Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Der Sohn des Kaisers von Mexiko

Zuerst gedachte Henry, um Karl seine Selbständigkeit direkt ad oculos zu demonstrieren, in ein Leipziger Korps einzutreten. Er kaufte sich den Kösener S. C.-Kalender und unterzog die Farben der Leipziger Korps einer genauen Musterung.

War es Vererbung von seiner Mutter her, daß ihm das Stahlblau-Gold-Rot der Lausitzer am besten gefiel? Kein Zweifel! eine stahlblaue Mütze würde sowohl zu seinen Haaren wie zu seiner Hautfarbe gut stehen, und das Gold im Bande zog ihn auch an. Demgegenüber verblaßten die Sachsen-, Thüringer-, Westfalen-Farben allesamt durchaus. Also: Lusatia seis Panier!

Aber –: Leipzig? Was konnten in einer so großen Stadt die Korpsstudenten für eine besondere Rolle spielen? Überhaupt: eine Handelsstadt! Würde er etwa, wenn Hamburg eine Universität hätte, in Hamburg bleiben? Nein: es mußte ein Korps in einer kleinen Universitätsstadt sein, wo sich alles um die Studenten drehte, wo die Studenten die Herren waren und, natürlich, die Korpsstudenten die Herren der Herren.

Aber nicht zu weit weg von Leipzig, damit man schnell einmal den traurigen Vetter im vollen Schmucke von Mütze und Band überraschen konnte.

Etwa Jena. – Ja: Jena! Jena, wo es nach allgemeiner Rede auch am lustigsten und wildesten zuging.

Schnell die Farben im S. C.-Kalender nachgeschlagen. Hm. Ein Blau-Gold-Rot gab es da nun freilich nicht. Aber das Grün-Rot-Gold der Franken machte sich am Ende auch nicht übel.

Und darin, richtig, dort war ja auch der berühmte Professor Häckel! Stud. phil. et rer. nat. also. Weltanschauung sich aneignen, soweit man sie nicht schon hatte.

Henry übte gleich den Franken-Zirkel ein und konnte nach Verbrauch eines Ries Papieres wohl sagen, daß er ihn bewältigt hatte.

So, wohlvorbereitet, die Brieftasche reichlich versehen mit den wenigen Banknoten des noch immer düster-kalten Onkel Jeremias und den sehr viel zahlreicheren des weit gemütlicheren Onkels Tom, begab sich der Spe-Fuchs der Frankonia nach einem mehr als gleichgültigen Abschiede vom Hause Kraker auf die Reise nach der thüringischen Universität.

Er sah nicht übel aus und machte dem Coupé erster Klasse, das er einstweilen allein innehatte, keine Schande. Nach seinem etwas hochnäsigen und blasierten Gesichtsausdrucke und dem tadellos sitzenden, nur allzu neu wirkenden englischen Anzuge hätte man vermuten können, daß das Ziel seiner Reise nicht das wenig elegante und gar nicht aristokratische Jena, sondern Bonn gewesen wäre, Bonna superba, die Stadt, die sich des Vorzugs rühmen darf, das Klub-Korps Borussia zu beherbergen. Man sah es ihm wahrhaftig an, daß er ein hoffnungsvoller junger Mann war, der es nicht nötig hatte, zu studieren. Man sah es ihm vielleicht etwas zu sehr an; die Millionärsallüren ermangelten einigermaßen der Kontrolle des guten Geschmackes.

Der große Krümpermann, der denselben Zug, aber dritter Klasse benutzte, um gleichfalls dem Athen an der Saale zuzustreben, mußte es erleben, daß Lord Byron seinen Gruß nur sehr von oben herab erwiderte.

»Du gehst doch nicht etwa auch nach Jena?« rief er, offenbar durch diese Perspektive angenehm berührt, Henry zu.

»In der Tat«, entgegnete dieser kühl, den Lackleinwandkoffer Voltaires mit Mißbehagen musternd.

»Das ist ja großartig! Darin werde ich dich auf dem Fürstenkeller vorstellen!«

»Was ist das für ein Lokal?«

»Ja, kennst du denn die Arminia auf dem Fürstenkeller nicht? Ich werde dort aktiv.«

»Pardon, ich nicht!«

Und Lord Byron lehnte sich so weit zurück, als es nur möglich war. –

Was für eine absurde Idee! Er, Henry Felix Hauart und Burschenschafter! Der gute Krümpermann war doch ein recht ahnungsloser Knabe! – Überhaupt, die ganze Gesellschaft da bei Onkel Tom. Wickelkinder im Grunde. Was würden sie nun ohne seine Bowlen und Delikatessen machen? Vermutlich sich wieder erst zu Lyrikern und dann zu sozialdemokratischen Diskussions-Schwätzern zurückbilden. Habeant sibi!

