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Die furchtbare Erfindung

Tartarin war weder der Trinkfähigkeit des Doktors noch der Liebesglut seiner Kusine gewachsen. Er wachte am nächsten Morgen sehr spät mit schrecklichen Kopfschmerzen und um mehrere tausend Mark ärmer auf. Über das Geld tröstete er sich leicht, es war ja nicht sein Geld, aber die Kopfschmerzen waren seine Kopfschmerzen. Vergebens tauchte er gegen seine Gewohnheit, gegen die Gewohnheit jedes echten Franzosen sein schweres Haupt mehrmals in die Waschschüssel, es wurde nicht besser.

»Ich leide für Frankreich, ich habe mich für das Vaterland geopfert!« sagte er sich, aber selbst dieser erhebende Gedanke verschaffte ihm keine Linderung. »Ich hätte nicht so viel trinken sollen. Die Deutschen sind daran gewöhnt, es ist das einzige, was sie besser können als wir.« Dann dachte er an die Kusine. Wenn Frl. Georgette etwas davon erfuhr, es war nicht auszudenken! Vor ihr graute ihm noch mehr als vor der Eifersucht des Doktors. Er war doch nur ein Deutscher, wenn er auch Frankreich liebte und mehr Burgunder trinken konnte als der stärkste Franzose!

Tartarin legte die Hand auf seinen schmerzenden Kopf. Der Erfolg war teuer erkauft. Er faltete das Schriftstück des Doktors auseinander. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, aber es war doch deutlich zu lesen; der erste Beamte des deutschen Reiches forderte seine Ministerkollegen auf, den Revanchekrieg mit allen Mitteln vorzubereiten. Es war unerhört. Das war Material für den General!

Der Held triumphierte trotz seines Jammers. Aber er war nicht nur äußerlich Diplomat geworden. Die Deutschen hatten ihn in Drachenheim einmal hineingelegt, das durfte nicht wieder geschehen. Ehe er die Urkunde aus der Hand gab, mußte er Sicherheit über den Doktor haben. Er hatte ihm erzählt, daß er der polnischen Gesandtschaft gut bekannt sei. Tartarin bat den polnischen Militärattaché zu sich.

Als höflicher Franzose, als Bürger des höflichsten Volkes der Welt, besaß er drei Arten, fremde Vertreter zu empfangen. Denen der Großmächte ging er bis an die Türe entgegen, vor denen der kleineren Staaten erhob er sich und vor den deutschen blieb er sitzen. Der Pole mußte sich mit dem zweiten Grad begnügen, aber er war schon beglückt, daß er von einem Franzosen empfangen wurde und einem Helden wie Tartarin die Hand drücken durfte. So viel Herablassung glaubte dieser der befreundeten Nation schuldig zu sein, aber auch nicht mehr. Der Abstand mußte gewahrt werden. Der Pole begriff das, er wartete mit der seiner Nation eigenen Bescheidenheit, bis Tartarin ihn anredete. Erst dann brach sein Wortschwall los:

»O mein edler und großer Gönner, es geht uns schlecht. Wir machen keine Fortschritte in Oberschlesien. Die Leute wollen von uns nichts wissen. Wir müssen einen neuen Aufstand erregen. Können wir uns auf die Gunst des erhabenen Frankreichs verlassen?«

Tartarin hatte heute andere Sorgen. »Macht so viel Aufstände, wie ihr wollt. Ihr wißt, Frankreich verläßt seine Freunde nicht. Auf ein paar tote Deutsche kommt es nicht an, auch einige Italiener könnt ihr abschießen, aber hütet euch vor den Engländern. Verdient haben sie es zwar, die Schufte, aber sie sind …«

»Verkappte Deutsche,« wagte der Pole seinen großen Freund zu unterbrechen, »elende Verräter an der heiligen Sache Polens! Denken Sie sich, mein erhabener Gönner, sie unterhandeln mit den Deutschen wegen eines Bündnisses.«

»Diese Halunken! Was sagen Sie?«

»Ich habe den Vertragsentwurf selber gesehen. Mit eigenen Augen, wie ich Sie vor mir sehe.«

»Unmöglich!« Tiefes Entsetzen malte sich auf Tartarins Angesicht.

»Wir Polen haben keine Geheimnisse vor Frankreich. Ein edler Mann gab mir die Gelegenheit, ein Freund des Friedens, ein Freund Polens.«

»Dr. Bamberg?«

Jetzt staunte der Pole. »Sie kennen ihn?«

Tartarin genoß seinen Triumph. »Oh, wir sind auch wachsam. Wir lassen uns nicht übertölpeln. Niemals!«

»Niemals!« stimmte der edle Pole ein. Begeistert drückten sich beide die Hände.

»Auch mir hat Dr. Bamberg die wichtigsten Nachrichten vermittelt. Kann man ihm vertrauen?«

»Wie seinem eigenen Vater. Freilich will es sein Unglück, daß er ein Deutscher ist. Aber er hat es nicht verdient. Ein Mann von den größten Verdiensten und dem größten Einfluß. Ein Verehrer Polens.«

»Ein Verehrer Frankreichs sagte er mir.«

Die Freunde sahen sich überrascht an. Sollte es zwischen ihnen zu einem Wettstreit um die Liebe des Doktors kommen? Zu einem Konflikt zwischen den Bundesgenossen? Tartarin mit seiner überlegenen Einsicht fand die Lösung des Rätsels.

