügellose Natur. Es kam auch zu aufgeregten Szenen der Eifersucht, ja zu Prügeleien; man schimpfte und verwünschte einander mit den ungeheuerlichsten Flüchen, und es sah manchmal aus, als könne jeden Augenblick ein Totschlag vor sich gehen. Aber gleich darauf brauste wieder unendliches Gelächter durch den Raum, Küsse schnalzten, und eben noch wütend entzweite Paare wälzten sich zärtlich auf dem dünnen Teppich.

Der dicke Wirt, ein wahrer Silen mit Doppelbauch und Glatze, schleppte unausgesetzt bauchige Fiaschi und Gläser herbei, stöhnte komisch unter der Last seines Leibes und mahnte fortwährend zur Ruhe. Es ging von ihm die Rede, daß er überhaupt niemals ein Kleidungsstück anlegte und unter keinen Umständen zu bewegen war, sein Haus zu verlassen. »Ich kann keine Weiber sehen!« behauptete er; »diese Mißgeburten machen mir Übelkeit. Die ganze Stadt riecht nach ihnen. Aber diese Schwelle, beim Jupiter, hat noch kein Weibsbild betreten. Es ist das reinste Haus von ganz Neapel. Nicht einmal meine Wäsche lasse ich von Weibern waschen!«

– »Du hast ja gar keine Wäsche, edler Silen.«

– »O doch: Schnupftücher!«

– »Wo steckst du sie denn hin? Du bist doch kein Känguruh mit Taschen im Leibe?«

– »Wozu habe ich denn zwei Bäuche?«

Und richtig, er produzierte ein Taschentuch, das er in dieser Leibesfalte bei sich führte.

Selbst an diesen grotesken Dingen fand Karl Gefallen.

Es war, als ob die vollkommene, selbstverständliche Schamlosigkeit ihn bis ins Tiefste aufmunterte.

Er entwickelte sogar Humor, machte verrückte italienische Verse und tanzte auf die wunderlichste Weise Solotänze nach antiken Vasenbildern, wozu er sich ein Bocksschwänzchen umgürtete.

Dazu sein immer im Grunde doch ernstes, käsiges Gesicht mit den kleinen wasserblauen Augen und den hellblonden Haaren, – es war wirklich komisch und kein Wunder, daß diese Produktionen stets da capo verlangt wurden.

Aber im Innersten blieb ihm ein Rest von düsterer Entschlossenheit, und er unterließ es nie, Nachforschungen nach Leuten zu halten, die zu Bravodiensten zu haben wären.

»Kann man bei euch noch morden lassen?« fragte er einmal geradezu.

»Hoho!« antwortete einer, ein sehr vornehmer Herr. »Es scheint, dich geniert ein Zeitgenosse?«

»O, mich genieren fast alle,« antwortete Karl, »die Anwesenden natürlich ausgenommen. Aber ich frage bloß aus uninteressiertem Interesse.«

»Das ist ein hübsches Wort«, meinte derselbe Herr, »aber man sollte nach so was eigentlich nur fragen, wenn man bestimmte Absichten hat. Ein Mord ist eine verflucht ernsthafte Sache. In meiner Familie ist keine Generation ohne Mord vorbeigegangen. Früher war bei uns sogar der Brudermord üblich. Aber das war damals, wo man derlei noch leicht nahm. Heutzutage bekommt man dadurch ein schlechtes Renommee.«

»Aber es geschieht nicht viel seltener, als früher,« warf ein anderer ein. »Ich weiß bestimmt, daß es hier eine Art von Genossenschaft gibt, lauter Kerle, die gegen bar morden, indem sie sich in die Hände arbeiten und das Honorar untereinander teilen.«

»Es wäre sonst ja auch nicht zu verstehen, daß bei uns so viele Morde unentdeckt bleiben,« sagte ein dritter. »Im letzten Jahre sind meines Wissens acht Menschen umgebracht worden, ohne daß unsre vortreffliche Polizei die Täter erwischt hätte.«

»A was!« sagte der Wirt, »jedes Weib ist eine Giftmischerin.«

»Das ist eine kleine Übertreibung,« meinte wieder einer, »aber so viel ist gewiß, daß es Giftmischerinnen in Neapel gibt. Erinnert ihr euch an den Fall der Familie Scaraffini, wo im Laufe zweier Jahre alle Geschwister auf unbegreifliche Weise langsam hinsiechten, bis auf den Jüngsten, der dann alles erbte und nach Amerika verschwand?«

