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So sehr sich Karl vor der See fürchtete, so ungeduldig drang er darauf, daß man so bald wie möglich in See steche. Denn er hatte eine heillose Angst vor Konstablern, und der Boden Old Englands, so sehr er seine Festigkeit schätzte, brannte ihm heiß unter den Fußsohlen. Nur fort, fort! Weg von den Menschen, in die Einsamkeit, – wenn auch, ach, mit diesem Menschen, der sich jetzt wie ein Überlegener gebärdete. Aber Karl rechnete darauf, daß er gerade auf dieser ihm sonst recht unsympathischen Kreuzerfahrt durch allerhand britische, französische und spanische Gewässer am schnellsten und sichersten wieder Herr über ihn werden würde.
In der ersten Zeit, als sie in der irischen See kreuzten, war er freilich seiner selbst nicht Herr, denn die Seekrankheit packte ihn auch jetzt wieder, während Henry, wie im Kanal, so auch hier durchaus verschont von ihr blieb, ja auf eine für Karl höchst widerwärtige Weise munter und frisch wurde.
Da man häufig die Segel benutzte, so ließ sich Henry, während Karl in der Kajüte lag und die Welt verwünschte, in die Technik des Segelsports einführen, und er war bald weit genug darin gediehen, um den Kapitän im Kommando der Mannschaft ablösen zu können. Auch für die Führung unter Dampf interessierte er sich, und die Stellung auf der Kommandobrücke, das Fernrohr in der Hand, war ihm die liebste. Aber er griff auch kräftig und sicher ins Steuerrad, und der alte Kapitän schmeichelte nicht, wenn er erklärte, daß Henry Blick und Schneid fürs Seewesen habe. Furcht empfand er nicht einen Augenblick, auch nicht bei größtem Wellengange. Und dieser Mut beruhte nicht auf der Zuversicht zu seinem Stern. So wenig tapfer im Grunde Henry war, wenn er sich dem Willen eines Menschen gegenüber befand, so mutig war er den Elementen gegenüber. Da fühlte er sich ohne weiteres überlegen. Die See war ihm wie ein Pferd, das er ritt. Er dachte nicht weiter darüber nach und empfand sich einfach als den Herrn, der mit so und so viel Armen, so und so viel Segeln, so und so viel Pferdekräften der Maschine den Schiffskörper lenkte. Der Wind, der ihm um die Nase pfiff, durch die Haare strich, sich über ihn herwarf mit Brausen und Heulen, tat ihm wohl. Er konnte laut aufschreien vor Lust und die Zähne fletschen vor Vergnügen.
So ein »Prinzipal« gefällt Schiffsleuten, und wenn er es gar an steifem Grog, kräftigem Tabak und reichlicher Kost nicht fehlen läßt und auch imstande ist, derbe Witze mitzureißen wie grobe Leinwand, dann erfreut er sich bald herzhaftester Beliebtheit und kann von den Blaujacken verlangen, was er mag. – Es fiel Henry gar nicht ein, seine Leute zu lieben oder sich persönlich für den einen oder andern auch nur zu interessieren. Wenn einer über Bord gespült worden wäre, er hätte dabei nicht mehr empfunden, als beim Abbrechen einer Segelstange. Aber er verstand es, sie zwar als Herr, aber seemannsmäßig zu behandeln: derb, ohne Umschweife, hanebüchen, wos nötig war, aber immer als Schiffskamerad. Die Matrosen fühlten: er ist eigentlich gerade so wie wir, bloß daß er Geld hat.
Und Henry empfand im Grunde ähnlich: So wäre ich, wenn ich nicht Millionär wäre; griffe derb zu, wenns das Kommando verlangt und andere Arme dasselbe tun; räkelte mich faul zufrieden hin, den Tabak zwischen den Zähnen, wenns nichts zu tun gibt; gäbe breitmäulig grinsend saftige Witze zum besten; äße und tränke mit kräftigem Behagen bis zur Grenze der Möglichkeit und trüge mein Geld an Land sofort zu den kleinen Mädchen in den engen Gassen.