»Wer Frankreich liebt, liebt auch Polen.«

»So ist es. Wir sind unzertrennlich. Durch seine Kusine weiß der Doktor alles. Sie war die Geliebte …« Der Pole flüsterte Tartarin etwas ins Ohr, doch dessen Überraschung war so groß, daß er losplatzte:

»Des Königs von England! …«

»Pst, pst! Man darf es nicht laut sagen. Ja, vor dem Krieg. Aber er kann sie nicht vergessen. Er schreibt ihr noch heute.«

»Jetzt ist sie die Maitresse des Reichspräsidenten geworden. Natürlich nur aus politischen Gründen, denn sie haßt alle Deutschen.«

Die Geliebte eines Königs, eines Präsidenten und jetzt die Geliebte Tartarins! Ein beglücktes Lächeln zog über die Züge des Helden. Er hatte kein Reich, keine Millionen zu vergeben, aber er war Franzose! Das genügte, um schon am ersten Abend dieses stolze Frauenherz zu bezwingen. Ich kam, ich sah, ich siegte, hätte er mit Cäsar gesprochen, wenn er von Cäsar auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte. Wie gern hätte er dem Polen sein Geheimnis anvertraut, aber die Ehre einer so hochstehenden Dame durfte er nicht preisgeben.

»Ich kenne sie, eine hochachtbare Frau,« war alles, was er in seiner edeln Zurückhaltung sagte. Der Pole stimmte ihm bei. Auch nach seiner Ansicht verdiente die Geliebte des Präsidenten die höchste Achtung, ja diese Achtung steigerte sich mit jeder neuen Liebschaft.

Die Bundesgenossen waren darin ganz einig. Tartarin kam wieder auf die Politik.

»Mein verehrter Herr Kamerad, wissen Sie, daß die Deutschen einen neuen Krieg vorbereiten?«

Der Pole machte eine verächtliche Handbewegung. »Mögen sie. Wir Polen kennen keine Furcht.«

»Wir Franzosen noch weniger, aber wir lieben den Frieden, wir wollen, daß die Völker nach dem Vertrag von Versailles einträchtig beieinander leben.« Tartarin schlug auf seine Brusttasche. »Hier habe ich den Beweis, daß die deutschen Minister die schlimmsten Kriegsreden halten. Außerdem haben sie 64 000 Mann mehr unter Waffen, als ihnen zugebilligt sind. Was sagen Sie dazu?«

Der andere lachte. »64 000! Was sind 64 000 Deutsche? Wir werden ihnen 100 000, 600 000, ja 6 Millionen polnische Helden entgegenstellen. Wir werden sie vernichten, zermalmen, zerquetschen.«

»Ich kenne den Mut der Polen.«

»Und ich den der Franzosen.«

»Frankreich und Polen beherrschen Europa. Aber gerade darum müssen wir auf der Hut sein.«

»Nicht vor den deutschen Truppen, aber …« Das Gesicht des Polen wurde plötzlich ernst. Etwas Schreckliches fiel ihm ein.

»Aber?« wiederholte Tartarin. Mit dem durchdringenden Geist seiner Nation hatte er sofort den Ernst der Lage erfaßt. »Aber …«

»Sie haben eine Erfindung gemacht, eine entsetzliche Erfindung, die uns vernichten kann.« Das edle Antlitz des Polen erbleichte bei dem Gedanken an die deutsche Erfindung. Auch Tartarins Herz klopfte hörbarer, aber wie immer bewahrte der Held in der Gefahr seine Fassung.

»Sagen Sie mir alles. Ich bin ein Mann, der das Schrecklichste hören kann, ohne mit der Wimper zu zucken. Was ist es?«

»Ein Fernzünder, der elektrische Wellen aussendet, die jedes Munitionslager auf eine Entfernung von Hunderten, vielleicht Tausenden von Kilometern in Brand stecken. Denken Sie sich, unsere Munition in Nancy, in Warschau, vielleicht sogar in Paris wird auffliegen. Unsere Soldaten werden wehrlos in den Krieg ziehen, sie werden keinen Schuß abgeben können.«

Es war entsetzlich. Die beiden Helden starrten sich verzweifelt an.

»Und keine Rettung?« murmelte Tartarin düster.

»Doch eine schwache Hoffnung besteht. Der Erfinder verlangt, wie mir Dr. Bamberg erzählt, eine ungeheure Summe. Die deutsche Regierung hat kein Geld, sie hat auch keine Gelegenheit, die Maschine aufzustellen, die so groß wie ein Kirchturm ist.«

»Sie soll auch keine haben. Wir in der Kontrollkommission werden darüber wachen.« Tartarin wurde energisch. »Aber man muß vorbeugen. Wer weiß, ob man den Apparat nicht unterirdisch anlegen kann? Kennt der Doktor den Erfinder?«

»Er hofft ihn zu ermitteln.«

»Er muß ihn ermitteln Mein verehrter Herr Kamerad, wir müssen die Erfindung oder den Erfinder haben. Am besten beide. Tot oder lebendig!«

Tartarin richtete sich stolz in der ganzen Fülle seines Bauches auf »Der Friede Europas ist in Gefahr, die Vorherrschaft der lateinischen Rasse …«

»Die polnische Kultur …«

»Es gibt nur ein Mittel, sie zu erhalten, man muß es den Deutschen unmöglich machen, je wieder etwas zu erfinden Aber wie? … Die Kontrollkommission muß ein Mittel finden.«


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