Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Der geborene Herr

Als Henry Hauart aus London zurückgekehrt war, galt einer seiner ersten Gänge seinem Maler, für den er eine Anzahl alter farbiger Gravüren mitgebracht hatte. Wie er sich der Ateliertüre näherte, hörte er folgendes Gespräch:

Der Maler: Halt di grad, Lausbub, oder i schick di wieder zu deine Gscheerten! (Bauern).

Eine Knabenstimme: Da geh i nimmer hi.

Der Maler: So, was tust denn nachher?

Die Knabenstimme: Da bleib i.

Der Maler: So? Und wenn i di net behalt?

Die Knabenstimme: Is mir aa wurscht. Nachher lauf i auf d Gassn.

Der Maler: Na, und auf der Gassn, was tust denn da?

Die Knabenstimme: Ich geh in d Residenz.

Der Maler: Sakrament! Was tust denn dortn?

Die Knabenstimme: Zun Kini geh i.

Der Maler: »Zun Kini!« Der wird di anderscht ausifeiern.

Die Knabenstimme: I laß mi net ausifeiern. Ich bin grad so gut a Prinz.

Der Maler: Hui je! Der Prinz Kuckuck. Da legst di nieder! Der Prinz Kuckuck.

In diesem Augenblick erfolgte ein fürchterliches Gebrüll und irgend etwas schlug krachend an die Ateliertüre.

»Teufelsbua!« schrie der Maler, »hat mir der Fratz den Apolloschädel abergrissen. Wart, dir hilf ich!«

Neuerlicher Tumult, Poltern, Kreischen. Dann Stille.

Henry Hauart öffnete die Türe und erblickte den Maler, wie er sich über einen Jungen in oberbayrischer Tracht niederbeugte, der, wie leblos, Schaum vor dem Munde rücklings auf der Erde lag. Es war Felix.

Der Maler, vergeblich bemüht, ihn zum Bewußtsein zu bringen (er lag wie ein Epileptischer nach dem Anfall), erzählte nun, daß er den Jungen seit einer Woche bei sich habe, um ihn zu malen, daß er aber »net zum ham« sei: bald übermütig und lustig aufs höchste, willig und unermüdlich im Stehen, dann wieder launenhaft, verdrossen, widerhaarig, und dann, vor allem: »er will mir gar nimmer wieder zu seine Leit!« Auf die Frage, wer diese seien, erzählte der Maler die Herkunft des Jungen und wie die Mutter »sonst a rechta sauber Weib, – no, da hängt sie!« und er wies auf Saras lebensgroßes Porträt – sich zu ihm stellte.

Henry Hauart sah sich den Jungen, der allmählich wieder Farbe bekam und ruhig zu atmen begann, lange an, betrachtete aufmerksam das Bild Saras und wurde nachdenklich.

– »Erzählen Sie mir alles genau, Meister! Wissen Sie, wer der Vater ist?«

Und nun erfuhr er denn alles, Punkt für Punkt, – nur eben den Vater nicht: »Dees ist halt das düstere Geheimnis. Er hat sie zum Aussuchen.«

– »Hm!«

Herr Hauart machte öfters hm, so oft, daß der Maler scherzend sagte: »Man möcht fast meinen, Sie wären auch dabei gewesen.«

Herr Hauart ging auf den Scherz nicht ein, sondern inquirierte weiter.

Dann meinte er: »Auf alle Fälle keine üble Mischung. Von der Mutter her stärkstes Rasseblut, obwohl möglicherweise schon nuanciert. Hm. Die kreolische Tänzerin... Der spanische Jude mit romanischer Beeinflussung... Das Blut allein machts ja nicht... Erziehung, Klima, Umgebung... Hm... Dann germanisches oder slawisches Herrenblut... Der Musiker ist mir dem Renommee nach wohlbekannt. Etwas toll, aber eine resolute Kraft. Rücksichtslos, streitbar, geistreich, dabei feudal, auch in seiner Treue gegenüber seinem Meister. Genie und Aristokrat. Man könnte ihm wohl einen tüchtigen Jungen zutrauen. Gerade aus einer solchen unsentimental amourösen Frau... Hm... Aber auch der andere, der Slawe oder Tatar, der Reitergeneral, eröffnet keine schlechten Perspektiven für den Burschen.«

Er sah sich Felix wiederum sehr genau an, dann fuhr er fort: »Was für ausgeprägte Züge der Junge schon hat. Nase, Stirne, Kinn: alles Energie. Auch der Körper scheint ganz tadellos. Und wie fein gegliedert die Hände sind. Ein Prachtstück von einem Knaben.«

»Aber a Vieh!« meinte der Maler und fügte hinzu, daß ihm noch nie eine solche Wildheit und Verschlagenheit bei einem Kinde vorgekommen sei. Der Junge könne bestrickend liebenswürdig sein, wenn es ihm in den Kram passe, aber auch niederträchtig und bös »wie r a Aff. Gemüt hat er, mein i, net für an Kreuzer«.

