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Reine Jungfrau, ewig schöne,
Da ich aus dem Schlaf erwachte,
Friedrich Rückert, Muttersprache. |
Im Jahre 1870, einige Monate vor Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich, wurde zu Mülhausen im Elsaß eine Zeitung gegründet. Sie hieß »Der souveräne Wahlmann« und erschien auf deutsch. Die Wahl der Sprache wurde in einer der ersten Nummern damit gerechtfertigt, daß »die Mehrheit, und zwar die überwiegende Mehrheit des elsässischen Volkes deutsch denkt, deutsch fühlt, deutsch spricht, deutschen Religionsunterricht erhält, nach deutscher Sitte leibt und lebt und die deutsche Sprache nicht vergessen will«. Die Zeitung setzte sodann hinzu: »Viele, wir wissen es, reden, lesen und schreiben französisch, und das ist recht und schön. Allein dieselben, die im Französischen geübt sind, denken, husten und sprechen dennoch deutsch und deshalb kommen wir zu ihnen und sprechen die Sprache ihrer Mütter, die Sprache ihrer Kindheit, die Sprache, in der sie ihre Kinder liebkosen und erziehen, ihre Frauen herzen und ihre sterbenden Eltern trösten.«
Diese Worte wurden niedergeschrieben, als Elsaß-Lothringen noch unter französischer Herrschaft stand. Sie legen deshalb ein völlig einwandfreies Zeugnis dafür ab, daß die Bewohner dieses Landes »in ihrer überwiegenden Mehrheit« auch damals nicht nur sich auf deutsch verständigten, sondern daß sie in Gefühl und Sitte Mitglieder der deutschen Kulturgemeinschaft waren. Diese Herrschaft der deutschen Sprache aber fand naturgemäß ihren stärksten Ausdruck im literarischen Schaffen des Landes. Es hat, trotz der zahlreichen französischen Schulen und des französischen Druckes, nicht einen einzigen Dichter französischer Zunge hervorgebracht. Und Erckmann, dessen Prosa das Elsaß im französischen Schrifttum so gut wie ausschließlich vertritt, arbeitete nicht nur zusammen mit Chatrian, sondern seine Werke erhielten – nach dem Urteil der Elsässer selbst – ihren wirklichen Gefühlston erst dadurch, daß man sie in die Sprache zurückübersetzte, in der sie gedacht waren: in ein Deutsch mit »elsasserdietschen« Anklängen.
Dagegen hat das elsaß-lothringische Land dem deutschen Schrifttum zahllose Dichter geschenkt, von denen mehrere zu den größten ihrer Zeit und ihres Volkes gehören. Schon im neunten Jahrhundert, um das Jahr 868, schrieb der elsässische Mönch Otfried im Kloster zu Weißenburg seine Evangelienharmonie Der Christ, deren deutsche Verse zu den ältesten und schönsten Denkmälern deutscher Sprache und deutscher Dichtung gehören. Einige Jahrhunderte später ist es der Elsässer Gottfried von Straßburg, der als Ebenbürtiger neben dem großen Bayern Wolfram von Eschenbach steht. Und als dann, wieder einige Jahrhunderte später, Elsaß-Lothringen gewaltsam vom deutschen Mutterstamme losgerissen wurde, da quoll in dem Schrifttum dieses Landes die deutsche Überlieferung ungetrübt und vollsaftig weiter, wie das Beispiel Pfeffels, des ersten in der vorliegenden Sammlung berücksichtigten elsässischen Dichters, beweist. Im neunzehnten Jahrhundert nahmen die Franzosen dann planmäßig den Kampf gegen »l'hydre du germanisme« in dem Lande auf. Der Jugend wurde der schriftgemäße Unterricht in ihrer seit mehr als einem Jahrtausend dem Lande vertrauten Muttersprache verkümmert. Statt dessen versuchte man, ihr eine fremde Sprache, das Französische, anzugewöhnen. Aber trotz allen Druckes und trotz aller sonstigen Romanisierungsmittel vergaß das Land seine deutsche Sprache nicht. Wenn seine Bewohner Verse schrieben, wenn sie den innersten Gefühlen ihres Herzens Ausdruck geben wollten, so taten sie es auf deutsch. Offiziere in französischer Uniform legten ihre Todesahnungen auf dem Wege nach Sebastopol zur Zeit des Krimkrieges in deutschen Versen nieder. In Afrika oder in der französischen Provinz als Lehrer angestellte oder im Heeresdienste stehende Elsässer verfaßten im stillen deutsche Verse. Und mitten im Treiben des Pariser Lebens wurden von Elsässern geistliche Lieder auf deutsch geschrieben, weil die Elsässer eben nur auf deutsch zu beten und zu denken gewohnt waren.
Das Deutsche hatten sie nicht vergessen und das äußerlich angelernte Französisch war nicht die Sprache ihres Herzens und ihrer Dichtung geworden. Aber alle Elsaß-Lothringer mit dichterischen Neigungen empfanden die Vernachlässigung ihrer Muttersprache als einen quälenden Mangel. Sie fühlten, was man ihnen genommen hatte, als man ihnen den Unterricht im schriftgemäßen Deutsch entzog. Sie hatten das niederdrückende Bewußtsein, nur unvollständige, halbe Menschen zu sein, und sie gaben dem entweder im Tone hoffnungsloser Ergebung oder offener Auflehnung Ausdruck, wie die Gedichte aus dieser Zeit in der nachstehenden Sammlung beweisen. Damals gab es eine elsaß-lothringische Frage. Und die elsaß-lothringischen Dichter mußten sich mit ihr auseinandersetzen, da sie unter ihr unmittelbar und schwer zu leiden hatten.
Diese elsaß-lothringische Frage verschwindet aus den Dichtungen des Landes an demselben Tage, an dem die ersten wieder auf deutschen Schulen erzogenen Elsässer und Lothringer in das deutsche Schrifttum eintreten. Sie wissen nichts mehr von der Zerrissenheit ihrer Väter, sondern in ihren Versen jubelt jene leidenschaftliche Lebensbejahung und jener stürmische Lebensdrang, der schon einige Jahrhunderte vorher gerade in der Dichtung ihres Heimatlandes zu Hause gewesen war. Sie wurden vom Schwunge ihrer aller Bande befreiten Muttersprache mitgerissen und es kann nicht als Zufall bezeichnet werden, daß unter den jüngeren deutschen Dichtern bekannten Namens die Zahl der Elsässer denen aus anderen Teilen Deutschlands weit voransteht. Als dann aber im Jahre 1914 der große Weltenbrand ausbrach, da waren es gerade diese jungen Elsässer, die ergreifende Worte schlichter, verinnerlichter deutscher Vaterlandsliebe fanden, wie gleichfalls aus der vorliegenden Sammlung hervorgeht. Und indem diese Dichter ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Vaterlande in der Sprache Ausdruck gaben, in der das Volk Elsaß-Lothringens von je seine Kinder liebkost, seine Frauen geherzt und seine sterbenden Eltern getröstet hat, indem sie sich ohne jeden Nebengedanken als Glieder des deutschen Volkes empfanden, haben sie als Sprecher ihres ganzen Stammes einen nicht mißzuachtenden Beitrag zu der Lösung der jetzt von unseren Feinden aufgeworfenen Frage geliefert, wohin Elsaß-Lothringen innerlich gehört.