Henry belächelte seine Kinderschuhe.

Als der Zug die Bahnhofshalle verließ, hatte er die nicht unangenehme Empfindung, etwas Dunkles hinter sich zu lassen.

– Was hab ich hier nicht alles überwunden! dachte er sich und ließ seine verschiedenen Stimmungsperioden und Erlebnisse Revue passieren.

Daß er immer nur von irgend jemand am Ohr genommen und bald dahin, bald dorthin gezogen worden war, kam ihm nicht zum Bewußtsein.

Einflüsse, – ja, natürlich! Aber immer die, die ich suchte. Geleitet hat mich nur mein Stern.

Wer weiß aber, ob er nicht doch recht hatte?

Er ließ den Blick auf dem Ring mit der schwarzen Perle ruhen.

Und er dachte an »die Frau«.

Eines ist gewiß: niemand kennt mich so, wie sie, niemand empfindet so stark für mich, wie sie. – Wie sonderbar! Ich bin verwaist und habe doch jemand, der wie Vater und Mutter über mich wacht.

Warum aber das Geheimnis? Was sollen das für Geheimnisse sein, die mit mir zusammenhängen?

Er hatte in der ersten Zeit oft genug darüber nachgedacht, und immer wieder war er dabei auf den seidenen Schlafrock und den reitenden Kosaken gekommen, die er auch jetzt, wie die wertvollsten seiner Güter, in einer Handtasche bei sich führte.

Daß »die Frau« diese erwähnt hatte, war ihm der wichtigste Beweis dafür, daß sie mehr über ihn wußte, als irgendwer, und auch dafür, daß die Lösung des Rätsels in diesen beiden Gegenständen lag.

Er hatte sich gegenwärtig gemacht und sagte es sich wieder, daß seine frühesten Kindheitserinnerungen mit ihnen und sonst mit nichts zu ihm Gehörigem zusammenhingen. Nicht einmal an Vater und Mutter konnte er sich zu einer Zeit zurückerinnern, als schon der Mantel und die Statuette zweifellos in seinem Bewußtsein gewesen waren. Aber darin war doch eigentlich nichts Geheimnisvolles. Er wußte ja, daß er wegen großer Schwächlichkeit und weil die Eltern in Mexiko leben mußten, aufs Land gegeben worden war. Was weiter, wenn sie ihm die beiden Gegenstände, wer weiß aus welchem Grunde, mitgegeben hatten? Vielleicht waren es Erbstücke der Familie, die dazu dienen sollten, die Erinnerung an die fernen Eltern wachzuhalten? Dann, wie sie zurückgekehrt waren und er bei ihnen lebte, von wo an erst seine eigentlichen Erinnerungen begannen, hatte man sie weggeschlossen. Er durfte sie vergessen, weil er jetzt die Eltern selber hatte. Sogleich nach ihrem Tode aber hatte er sie auf ausdrücklichen Wunsch Papas wieder erhalten. Indessen: etwas eigentlich Geheimnisvolles war doch auch daran nicht.

Geheimnisse... Rätsel... Und doch schien alles ganz klar. Merkwürdig...

Das Rattern des Zuges und sein Alleinsein in dem behaglichen Coupé, das erfreulicherweise einen Spiegel hatte, begünstigte ein Hindämmern in phantastischen Träumen.

Wer weiß, was es mit ihm auf sich hatte. Wer weiß, wessen Abgesandte »die Frau« war... Er erinnerte sich plötzlich, daß man ihn ganz früher »Prinz« genannt hatte.

War etwa sein Papa nicht sein rechter Vater gewesen!?

Hatte der Papa vielleicht nur die Funktionen des Erziehers ausgeübt? In einem – höheren Auftrage?

Waren ihm nicht Grundsätze eingeschärft worden, wie einem jungen Fürsten? Löste nicht vielleicht jetzt »die Frau« nur den seligen Papa ab? Wiederum – in höherem Auftrage?

