Otto Julius Bierbaum
Prinz Kuckuck
Otto Julius Bierbaum

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Bestimmte und unbestimmte Gefühle

Henry war es doch nicht recht geheuer zumute, wie er am nächsten Salatabende die Münzensammlung unter dem Mantel verbarg und damit das Haus verließ. Er dachte sonst nur wenig an den Papa und meist in Fällen, wo er dessen Lehrsätze zu seiner Entschuldigung brauchte. In diesem Falle mußte er wohl oder übel an ihn denken, und er kam sich dabei recht unentschuldigt vor.

Wie oft hatte Papa Hauart ihm davon gesprochen, mit welchen Schwierigkeiten er dieses und jenes Stück erworben hatte. Es war keines darunter, von dem der leidenschaftliche Sammler nicht eine ganze Geschichte zu erzählen gewußt hätte. Und was hatte er nicht alles von diesen Cäsarenprofilen ablesen können.

– »Sieh dir diese Stirnen, Nasen, Kinne nur recht eindringlich an! Mit ihnen hat der Prägestempel gewaltige Wahrheiten verewigt. Auf diesem Gelde steht geschrieben: Wille, Gewalt, Weltverstand. Hier hast du Majestäten nicht von Gottes Gnaden, sondern von Gnaden der Kraft. Die Münzen schwacher Kaiser habe ich nicht gesammelt, auch wenn sie die selteneren und kostbareren waren. Du darfst also und sollst ein jedes dieser goldenen Bildnisse mit Ehrfurcht betrachten.«

Unangenehm, daß ihm diese Sprüche jetzt einfielen... Ehrfurcht, wenn man Geld braucht... Hols der Teufel!

Und dann, was werde Karl dazu sagen, Karl, der ganz verzückt gewesen war, als er diese »Ahnengalerie Henry Felix Hauarts« zum ersten Male gesehen hatte...! Nur mit Zagen erklärte er ihm, was sein Mantel verhüllte.

Aber dieser fabelhafte Vetter war wieder einmal ganz anders auf der Höhe der Situation, als er. »Fort mit Schaden!« rief er aus, »nur keine Sentimentalitäten. Ein frischer Kükensalat geht über alle toten Kaiser. Kauf dir sie wieder, wenn du dein Geld hast! Du wirst zwar das Doppelte bezahlen müssen, aber sie werden dir dann auch das Doppelte wert sein, wenn du daran denkst, daß sie dir zu so vielen köstlichen Bowlen und Delikatessen, sowie zu einer Ehrenstelle im Reiche der Geister verholfen haben!«

Das leuchtete Henry schleunig ein. – Wiederkaufen, natürlich! Und später mit Ehrfurcht betrachten.

 

Dieser Vetter war doch ein herrliches Geschenk des Himmels für ihn. So unbequem zuweilen seine Wahrheiten waren, und so schwer es ihm manchmal wurde, seine Überlegenheit zu ertragen, wenn man im übrigen sich allen anderen überlegen fühlen durfte, so angenehm war es doch, ihn als Stütze und Rückhalt zu haben. Henry empfand hier und da einen rechtschaffenen Haß gegen ihn, plötzlich, jäh, wie in Stößen aus seinem Innersten, aber im ganzen war er ihm doch willig untertan. Er bewunderte ihn und bildete sich etwas darauf ein, der Vetter dieses Genies zu sein, von dem er überzeugt war, daß es einmal seine Zeit zu gleicher Bewunderung hinreißen werde. Selbst Hermann verschwand hinter ihm, obwohl sein Ruhm aktuell war. Aber Hermann hatte keinen seiner Briefe beantwortet und nur eines seiner Bücher mit der Widmung an das »Saatfeld« geschickt:

Die Kunst ist heute ernst, denn Wahrheit ist ihr Ziel.
Wer ohne Zorn und Eifer ist, der geh beiseite.
Sie braucht nicht Lauheit: – Glut, und ist kein Spiel
Für Müßige. Sie wirbt und ruft zum Streite.
Wer kämpfen will, soll fröhlich zu ihr stoßen;
Der Schlachtenbummler kriegt was auf die Hosen.

Seitdem war Henry etwas kritisch gegen Hermann Honrader, den Führer der Jungen, gestimmt und sehr geneigt, in Karl den kommenden Mann der neuen Literatur zu sehen, dessen Bestimmung es war, ihn zu entthronen, und war fest entschlossen, Karl gegenüber die Rolle des geistreichen Gönners zu spielen, indem er ihm alle seine reichen Mittel zur Verfügung stellte, auf daß er sich recht ungehindert, frei und con amore entwickeln konnte zu einem Verkündiger abgeklärter Ruhe und reiner, über allem Kampfgetümmel schwebender Schönheit. So stand es um seine Gesinnung zu Karl, solange dieser noch in Hamburg war und ihn täglich beeinflussen konnte.

