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Henfel war von Hermann über die notwendige Vormundschaft und was damit zusammenhing, wohl aufgeklärt worden, aber recht klar darüber war er sich nicht. Und, als ihn dann Hermann verlassen hatte, war eine dumpfe Ratlosigkeit über ihn gekommen; erst da das eigentliche Gefühl des Verwaistseins, das Nichtwissen, zu wem gehörst du nun, wer steht neben dir, über dir, wer lenkt und behütet dich? – Diese Ratlosigkeit war jetzt mit einem Schlage vorbei, und an ihrer Stelle stand die vollkommene Gewißheit: Alles ändert sich völlig, es beginnt ein neues Leben, in dem der bisherige Henfel keinen Platz mehr hat.
Wie eine Kerbe hieb sich das in sein Bewußtsein.
Der Tod der Eltern war wie ein Schlag auf den Kopf gewesen, besinnungraubend. Noch das Erwachen war wie im Taumel geschehen, obwohl sich Hermann alle Mühe gegeben hatte, ihm einen gewissen Halt zu geben, indem er ihm seine Situation klarmachte. Es schien ihm trotzdem: alles schwankte in ihm und um ihn. An die Hermannschen Belehrungen glaubte er wohl, aber er begriff sie nicht. Es schwollen sogar phantastische Ideen von schrankenloser Freiheit, weiten Reisen, kühnen, verschwenderischen Unternehmungen heran, aber nur wie schnelle Hitzen, die auf Nimmerwiedersehen verschwanden, als er nicht bloß begreifen, sondern erkennen mußte, daß eine unpersönliche Macht über ihm war, eine Art Ungetüm mit tausend Händen, von denen einige vor seinen Augen sein Eigentum seinem Besitze entzogen und mit fremden Hoheitszeichen versehen hatte. Aber diese Siegel warteten auf einen, der sie lösen würde: Der Vormund! – Henfel hatte doch gefühlt, selber gefühlt, daß es gut sei, eine Art neuen Papas zu bekommen. Er, der auf Selbständigkeit Erzogene, empfand, wie ganz und gar initiativelos er war. Er konnte bloß dumpf warten. Und er hatte mit Sehnsucht auf den zweiten Papa gewartet. Er wollte ihm um den Hals fallen, sich an seiner Brust ausweinen und all seine Zärtlichkeit aufbieten, daß dieser ihm gleich recht gut werden sollte. Und vor allem die zweite Mama! Welches Glück, daß er auch wieder eine Mama bekommen würde! Alles Kindliche in ihm schluchzte dankbar bei dem Gedanken auf. Und er nahm sich aufrichtig, innig vor, ihr nie wehe zu tun, wie der Verstorbenen. – Ach, die, – ach, wie furchtbar, daß die nicht mehr um ihn sein sollte. Seine Trauer um sie war viel, viel tiefer als die um den Papa, der schon jetzt nur mehr wie ein treuer Lehrer und Führer vor seinem inneren Auge stand. Aber die Mama! Oh! Was für eine Frau die gewesen war! Wieviel Liebes sie ihm erwiesen hatte! Allein mit dem Klang ihrer Stimme, dem Streicheln ihrer Hand! Und, was ihm erst jetzt zum Bewußtsein kam: wie schön sie war. – Er konnte stundenlang ihrem Bilde gegenüber in ihrem Sessel sitzen und es ansehen, indessen Tränen die Wangen langsam hinunterrollten. Und er sprach das Bild an, als wenn es lebte: »Du hast mich doch liebgehabt, Mama, nicht wahr? Ich weiß es. Und ich hab dich ja auch liebgehabt. Und ich würde dich immer mehr liebgehabt haben. Ich hätte dich nie mehr erzürnt, nie mehr! Denn es war häßlich, dich zu erzürnen, und ich habe dich dabei entstellt.« Und dann wandten sich seine Gedanken der neuen Mama entgegen, die er sich ohne weiteres nach dem Bilde der verstorbenen dachte. Und er würde ihr Herz auch gewinnen, ganz gewiß, denn, so sagte er sich: Sie wird mich bedauern und wird mich trösten wollen.
Und nun: – Tante Susanna! Das sollte die neue Mama sein?! Da fiel der Hieb und schlug die Kerbe.
Auch ohne die Augen, den Mund, die Worte des Onkels war es entschieden: Alles anders! Alles aus! Papa und Mama auf dem Kirchhof, und, ja, im Herzen, fest verschlossen als eigenstes Eigentum, nie enthüllt, nie vorgewiesen: Das letzte Stück von dem Henfel, der jetzt so tot war, wie sie.
Diese zweie da: Nur Onkel, Tante: – Der Feind!