Henry konnte nicht umhin, sein Antlitz im Spiegel nach fürstlichen Zügen zu durchmustern, und er kam dabei zu dem angenehmen Resultate, daß er mindestens sehr aristokratisch aussähe. Dickere Lippen hatten auch die Habsburger in ihren besten Zeiten nicht aufzuweisen, und seine Nase ließ an Herrscherkühnheit wahrhaftig ebensowenig zu wünschen übrig, wie seine Augen an durchdringendem Regentenblicke. Und diese Schrägfalten an den Lippen, – wie? War das nicht hautaine Verachtung alles Plebejischen?

Odi profanum vulgus et arceo etc.

Henry lehnte sich majestätisch zurück und starrte zu seinem Handkoffer hinauf, der jene zwei geheimnisvollen Gegenstände barg.

Ein reitender Kosak und ein kostbarer seidener Mantel, – waren das Erbstücke einer mit Jeremias Kraker, Export und Import, verwandten Kaufmannsfamilie?

Henry lächelte überlegen.

Aber die Millionen? Die Millionen stammten doch aus kaufmännischen Erfolgen?...

Vielleicht doch nicht so ganz... Aus Mexiko wohl, aber gab es dort nicht gerade um die Zeit seiner Geburt einen – Kaiser? Einen habsburgischen Erzherzog als Kaiser?

Henry trat wieder zu dem Spiegel und konzentrierte seinen musternden Blick auf die Lippen.

Er fand sie »absolut habsburgisch«.

Und nun kam die dunkle Hautfarbe an die Reihe, die schwarzen Haare, die seltsam dunklen, eigentlich »uneuropäischen« Augen. – Sollte die Mutter nicht Mexikanerin gewesen sein? Hatte er nicht das ungezügelte Temperament eines südlichen Menschen?

Und, ja, das Negerlied, von dem die Frau gesprochen hatte? In Mexiko gab es sicherlich doch auch Neger. Seine Amme war eine Negerin gewesen! »Die Frau« war, nun, irgendwie mit dem mexikanischen Hofe in Zusammenhang zu bringen, eine Vertraute des Kaisers, seines Vaters. Der Papa war als Armeelieferant gleichfalls leicht mit dem Hofe in Verbindung zu bringen. Er hatte ihn auf kaiserlichen Wunsch adoptiert und nach Europa gebracht, wie das Kaiserreich in Stücke gegangen war. »Die Frau« aber hatte dem Kaiser vor seiner Hinrichtung durch die Schurken (Henry rollte die Augen) schwören müssen, seinen natürlichen Sohn durchs Leben zu begleiten als wie ein Genius.

Die phantastische Konstruktion hatte den Spe-Fuchs der Jenenser Franken so aufgeregt, daß er gar nicht mehr an das Ziel und die Absichten seiner Reise dachte. Er reiste jetzt ganz woanders hin; – ganz woanders hin: nach Mexiko, wo sein Erzieher, dem er pietätvoll gerne weiterhin den Titel »Papa« ließ, alte Städte aus Urwäldern hatte heraushauen lassen, wo die Palmen rauschten und ungeheure Aztekentempel bunt in greller Sonne gleißten, und hinter einem vergitterten Palastfenster vielleicht noch jetzt seine Mutter saß, den verschleierten Blick der dunklen Augen (seiner Augen!) ins Leere richtend, voller Erinnerungen. Ah, und noch weiter die Fahrt: ins ganz phantastische, rätseldunkle, geheimnisvolle einer wunderbaren Zukunft, die irgendwie anknüpfen mußte an diese mysteriöse Herkunft. »Die Frau«! Die schwarze Perle! Der Stern!

Er fühlte sich gewaltig, der wiedererwachte Prinz Kuckuck, und er folgte einem unwiderstehlichen Drange, als er seine Tasche öffnete und die beiden Beweisstücke seiner kaiserlichen Herkunft ans Licht zog.

Er belegte den einen Sitz des Coupés ganz mit dem seidenen Schlafrock und stellte die Statuette darauf. Es war Andacht und Ehrfurcht in seinem Blicke, wie er sie betrachtete, aber auch Stolz und Selbstbewußtsein.

Er vergaß alles um sich herum und jedes Wollen, das sich auf Gegenwärtiges richtete. Er war, wie verkehrt und kindisch-phantastisch auch seine mexikanischen Konstruktionen waren, zum ersten Male getragen von einer vollen Empfindung seiner selbst.


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