Als Karl aber sein Abiturienten-Examen gemacht hatte und auf seines Vaters Geheiß zum Studium der Jurisprudenz nach Leipzig gegangen war (höchst widerwillig, denn die Jurisprudenz wie Leipzig war ihm gar nicht sympathisch), da hatte er doch in erster Linie ein Gefühl der Erleichterung und kam sich nun erst eigentlich frei und herrlich vor. Als er dann merkte, daß er auch ohne Karl den übrigen gegenüber seine Rolle noch ebenso gut, ja besser spielen konnte, weil jede Hemmung fehlte, und daß die anderen, auf denen Karl gleichfalls gelastet hatte, ihm nun erst recht huldigten (denn sie hatten sich dabei bisher vor Karl immerhin ein bißchen geniert), so begann er auch von seiner Bewunderung Karls einige Abstriche zu machen und zu erwägen, ob er sich inskünftig nicht überhaupt von ihm emanzipieren sollte.

Dafür schloß er sich jetzt um so mehr an Berta an.

Er tat dies sofort nach dem Abgange Karls auf die Universität und fand bei der schönen Cousine gleichfalls sofort alles Entgegenkommen. Indessen täuschte sich Henry, wenn er meinte, Berta folge dabei, auch ihrerseits nun von Karls Einflusse frei geworden, dem Impulse einer bisher eingedämmt gewesenen Sympathie. Sie folgte ursprünglich vielmehr einer Weisung Karls.

Bei ihr verringerte sich Karls Einfluß durch seine Abwesenheit keineswegs. Zwar liebte sie ihren Bruder nicht in dem über das Geschwisterliche hinausgehenden Sinne, wie er sie liebte, dem sie das einzige weibliche Wesen war, für das er eine eigentliche Neigung besaß. – Es war das ein etwas komplizierter Fall, wie denn alles an Karl kompliziert und problematisch war. Er liebte in ihr das Weib, gerade weil das Weib in ihr für ihn nicht in Betracht kam. Alle anderen weiblichen Wesen hatten für ihn etwas Peinliches, gewissermaßen wie schöne Aufgaben, denen er sich nicht gewachsen wußte. Und er fühlte sich dennoch zum Weibe hingezogen, innerlich intensiver, strömender, ja begehrlicher, als sonst ein junger Mann. Er verzehrte sich in einem unfruchtbaren Begehren danach, müdete sich ab bis zur Erschlaffung und empfand doch von Grund aus dumpfe Vergeblichkeit. Neben dem Begehren war das Grauen einer jammervollen, feigen Angst, einer beklemmenden Insuffizienz, aus der dann eine Art Abscheu gegen das Weib werden konnte, das für ihn etwas ewig Lockendes und gleichzeitig Drohendes war. Ihm, dem, wie wenig jungen Leuten, der Sinn für das Harmonische, Regelrechte, Normale eingeboren war, dem nichts so sehr verhaßt war, wie das Herausspringen aus den Geleisen sicheren, natürlich oder durch Sitte begründeten Herkommens, dem das Monströse auf jedem Gebiete als unanständig, abscheulich deuchte, ihm war das harmonische Gefühl zum Weibe in um so tragischerer Weise versagt, als sich alles an ihm dagegen aufbäumte, den Ausweg zu suchen, der in ähnlichen, aber weniger komplizierten Fällen sonst triebhaft gesucht und gefunden wird. Er verfiel auf einen anderen. Er trieb einen verzückt erotischen Kultus mit seiner Schwester. Er zwang sich, seinen Blick von allen anderen weiblichen Wesen weg auf sie zu lenken, wie auf eine Geliebte, um derentwillen einer auf alle anderen Frauen verzichtet, obwohl er weiß, daß sie nie seine Frau werden kann. Und er tat es eben deshalb. Es war eine ungeheuerliche Leidenschaft, ein sinnlich unsinnliches Freiertum von perverser Unkeuschheit und keuscher Perversität. Daraus, im letzten Grunde, war die geistige Unterwerfung Bertas unter Karls ganzes Wesen entstanden. Seine Liebe war so ganz zu Geist geworden, daß sein Geist über sie hatte übermächtig werden müssen. Und sie empfand diese Übermacht wie etwas unsäglich Wohltuendes, empfand sie als Liebe, ohne sich übrigens des Untergrundes bewußt zu sein.