»Um so besser für ihn«, meinte Herr Hauart. »Das Gemüt ist von uns Deutschen durch lange Zeit so abstrapaziert worden, daß man es wie einen durch Raubbau ausgezogenen Acker jetzt eine Weile ruhen lassen muß. Wir brauchen jetzt gerade das, was Sie Verschlagenheit und Bosheit nennen. Jede Zeit hat ihre besonderen Tugenden nötig. Gemüt ist heute gut für Leute und Völker, die Ursache haben, die Konkurrenz zu scheuen. Sie können sich damit trösten. Schön. Der Starke aber braucht so wenig Trost, wie der Gesunde Medizin braucht... Glauben Sie vielleicht, daß es das deutsche Gemüt ist, was jetzt Schlachten gewinnt und das politische Fazit daraus zieht? Glauben Sie, daß die Zeit sehr gemütlich sein wird, die jetzt kommt? Gott bewahre unsere Nachkommen vor einem zu baldigen Rückfall in die deutsche Gemütskrankheit, sonst ist dieser wundervolle Krieg, den wir jetzt erleben, nur ein Intermezzo. Auf die Wacht am Rhein darf nicht wieder die Lorelei folgen – überhaupt keine Lyrik mehr, sondern Drama, keine Gefühle, sondern Handlung. Energie brauchen wir, scharfes Rechnen und kühnes Einsetzen der Kraft, nicht Romantik und Philosophie. Das Volk der Dichter und Denker muß zum Volke der Techniker und Handelsherren werden. Haben wir bis jetzt die Welt übersponnen mit Phantasien und Theorien, so müssen wir jetzt die Erde mit Werken der Ingenieurkunst überziehen und Schiffahrtslinien gründen, die Deutschland reich machen – reich, Meister, nicht beliebt. Oderint dum metuant! Die Römer sind auch nicht gerade beliebt gewesen.«

Dem Maler war nicht ganz geheuer bei diesem ungewohnt temperamentvollen Ergusse seines Gönners. Denn damals war man sich der logischen Schlüsse aus den gewaltigen Ereignissen, die man mit erregtem Staunen erlebte, im allgemeinen nicht so bewußt, wie Herr Hauart, der Deutsche von englischer Abstammung. Auch war der Maler, wie die meisten seiner Kunstgenossen, überhaupt kein Freund von allgemeinen Erörterungen. Und so bog er das Gespräch schnell zu dem Jungen hinüber, der eben die Augen aufmachte und den ihm fremden Mann mit ungeheurem Erstaunen, aber keineswegs scheu fixierte.

»Von dir ist die Red, Lix«, sagte der Maler. »Du sollst a Ingenieur werdn oder a reicher Handelsherr. Was ist dir das liebere!?«

»Nix mag i werdn!« sagte Felix und richtete sich auf. »Reich schon, aber sonst nix.«

»Halt a Prinz, net wahr?« lachte der Maler,

»Spottn S net alleweil« rief der Junge und blitzte ihn an, indem er die Fäuste in die Taschen seiner Lederhose bohrte und breitbeinig dastand, wie ein Bauernbursch, der mit den Worten zum Raufen herausgefordert hat: Host ebbar an Zweifi?

Aber zu Herrn Hauart wurde Felix im weiteren Verlauf überaus liebenswürdig und anschmiegsam, jedoch ohne jeden liebedienerischen Zug... Sein Instinkt sagte ihm auf der Stelle, daß der vornehme Herr Gefallen an ihm fand, und er selbst fühlte sich unbewußt zu ihm hingezogen.

Herr Hauart verabschiedete sich aufs freundlichste von ihm, indem er ihn einlud, ihn am folgenden Tage zu besuchen.

 