Das tat er freilich auch als Millionär, und er traf sich in den kleinen irischen Hafenstädten mehr als einmal mit Leuten seiner Mannschaft in den Häusern mit den bunten Laternen.
Karl dagegen, auch als er sich endlich erholt hatte, war und blieb den Matrosen unheimlich und fremd. Er war der feine Herr, der »mitfährt«, – ein langweiliger Passagier, der in der schönen Kajüte über Büchern saß, seine Befehle viel zu höflich gab und sich nur mit dem Koch in Gespräche kulinarischer Natur einließ. Das Land betrat er überhaupt nicht, und auf Deck war er nur nachts zu sehen, wenn es warm und windstill und der Himmel voller Sterne war. Dann lag er in einem breiten Korbstuhle, rauchte Zigarette auf Zigarette, trank Madeira und brütete, wie die Matrosen sagten, Mondeier aus.
Aber es war Schlimmeres, was er hier mit sich abmachte. Er hielt Abrechnung mit sich und der Welt: Was er in sich als eine neue Wahrheit als erster erkannt zu haben geglaubt und in leuchtende Worte gefaßt hatte, war von einem Anderen, Reiferen, Umfassenderen vor ihm in viel hellerer Klarheit erkannt und nicht bloß juwelierhaft gefaßt, sondern zu einem Gebäude mächtigster Konstruktion und gewaltigsten Eindruckes gebildet worden. Er hätte nur noch ausschmücken, ja eigentlich bloß noch tapezieren können. – »Nietzschejünger«... Ah, erbärmlich... Lieber dieses Kastell unterminieren, einreißen... Aber nein; da waren ja andere am Werke: diese vernünftigen Dichter mit dem liebevollen Herzen fürs Ganze. Pfui Teufel! – Und das Kastell selbst, dieser ungeheure Palast des Nietzscheschen Geistes, dieser Tempel der strahlenden Macht, – was war er schließlich selbst als ein Schaustück für entsetzte oder ergriffene Gaffer. Nichts, gar nichts war er im eigentlichen Sinne dieses Willens zur Macht, denn die tatsächlich Mächtigen sahen ihn gar nicht oder übersahen ihn gleichmütig als die belanglose Ausgeburt einer zügellosen Phantasie. – Lassen Sie sich ans Kreuz schlagen, Herr Professor Nietzsche, oder zünden Sie wenigstens Berlin persönlich an allen vier Ecken an. Weisheit allein tuts nicht. Man muß seinen Leib hergeben, und zwar möglichst effektvoll. Zarathustra im Salon wird zur Nippesfigur, auch wenn ihn die schönsten und geistreichsten Jüdinnen in den Schoß nehmen. Etwas Schädelstätte s'il vous plaît, – und nicht bloß die literarische, die Ihnen nicht erspart bleiben wird, Übermenschlich-Allzumenschlicher; so wenig, wie die Jünger mit dem Federhalter. – Es verlohnt sich nicht, Geist zu haben in dieser bis hoch hinauf pöbelhaften Zeit. Und wer welchen hat, soll ihn verstecken und heimlich pflegen. Und soll ihn mit ins Grab nehmen, ihn unangetastet dem Nichts zurückgeben. – Was geht uns die Zukunft an? Was hilft es dem mit Adler und Schlange verwesten Professor Zarathustra, daß die Professoren des sozialistischen Staates die Ruinen seines Machtkastells mit ihren Hämmerchen abklopfen und Vorlesungen darüber vor dem dann auch offiziell souveränen Pöbel halten werden? – Was Genuß der Schönheit, Schwelgen des Geistes ist, wußte ich lange. Jetzt weiß ich auch, was Wollust ist. Auf Ehrgeiz lasse ich mich nicht mehr ein. Diese Zeit hat keine Ehren für meinesgleichen zu verschenken. Aber ich will für meinen Genuß, für den Genuß meiner selbst, eine Lordschaft errichten, so mit den Mauern des Reichtums umgeben, daß keine Hyänen darüber hinwegspringen sollen, auch