Ihre eigene Liebe zu ihm, völlig bis zur Willenlosigkeit, zur anbetenden Verehrung gehend, hing aber durchaus nicht mit einer entsprechenden Veranlagung zusammen. Nur war das Geschlecht bei ihr, trotz frühzeitiger Entwicklung, nicht zum Erwachen gekommen, weil sie vom Wesen ihres Bruders wie besessen war. Sie hing ihm so ganz an, war so erfüllt von dem bewundernden Gefühle seiner Vollkommenheit, daß ihr alle jungen Leute neben ihm knabenhaft unbeträchtlich erschienen, kaum ihrer Beachtung, geschweige ihres Interesses würdig.

Ihre Stellung zu Henry entsprach der des Bruders genau. Auch im Untergrunde ihres Empfindens war Haß gegen den Minderwertigen, dem der Zufall Reichtümer in die Hände gespielt hatte, die eigentlich ihnen gehört hätten und insbesondere Karl gebührten. Der Widerwille gegen sein Wesen war in ihr ursprünglich nicht so heftig, vulkanisch, wie bei Karl, aber er war von diesem genugsam genährt worden, um schließlich gleich bös empfunden zu werden. Schließlich aber war sie mit und durch Karl zu der Entscheidung gekommen, daß es vernünftiger sei, den üblen Fremdling an sich zu fesseln, als ihn abzustoßen, und daß man unverrückt das eine im Auge behalten müsse, keine anderen Einflüsse auf ihn übermächtig werden zu lassen. Auch Berta wußte den Wert von zehn Millionen zu schätzen, und es war ihr nicht minder klar, als ihrem Bruder, daß sie beide in erster Linie dazu berufen seien, sich ihren Anteil daran zu sichern. Im Grunde betrachtete sie Henrys Erbschaft immer noch als die ihre, und Karl hatte manchmal seine liebe Not, ihr klarzumachen, daß es geboten sei, etwas realistischer zu denken.

»Es gibt nur zwei Mittel, unser Geld wiederzubekommen,« hatte er einmal halb scherzhaft und doch mit sonderbar ernstem Tone gesagt. »Das erste ist: dem teuren Vetter Rattengift zu geben. Wie denkst du darüber?«

»Wenn das so leicht ginge!« hatte Berta einfach geantwortet, für die der Gedanke gar nichts Entsetzliches hatte.

Und Karl: »Ja! Wenn wir im Rom der Renaissance lebten und nicht in unserem biederen Hamburg, wo alle bürgerlichen Gewerbe vertreten sind außer der ehrbaren und nützlichen Zunft der Giftmischer. Auch fehlt es uns wohl an der nötigen Courage.«

»Mir nicht!« hatte Berta mit schönem Selbstvertrauen geantwortet.

Und Karl: »Ich hoffe, daß das dein Ernst ist, aber was hilft uns dein Mut, wenn es uns an Sachkenntnis, Technik und den nötigen Pülverchen fehlt? Vielleicht sollte ich Apotheker werden. Es wäre vielleicht immer noch ein geringeres Opfer, als das, was du bringen müßtest, wenn wir das zweite anwenden wollten.«

»Und das wäre?« hatte Berta verständnislos gesagt.

»Daß du den Millionenvetter heiratest,« war Karls Antwort gewesen, worauf zu seiner innigen Freude Berta einfach gesagt hatte: »Du bist verrückt!«

So war es denn nur ein weiteres Glied der Berechnungskette der beiden Geschwister, wenn Berta der Annäherung Henrys an sie mit freundlicher Rühmlichkeit entgegenkam.

 

Sie war nun eine schöne junge Dame geworden, wundervoll schlank und doch füllig gewachsen, biegsam und vornehm in den Bewegungen des ganzen, zugleich kräftigen und zarten, wohlgegliederten Körpers und von einer überaus edlen, zwar ein klein wenig strengen, aber doch reizenden Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge. Die Krone ihrer Schönheit aber, wie früher, so jetzt, war ihr rotgoldblondes Haar, das sie auch in der nun gebotenen weniger freien Frisur wohl zur Geltung zu bringen verstand.

Es dauerte nicht lange, und Henry verliebte sich ein zweites Mal in sie.