Es dauerte nicht lange, und Felix war täglich zu Besuche im Hauartschen Hause. Sein frisches, kindlich munteres Wesen, das er aber wohl abzudämpfen wußte, so daß er durch keinen Lärm die vornehme Ruhe dieser gobelinverhangenen Räume störte, gewann ihm schnell auch Frau Klaras Zuneigung, die ihm überdies schon deshalb sicher war, weil er ihres Mannes Neigung deutlich besaß. Es war aber auch wirklich, als wenn erst jetzt Leben in der stillen Villa herrschte, seitdem der dunkeläugige Bursche in ihr wie zu Hause war. Sein bäurisches Oberbayrisch klang neben dem scharfen Norddeutsch der beiden Ehegatten wie die Stimme der Natur selbst neben bloßer sprachlicher Konvention. Und was er sagte, offenbarte gleichfalls eine Ursprünglichkeit des Denkens und Fühlens, die für das Ehepaar überaus reizvoll war. Ein Kind im Hause und noch dazu ein Naturkind ohne alle Verbildung: das war viel für Leute, die zwar alles besaßen, was dem Leben ruhigen Halt und harmonische Bewegung gewähren konnte, aber doch des Zusammenhangs mit allem eigentlich und ungebrochen Natürlichen entbehrten. Auf ihren Wanderungen im Gebirge, die der Sehnsucht danach ihre Häufigkeit verdankten, und auch auf ihrem Landsitze in Mittenwald hatten sie das nur wie ein Schauspiel genossen. Norddeutsch durch und durch, war es ihnen nicht gegeben, aus ihrer Reserve herauszutreten, wenn sie mit Gebirglern in Berührung kamen. Es war ihnen das Wesen dieses kräftiger deutschen Schlages immer wie eine Art Kuriosität erschienen. Jetzt hatten sie diese Natur im Hause und in der denkbar günstigsten Gestalt. Denn Felix hatte alles Frische, Muntere, und auch alles drollig Ungebildete und Derbe des richtigen oberbayrischen Bauernjungen, aber gleichzeitig war etwas in ihm, das seine bäuerliche Art hier nicht als etwas durchaus Fremdes, als Kuriosität erscheinen ließ. Es war, als sei er das Kind des Hauses, das man eben nur im Gebirge unter Bauern hatte aufwachsen lassen. Kaum, daß sich auch nur im Anfang etwas Befangenheit bemerklich gemacht hatte. Von der plumpen Störrischkeit des Bauernjungen, den man in ungewohnt prächtige Räume zu Leuten mit städtischen Manieren und Redewendungen geführt hat, war nichts vorhanden. Überhaupt keine Plumpheit und kein Widerstreben. Er ging in seinen genagelten Schuhen auf den Teppichen und auf dem Parkett der Villa Hauart, als hätte er Wiesengrund oder Stallstreu unter sich. So auch in Rede und Gegenrede. Verstand er etwas nicht gleich so, sagte er kecklich: »Dös mußt no amal sagn« und, hatte ers erfaßt, erfolgte prompt ein zufriedenes: »Aaso«. Übrigens legte er merkwürdig schnell das Rohe seiner Sprache ab und machte sich hochdeutsche Redewendungen zu eigen, ohne daß sie geziert erschienen.

Darüber, daß er aufgeweckten Geistes war, waren sich die Gatten bald einig. Sein Verstand und seine Auffassungsgabe waren sogar frühreif. Etwas wie Heimweh nach dem Lande und seinen Eltern machte sich nicht bemerklich. Fragte man ihn, ob er nicht wieder einmal nach Hause wollte, dann antwortete er: »Ja, mei Sach hol i«. Unter seiner Sach verstand er lediglich den reitenden Kosaken (den »Wildn«) und den seidenen Schlafrock (»mei schens Gwand«).

Wegen seines Charakters bestand bei Herrn Hauart die günstige Voreingenommenheit von vornherein, und diese teilte sich auch Frau Klara mit. Da man ihm nie anders als freundlich entgegenkam und alles Dargebotene für ihn reizvoll, neu und angenehm war, hatte er weder Ursache noch Gelegenheit, irgendein Mehr durch Trotz und Wildheit erzwingen oder durch List und Verstellung ergattern zu wollen. Er nahm alles fröhlich entgegen, wie wenn es ihm nur nach Gebühr geboten würde. Besonders günstig aber legte der Herr des Hauses den Umstand aus, daß Felix, der jüngere und ungebildete, Hermann gegenüber fast mit Überlegenheit auftrat: »Setz di do gscheit in Sessel eini«, rief er den Schüchternen an, wenn der nach seiner Art nur den Rand seines Stuhles in Anspruch nahm. Oder: »Was schaugst denn allweil in Boden«, wenn Hermann in Hauarts Gegenwart scheu die Augen niederschlug.

»Da hast du den geborenen Herrn und den geborenen Dienstboten«, pflegte nach derartigen Bemerkungen der alte Hauart zu seiner Frau zu sagen, die dann Hermann zwar in Schutz nahm, aber doch zugeben mußte, daß auch ihr das Benehmen des Jüngeren hier gesünder, natürlicher und dadurch erfreulicher erschien.

So stimmte sie denn gerne und überzeugt bei, als ihr Mann ihr seine Absicht eröffnete, Felix zu adoptieren.

Auf Schwierigkeiten bei der Mutter stieß er nicht, auch als er die Bedingung stellte, daß sie sich ihrem Sohne niemals als seine Mutter nähern dürfe. Denn es war seine Absicht, daß Felix ihn als seinen rechten Vater und Frau Klara als seine rechte Mutter ansehen sollte. Die Schirmers wurden ihm als Pflegeeltern hingestellt. Sie waren sehr vergnügt, an dem Jungen nochmals eine hübsche Summe zu verdienen, und nahmen es ihm nicht weiter übel, wie er, bereits in städtischer Tracht, nicht sehr gefühlvoll, vielmehr eher gönnerhaft von ihnen Abschied nahm, als er mit seinen »rechten Eltern« zu ihnen gekommen war, seine »Sach« abzuholen.


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