– »Na, und der alte Marchese Calozzo, der eines Tages verschwunden und nie wieder aufgefunden worden ist, bis seine junge Witwe ihn als tot erklären lassen und ihren geliebten Fiakerkutscher heiraten konnte? Damals ist ja Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt worden, und der Pöbel hat die Marchesa öffentlich angespuckt. Aber herausgekommen ist nichts, nichts, nichts. Den alten Herrn haben die Fische gefressen. Wer will jemanden finden, den man mit einem Mühlstein am Hals ins Meer geschmissen hat?«

»Aber natürlich wird gemordet,« meinte phlegmatisch ein etwas beleibter Advokat. »Man braucht bloß gewisse Verlassenschaftsakten und in den Mienen mancher Erben zu lesen, um darauf zu schwören, wie auf was Heiliges. Ich meinerseits zweifle auch nicht im mindesten daran, daß es berufsmäßige Mörder in Neapel gibt, und es ist mir durchaus wahrscheinlich, daß sie fest organisiert und untereinander verbunden sind. Ich habe einmal einen Mörder, und natürlich mit Erfolg, verteidigt, der nur deshalb freigesprochen werden mußte, weil alle seine Entlastungszeugen so gut im Bilde waren, wie es nur Leute sein konnten, die sich an der Sache beteiligt hatten. Das griff alles so glatt und sicher ineinander, wie die Zähne eines Rades. Es war höchst interessant.«

Karl beschloß, sich mit diesem Advokaten, der gegen klingende Münze auch zu allerhand bereit schien, anzufreunden.

 

Mittlerweile hatte Henry auf seine Weise, nur unter geringerer Frequenz der Museen, ein ähnliches Leben geführt, wie Karl.

Seit er Bianca gesehen hatte, war seine Begierde auf ganz junge Mädchen gerichtet, und er war bald unter allen Ruffianen Neapels als ein guter Kunde für »grüne Ware«, wie sie es nannten, bekannt geworden.

Aber er wurde dieses Lebens nicht froh.

Es war doch nie Bianca. Immer wieder richtete sich deren Gestalt vor ihm auf, und auch an die Marchesa mußte er denken und an diese wundervolle Mischung von Wollust und Zerknirschung.

Was half es ihm, daß er hier, in diesem Neapel, wo jede Nuance des Lasters zur Geltung kam, als Zuschauer satanischen Messen beiwohnen konnte, an denen, wie der Ruffiano auf das Blut des heiligen Januarius zu schwören bereit war, wirkliche Nonnen und wirkliche Mönche teilnahmen? Eine abgeschmackte Komödie! Gut genug für ferienreisende deutsche Gymnasiallehrer, die einen »Blick in die Abgründe romanischer Dekadenz werfen« wollten. Eine Heiligtumsschändung gegen ein Entree von fünfzig Lire, – wie albern.

Überhaupt: alles Käufliche, – wie fad.

Es kam ein Ekelgefühl über ihn, und er sehnte sich nach Ruhe, Beschaulichkeit.

Er hatte nun einmal die Flamme der Leidenschaft in sich gespürt, und sie war niedergeschlagen worden. So wurde sein ganzes Wesen niedergeschlagen und müde.

– Berta?

– Ach! – Er empfand keine Sehnsucht nach ihr. Ihre Briefe kamen ihm kalt vor, obwohl sie Liebe beteuerten.

– Ja doch, dachte er sich, sie liebt mich, und ich liebe sie. Aber das ist für später, wenn ich mich ganz zur Ruhe setze. Der häusliche Herd. Stille Gespräche, Hand in Hand durch den Garten. Sehr schön. Gewiß. Aber... temperiert.

– Dagegen Bianca! Ah! Wenn ich das noch einmal fühlen könnte, dieses Besinnungslose, teuflisch Wütende, Gewaltige!

– Wie sie mir die Nägel ins Fleisch grub! Wie sie mich anstarrte, als wäre ich der Satan selber! – Welche Entzückung war das!

Selbst die furchtbare Demütigung danach empfand er jetzt wie etwas wollustvolles Beseligendes.

Aber seitdem war er kein Mensch mehr, war er ein Schatten. Luzifer, gestoßen in die Finsternis, ewig verdammt zu kahler, fruchtloser Selbstverzehrung in Begierden ohne Schwung und Leidenschaft.

– »Mein Jesus, Barmherzigkeit!«

 

Eines Tages erklärte er kurz, Neapel verlassen zu wollen. Er habe eine Pension bei Sorrent ausfindig gemacht, wo er ganz zurückgezogen leben wolle.

Karl war außer sich.

Gerade jetzt, wo er Anknüpfungen gemacht hatte, die nach seiner Meinung zu dem ersehnten Ziele führen konnten...!..