Das erstemal hatte er sich in eine Schwärmerei hineingesteigert, weil andere, gar nicht schwärmerische Triebe ihn verwirrt und ausgehöhlt hatten, da er daran verzweifelte, sie sättigen zu können, und weil diese Triebe seinem dadurch verstörten, zerwühlten und entkräfteten Wesen als etwas Abscheuliches, Niedriges, Gemeines erschienen waren. Im Garten der Erkenntnis, wo er sich so willig und gelehrig eines Besseren hatte belehren lassen, war diese Schwärmerei schleunig verflogen, und die Anwesenheit Karls verhinderte es gründlich, daß sie sich aufs neue einstellte. Es war aber auch die Zeit noch nicht gewesen. Henry mußte, um zu einer neuen und tieferen Schwärmerei reif zu werden, sich an den Früchten der Erkenntnis nicht ersättigt, sondern übersättigt haben. Ihrer müde war er trotzdem nicht, aber ihr Genuß war ihm gewöhnlich geworden. Er fand: es müsse doch wohl noch erlesenere Früchte geben.

Zudem hatte sich sein Blick für weibliche Schönheit geschärft. Es blieb ihm nicht verborgen, daß Bertas Schönheit etwas hatte, das den gefälligen Mädchen fehlte: Stolz, Vornehmheit, Unberührtheit. Das waren jetzt unwiderstehliche Reize für ihn. Dazu der Abglanz von Karls Geist auf Berta; ihre graziös gemessene Art, sich zu benehmen; auch das Spröde, jungfräulich Herbe, gegen jedermann Abweisende, kurz, eigentlich: die Dame.

Sein Verkehr mit ihr nahm von seiner Seite her seltsame, fast feierliche Respektformen an. Die Neigung zu derlei lag entschieden in seiner Natur. Henry hatte einen angeborenen Trieb, zu verehren, und gab sich ihm leidenschaftlich hin, weil er fühlte, daß dies der beste Teil seines Wesens war. Etwas Äußerliches blieb immer daran, ganz in die Tiefe gings nie, aber wie es sich äußerte, das hatte den Anschein tiefster Hingegebenheit.

Berta fand das alles anfangs komisch, aber nach und nach gewann es doch Gewalt über sie. Ein gewisser Widerwille in ihr blieb, aber zeitweise konnte sie ihn vergessen, ja es gab Momente, wo sie eine Art Wohlgefallen an dem kräftigen jungen Manne empfand – ein ihr selbst unbegreifliches und ganz neuartiges Wohlgefallen. Sie empörte sich oft genug dagegen, aber es kam wieder. Und so geschah es, daß sie bald recht freundlich, ja lieb zu ihm sein konnte und bald wieder recht unangenehm, abstoßend, fast gehässig.

Dieser schwankende Zustand blieb, genau wie jenes erste Mal, nicht ohne Folgen auf Henrys Stimmung. Er wurde leicht gereizt (doch nicht Berta gegenüber) und konnte schnell auffahren und heftig werden. Es kam schon zu Szenen zwischen ihm und Frau Sanna, die sich aber merkwürdig nachgiebig zeigte. Denn erstens, der Zeitpunkt, daß Henry mündig wurde, kam immer näher heran, und dann: wie hätte sie nicht merken sollen, was in ihm Berta gegenüber vorging? Mußte man da nicht ein Auge zudrücken? Beileibe nicht beide, denn man durfte gerade jetzt um Gottes willen es nicht an Wachsamkeit fehlen lassen, – aber eins, – o ja!

Indessen wurde Henrys Launenhaftigkeit dadurch nur immer schlimmer. Er fühlte wohl, daß der Gegendruck schwächer wurde, und er war sich ganz klar darüber, womit das zusammenhing: Die Stunde der Abrechnung nahte heran. Der Abscheu gegen Onkel Jeremias und Tante Sanna, der sich während seiner Katechismusperiode etwas gesetzt hatte, war, obwohl Henry sich weiterhin gut zu verstellen wußte, längst wieder mächtig in ihm geworden, und seine Empfindungen für Berta taten ihm keinen Abbruch. Er wußte es ja, daß sie selbst, gleich ihrem Bruder, ganz ähnliche Gefühle gegen die Eltern hegte.

O nein: den beiden Gefängniswärtern sollte nichts geschenkt werden, und sie sollten schon jetzt manchmal kleine Abschlagszahlungen erhalten. Henry sah wahrhaftig keinen Grund ein, warum er sich ihnen gegenüber mehr menagieren sollte, als gegenüber allen anderen, die er es auch von Zeit zu Zeit fühlen ließ, daß der Umgang mit einem zukünftigen Kapitalisten nicht immer lieblich ist.

