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Tartarin hatte eine äußerst wichtige Verhandlung mit den Deutschen. Einer seiner Spione hatte festgestellt, daß die Reichswehr mit Feldflaschen ausgerüstet war. Das durfte nicht sein. Feldflaschen waren ein sicheres Zeichen von Angriffsabsichten, die Deutschen durften aber ihr Heer nur zur Verteidigung halten.
Von deutscher Seite wandte man ein, daß der Mann auch bei der Verteidigung Durst bekommen könnte. Die Franzosen ließen das nicht gelten. Was verteidigte man denn? Städte oder Dörfer. Überall gab es Brunnen oder Wasserleitungen, da brauchte der Soldat keinen Trunk mitzunehmen, den brauchte er nur für längere Märsche, also zum Angriff.
Die schwierige Frage war trotz verschiedener Roten nicht geschlichtet. Eine Sitzung wurde daher anberaumt, zu der beide Teile Vertreter entsendeten. Die Deutschen waren als die Wirte zuerst zur Stelle, einer von ihnen setzte sich dreist an die Spitze des Verhandlungstisches. Aber Tartarin protestierte gegen die Anmaßung.
»Nie und nimmer lasse ich mir den Vorsitz eines Deutschen gefallen.«
Man wies ihn darauf hin, daß dem Land, in dem eine Sitzung stattfinde, nach diplomatischer Gepflogenheit der Vorsitz gebühre. Es machte auf ihn keinen Eindruck.
»Kein Franzose wird diese Schmach dulden. Unter deutschem Vorsitz! Sagen wir lieber in deutscher Sklaverei. Meine Herren, reden Sie, was sie wollen, Sie werden es nicht erleben, daß ich Frankreichs Würde mit Füßen trete. Als Sieger habe ich das Recht des Vorsitzes, ich ganz allein!«
Doch die Überhebung der Deutschen war nicht zu brechen. Sie verharrten bei ihrem Anspruch, und da Tartarin ihrem lächerlichen Verlangen nicht nachgab, brachen sie die Verhandlungen ab, noch ehe sie begonnen hatten. Neue Noten über ein neues Thema mußten geschrieben werden.
Tartarin kannte den geheimen Grund der deutschen Widersetzlichkeit, sie rechneten auf ihr russisches Bündnis. Wenn sie gewußt hätten, daß ihr Geheimnis längst verraten war! Der Held hätte nur ein Wort zu sagen brauchen, und zerschmettert wäre ihr Stolz zusammengeknickt. Aber er hütete sich! Er genoß seinen Triumph im stillen. Das Geheimnis ließ sich an anderer Stelle wirksamer verwenden.
Der Hauptmann Pomerol bewunderte die Langmut seines Vorgesetzten.
»Warten Sie nur, mein Lieber, die deutsche Anmaßung wird ihre Strafe finden, gerade wenn sie am höchsten gestiegen ist.«
»Ich beuge mich vor Ihrer Weisheit, mein Oberstleutnant.« Der Hauptmann begriff den Sinn des Prophetenwortes nicht. Er sah nur, daß der Übermut der Deutschen immer höher stieg.
Selbst die französische Fahne war in Berlin nicht mehr sicher. Von dem Dach der Botschaft wurde sie heruntergeholt. Es war ein Skandal, ein unerhörter Bruch des Gastrechtes, wie er nur unter deutschen Barbaren möglich war!
Selbstverständlich forderte man in energischster Weise Genugtuung. Die Flagge mußte wieder feierlich gehißt werden, die Minister stammelten die demütigsten Entschuldigungen, und ein ganzes Bataillon, also ein großer Teil der Kriegsmacht, die man den Deutschen leider gelassen hatte, wurde aufgeboten, um die gerettete Trikolore zu begrüßen.
Es war ein erhebendes Schauspiel. Der Hauptmann Pomerol konnte sich vor Begeisterung kaum fassen.
»Es lebe Frankreich! Es lebe die Republik!« rief er ein über das anderemal. Die andern stimmten ein, nur Tartarin blieb ernst. Er sah tiefer als seine Genossen.
»Lassen wir uns durch dieses Schauspiel nicht täuschen, meine Herren. Ich sage Ihnen, diese Minister, die da mit abgezogenem Hut stehen, rüsten heimlich gegen uns, die Soldaten warten nur auf den Augenblick, um im Bunde mit Rußland ihre Gewehre auf uns zu richten.«
»Im Bunde mit Rußland?«
»Sie werden sehen.« Mehr sagte Tartarin nicht. Die Stunde seines Triumphes war noch nicht gekommen. Es genügte dem Helden, daß er auf seinem Posten stand und für Frankreich wachte. Oh, er kannte die Listen und Anschläge der Feinde!
Aber man kannte sie jetzt auch an anderer Stelle. Die Enthüllungen des Doktors wirkten in Paris und wirkten in London. Tartarins Gönner, der allmächtige Deputierte, verhandelte mit den Engländern. Man hatte Frankreichs starken Mann zu dieser Aufgabe berufen. Die Rettung des Landes konnte in keine bessere Hand gelegt werden.
»Mit dem deutsch-russischen Aufmarschplan,« ließ er Tartarin sagen, »schlage ich alle Angriffe der Engländer aus dem Felde. Die Kontrollkommission hat gezeigt, was sie leisten kann, und bewiesen, daß sie eine Notwendigkeit ist. Sie muß erhalten bleiben. Seien Sie guten Mutes.«
Tartarin war guten Muts, aber er kannte die Unsicherheit der Politik. Er wußte, daß die Welt Frankreich den Sieg mißgönnte. Es waren Tage ernster Sorge für ihn und seine Genossen. Handelte es sich doch um ihre ganze Existenz. Die edlen Männer fühlten, daß sie ihrem Vaterland in Berlin die besten Dienste erweisen konnten. Wie Löwen kämpften sie für ihr Amt.