Er machte, sich zu liebenswürdiger Heiterkeit zwingend, Einwendungen.

Aber Henry erklärte schroff: »Morgen reisen wir! Ich bin des Lärms hier müde. Ich brauche Ruhe, Sammlung, ehe ich mich wieder nach Deutschland aufmache.«

– Und ich? dachte Karl. Wer kümmert sich um das, wessen ich bedarf? – Diese Rolle ist wahrhaftig unerträglich, ganz abgesehen davon, daß der Mensch mir in Deutschland aus den Fingern gleiten muß, wenn er zum Militär geht. – Hier, in Italien, muß es geschehen. – Vielleicht finde ich auf Capri jemand.

Empfehlungen hatte er ja die allerbesten dorthin. Vater Silen hatte eine Filiale dort und behauptete überdies, die ganze Insel sei »antik«.

»Nur hat die Liebe dort ihre Einfalt verloren,« sagte er. »Es sind zu viele Deutsche da, die unsre Jungen mit ihrem Geld verderben. Und dann gibt es dort greuliche alte Engländerinnen, die sich von stämmigen Fischern ins Meer hinaus und auf kleine Inseln rudern lassen, wo dann die unglücklichen Burschen entsetzliche Aufgaben zu erfüllen haben. Es bringt ihnen ja Geld, aber sie werden zeitlebens einen Schüttelfrost nicht los. Einer hat eine mal direkt tot gemacht, aber er wurde seitdem gemieden wie ein Aussätziger und mußte nach Amerika auswandern.«

– »Halten Sie sich an meine Filiale. Sie ist zwar nicht von deutschen Malern ausgemalt, und Sie finden dort keine Kinder, die noch an der Mutter saugen, aber für den antiken Geist meiner Kapreser Jungen garantiere ich. Es sind keine verzärtelten Milchkälber, die sich deutsche Volkslieder haben eindrillen lassen. Ein Bursch zumal ist empfehlenswert; sie nennen ihn den Tiberio, weil er wie ein junger Imperatore aussieht und kühn und verwegen ist. Er ist Fischer; kommt aber jeden Abend, wenn Kundschaft da ist. Das ist ein Kerl! Ich selber war in ihn auf der Stelle verliebt, wie er einmal hier war. Wie aus Bronze ist er. Ein bißchen bäurisch und derb; er erdrosselt einen fast, wenn er einen umarmt. Aber echt! Echt! Natur! Wenn der einen gern hat, kann man von ihm verlangen, was man will. Ein wahrer Halbgott und ein Teufel dazu. Ich hab ihm zwanzig Lire für den Tag geboten, außer dem, was er von den Signori kriegt, aber der Junge braucht das Meer und kann sich von seinem Boot nicht trennen.«

Auf diesen Tiberio setzte Karl seine Hoffnungen, und sie waren kaum in der kleinen, abgelegenen Pension bei Sorrent angelangt, als er in Henry drang, mit ihm nach Capri hinüberzufahren.

Aber Henry hatte wenig Eile. Er hatte sich in Neapel einen der kleinen zweirädrigen Kutschierwagen mit einem starken Traber gekauft, den er selber lenkte, und es machte ihm ein, wie es schien, durch nichts zu überbietendes Vergnügen, mit diesem leichten Wagen täglich die Straße zwischen Sorrent und Amalfi zu befahren. Im übrigen lag er auf der Terrasse der Etage, die er gemietet hatte, und starrte über die Orangenbäume und eine etwas weiter vorn liegende Villa weg zum Meer und zum Vesuv, der ruhig in die klare Luft qualmte.

Es war in den ersten Tagen des März und im allgemeinen herrliches Wetter. Nur manchmal gab es Wind und Regen, aber nur wie zur Erhöhung des Genusses an der gleich darauf wieder eintretenden sonnigen Klarheit, in der das südliche Meer alle seine Reize imposant und friedlich entfalten konnte. – Glanz und Klarheit, ruhige Fülle und weiter Blick. Rebenterrassen, noch etwas nackt zwar, aber groß und edel in der Linie: Pinienwipfel, wie Sinnbilder beschirmender Macht; Dachgalerien alter Villen mit weißen Statuen; im dunklen Grün des Orangenlandes weiße Blüten und frische grüne Früchte; das Meer wie ein azurner Spiegel, beglitten von bräunlichgelben Segeln; darin, wie eine Bastei aus orangenem Gemäuer, zacken- und zinkentrotzig Capri; und rechts, wie der starre Busen einer Gigantin, der Vesuv.


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