Er war auch längst nicht mehr so peinlich darauf bedacht, zu verhehlen, daß er a conto seiner Erbschaft sich dies und jenes leistete, das aus dem Rahmen der Krakerschen Lebensführung fiel. Mit bunten seidenen Krawatten fings an, die er ganz offen zur Schau trug, obwohl er sein Taschengeld weiterhin der Inneren Mission zur Verfügung stellte. Dann kamen hohe Kragen hinzu, dann steife Hüte, dann ein Spazierstock mit silberner Krücke, helle, sehr oft erneuerte Glacéhandschuhe und dergleichen Greuel der Weltlust mehr. Henry konstatierte mit innigem Vergnügen, daß Onkel und Tante diese Symptome heimlichen Kreditgenusses wohl bemerkten, aber nur mit sauren Gesichtern darauf reagierten, ohne Einspruch zu erheben. Sie ließen es auch geschehen, daß er die freien Nachmittage in der Woche und die halben Sonntage außerhalb des Hauses verbrachte. Nur die Kirche hätte er nicht schwänzen dürfen, aber dazu fühlte er auch keine Neigung, denn er besuchte sie an der Seite Bertas, und es war seiner Eitelkeit ein hoher Genuß, neben der schönen jungen Dame, deren Erscheinung überall Aufsehen erregte, zum Tempel des Herrn zu wallen und dort eng neben ihr zu sitzen. Auch konnte man dort so angenehm heimlich flüstern und Blicke des Einverständnisses über das törichte Gebaren mancher Frommen austauschen.

Berta selbst zeigte sich bei diesen Gelegenheiten auch ganz gerne mit Henry. Fing die verehrungsvolle Untertänigkeit des Vetters schon selbst an, ihr schmeichlerisch wohlzutun, so genoß sie den offensichtlichen Neid ihrer Freundinnen auf die Begleitung des stattlichen und nun auch etwas eleganten jungen Mannes mit unverstelltem Behagen, um so mehr, als es bereits an spitzigen Bemerkungen und Fragen nicht fehlte, die ebensosehr auf Henrys Millionen, wie auf das interessante Problem einer Verlobung von Cousin und Cousine zielten.

Einstweilen wies sie selbst den Gedanken zwar noch ganz bestimmt von sich, aber er stellte sich doch bereits mit großer Regelmäßigkeit immer wieder ein.

Ein ungewisses und in seiner Ungewißheit bald qualvolles, bald seltsam wonniges Gefühl gewann Macht über sie. Daß das nicht »Liebe« war, glaubte sie zu wissen, und sie sagte sich immer wieder, daß es dies auch durchaus nicht sein dürfe, denn sie wollte, nein, wollte keinen Mann lieben, so gewiß sie wußte, daß Karl nie eine Frau lieben werde. Sie und Karl wollten beisammen bleiben. Sie brauchte diese alberne Liebe nicht, die ihr Karl als etwas schauderhaft Gewöhnliches, ja Gemeines verächtlich gemacht hatte. Und gar eine Liebe zu diesem ungebildeten Tölpel, diesem leeren Schwätzer, der nichts war, nichts wußte, nichts empfand, als was ihm Karl eingeprägt hatte, – pfui! Sie haßte ihn ja! Sein Gerede bereitete ihr Übelkeit. Irgendeine Bewegung an ihm, ein Ton in seinen Worten, die Art, wie er sie manchmal ansah, konnte ihr direkt widerlich sein. Und dennoch: zuweilen war ihr so wohl in seiner Anwesenheit, so lebendig wohl, so drängend, so heiß. Sie mußte ihn dann groß ansehen und konnte nicht anders, als sehr freundlich zu ihm sein. Ja, sie hätte ihn berühren mögen oder wenigstens ganz nahe zu ihm hinrücken.

Auch Bertas Stimmung fing bei diesem schwankenden Gemütszustande an, die im Krakerschen Hause fast immer von den Eltern glücklich durchgeführte, von den Kindern aber unbedingt verlangte Gleichmäßigkeit vermissen zu lassen. Herr Jeremias wiederholte mit Dringlichkeit die schon früher ein paarmal geäußerte Meinung, es sei hoch an der Zeit, das Mädchen in eine christliche Pension der französischen Schweiz zu schicken, wo der Geist Calvins Gewähr dafür leistete, daß mit den feinen Manieren und einem besser ausgesprochenen Französisch nicht zugleich schändliche Ideen eingesaugt würden. Aber Frau Sanna erklärte, daß der Zeitpunkt dafür erst dann gekommen sein werde, wenn auch Henry das Haus verlasse, denn es sei offenbar, daß Bertas Einfluß auf ihn, der jetzt bedenkliche Neigungen zu Zerstreuungen außer dem Hause an den Tag lege, sehr heilsam und keineswegs zu entbehren sei.

Das Haupt der Familie Kraker wußte wohl, daß bei so bestimmt vorgebrachten Überzeugungen seiner Frau ein Löken wider den Stachel keine Aussicht auf wünschenswerte Effekte habe, und so unterwarf er sich löblich.


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