In banger Erwartung verstrichen die Tage. Heute mußte die Entscheidung fallen. Der Doktor reiste nach Wiesbaden. Der Boden in Berlin wurde ihm zu heiß. Die Kusine blieb zurück.
»Ich bin allein,« sagte sie zu Tartarin mit einem verschämten Augenaufschlag, »ganz allein.«
Der Held kannte die Bedeutung des Augenaufschlags. Aber die Verführung besaß keine Macht über ihn. Sein Herz galt dem Vaterland und seiner Pflicht. Er rührte sich nicht aus seinem Hotel, er wartete auf das Telegramm des Gönners, von dem das Wohl und Wehe der Welt abhing.
Es wurde Abend, es kam nicht. Der Held legte sich zu Bett, aber schlafen konnte er nicht, er war zu erregt. Wenn die Kontrollkommissionen doch aufgehoben wurden, dann kamen die Russen, die Deutschen und wer weiß, was es noch für Völkerschaften in Europa gab, von denen Tartarin nie etwas gehört hatte, und marschierten in Frankreich ein. Es war entsetzlich, aber noch entsetzlicher war sein eigenes Schicksal. Dann mußte er wieder nach Tarascon ziehen, dann war seine Heldenlaufbahn zu Ende! Armes Frankreich!
Das konnte nicht der Wille des Schicksals sein, und er war es nicht. Schritte ertönten auf dem Gang, es klopfte an Tartarins Tür, der Depeschenbote trat ein. Der Held wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, man denke, Tartarin einem Deutschen!
Er riß das Telegramm auf. »Gerettet!« Er schwang das Stück Papier triumphierend wie eine Fahne. »Es lebe Frankreich!«
Der Zimmernachbar wurde durch den Ruf geweckt. Er klopfte wütend an die Türe. Tartarin lachte, und mit noch stärkerer Stimme brüllte er: »Es lebe Frankreich!« Was ging ihn der Boche nebenan an?
Aber die Genossen mußten es wissen. Tartarin ließ sich keine Zeit, Toilette zu machen. In Hemd und Unterhosen stürzte er über den Hotelkorridor in das Zimmer des Obersten Giffard.
»Wir sind gerettet. Die Kontrollkommission bleibt!«
Die beiden Helden lagen sich in den Armen, sie weinten vor edler Rührung. Auch die andern wurden geweckt, der Hauptmann, der Leutnant Duval und Fräulein Georgette. Sie umarmten, küßten und gratulierten sich gegenseitig. Jeder hatte das Bedürfnis, Fräulein Georgette ans Herz zu drücken, obgleich sie nur mit einem Nachthemd bekleidet war. Die patriotische Begeisterung verlangte nach einem Ausdruck. Der Leutnant tanzte mit ihr einen Cancan. Ihr einziges Kleidungsstück wirbelte hoch empor, aber das verminderte die Stimmung nicht.
Am andern Morgen waren die Mitglieder der Kontrollkommission so früh und so vollzählig auf dem Bureau versammelt wie nie zuvor. Die Arbeitslust war kaum zu bändigen. Strahlende Gesichter erwarteten den General. Auch er geruhte zu lächeln.
»Ich sehe, meine Herren, Sie kennen die Freudenbotschaft schon. Castelin, haben Sie einen Vertrauensbruch begangen?«
Der Adjutant verneinte. Tartarin trat mit dem ihm eigenen Mute der Verantwortung vor. »Ich erhielt heute Nacht ein Privattelegramm meines Gönners.«
Es fehlte nicht viel, und die Herren hätten bei Erwähnung des großen Mannes salutiert. So geehrt und beliebt war er.
»Ach so, Sie, lieber Tartarin. Nun, Ihnen kam es zu, die gute Nachricht als erster zu verkünden. Ihnen verdanken wir den Erfolg in erster Linie. Ich danke Ihnen im Namen des Vaterlandes.«
»Heil, Tartarin, Heil!«
Der Held war gerührt. »Mein General … meine Freunde … Frankreich … gerettet,« war alles, was er sagen konnte. Aber es war genug.
»Ja meine Freunde, die Kontrollkommission bleibt erhalten,« fuhr der General fort und mit seinem feinsten Lächeln fügte er hinzu: »Noch eine Freude kann ich Ihnen machen. Unsere armseligen Gehälter sind endlich erhöht.«
Alle spitzten die Ohren und lauschten mit verhaltenem Atem.
»Sie, Herr Oberstleutnant, erhalten künftig statt 35 000 Mark monatlich 229 000 Mark, Ihr Gehalt, Herr Leutnant, ist unbegreiflicher Weise kaum mehr als vervierfacht worden.«
Daß er selber mehr als 300 000 Mark monatlich bekam, verschwieg der General. Es hätte vielleicht die Freude seiner Untergebenen gestört. Und das wollte er nicht.
Alle waren glücklich, selbst der Leutnant, obgleich er schlecht weggekommen war. Er besaß den vollen Idealismus der französischen Jugend.
Der Hauptmann rieb sich die Hände. Nun konnte er heiraten. »Aber was werden die Deutschen dazu sagen?«
»Die Deutschen?« Tartarin lachte vergnügt. »Ja, was werden die sagen? Sie werden sich ärgern, aber sie werden bezahlen. Und das ist die Hauptsache!«