nicht die eurer niederträchtigen Moral. Nur Geld, Geld, Geld! – Dieser freche, tückische Hund glaubt jetzt, daß er sich mir entwunden hat. Ah, wie er sich wohl fühlt! Wie er sich dehnt, spannt, wölbt! Er spürt, und ich muß es zugeben: keine Ausschweifung der Sinne tut ihm etwas an. Sein Körper ist anscheinend noch unerschüttert, und selbst sein bißchen Gehirn noch nicht so in Verfall, wie ich gehofft habe. Es geht langsamer, als ich dachte... Wie lange soll ich noch warten? Ich bin nicht vorwärts, ich bin zurück gekommen, und was mir jetzt bevorsteht, ist Tortur. – Vielleicht kann Berta... Aber das ist zu widerlich und verwundet mich zu sehr... Könnte ich ihn über Bord stoßen!...! Aber was hülfe es? Das Geld fiele an Papa... Er muß ein Testament machen für mich und für Berta... Aber es scheint, er hat sie vergessen, und vor mir hat er keinen Respekt mehr. – Wie fange ichs an, daß ich ihn wieder an die Kette bekomme... Wenn nur Berta da wäre... Vielleicht Briefe von ihr an ihn? Briefe, die – ich aufsetze?...
Es begann eine lebhafte Korrespondenz zwischen den Geschwistern, und als die Jacht nach einem halben Jahre ihre Fahrt in einem spanischen Küstenorte beendigt hatte, lag ein ganzer Berg von Briefen Bertas an Karl und auch an Henry in Madrid.
Die Bilder, die ihnen beilagen, zeigten Berta in einer frühreifen Schönheit, die Henry ebenso hinriß, wie die sehr klug von Karl angelegten und von Berta mit nicht geringerem Gefühl für Wirkung redigierten Andeutungen einer immer übermächtiger werdenden Sehnsucht der schönen Cousine nach dem Cousin.
Henry antwortete in einem großartigen Stile: selbstbewußt, wie ein Gereifter, und leidenschaftlich respektvoll, wie ein Mensch der höchsten Form, der sein Temperament zu zügeln weiß, es aber nicht ganz verbirgt. Auch geheimnisvolle Andeutungen fehlten nicht: wie er immer deutlicher die Hand eines seltsamen Schicksals über sich spüre, das ihn durch alle Höhen und Tiefen des Lebens leite zu einem Punkte hin, wo es ihm erlaubt sein werde, einer Person, einer einzigen, Aufschlüsse über sich zu geben, der Person, die seine erste Schwärmerei entfacht habe, und die der unverrückbar hohe Gegenstand seiner dauernden Verehrung immer sein und bleiben werde. Die Fürstenbilder des Velasquez enthüllten ihm mehr, als jedem anderen Menschen. Sie sagten ihm Dinge, die sein Innerstes berührten, und sie riefen ihn eigentlich in ein fernes Land, in das Land seiner Herkunft.
Karl, der die Briefe lesen durfte, freute sich der Empfindung, daß Henry nur auf See gesund im Gehirne sei, an Land aber sofort wieder Symptome einer höchst willkommenen Sinnesverwirrung zeige. Aber er tat, als sei ihm nichts aufgefallen – und er pries Henrys plötzliches Interesse für große Kunst.
– »Ich weiß nicht, was dir Velasquez sagt, aber daß er dir überhaupt etwas sagt, ehrt dich.«
Henry lächelte: »Dieser Maler bedeutet für mich mehr, als einen Künstler. Er hat für mich die Bedeutung eines Aufschlußgebers, eines Seelenrates. Seine Bilder sind Dokumente für mich, persönliche Dokumente.«
– Er ist wahrhaftig total übergeschnappt, sagte sich Karl, und er jubilierte inwendig, denn er sah, wie Henry die Porträts der alten Habsburger heimlich streichelte, Verbeugungen vor ihnen machte und ihnen Kußhände zuwarf.
Aber mit diesen Anzeichen eines sonderbaren Ergriffenheitszustandes hatte es noch nicht sein Bewenden.