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Berlin triumphierte, Drachenheim trauerte. Es sollte das Beste verlieren, was es besaß, Tartarin war abberufen. Zwar die Deutschen ahnten die Größe des drohenden Verlustes nicht. Wie hätten sie Verständnis für den Wert dieses großen Franzosen haben können, der monatelang in ihrer Mitte geweilt und sie gerecht und streng wie ein Vater geleitet hatte? Aber die Franzosen trauerten ernst und aufrichtig mit der ganzen Fülle von Gefühl, die der großen und edlen Nation eigen ist.
Weinend standen die Damen der Garnison auf dem Bahnhof, als Tartarin seine neue Ausfahrt nach der Hauptstadt des Feindes antrat. Selbst die Marokkaner und die Neger weinten. Alle gaben dem Helden, der zum erstenmal die Abzeichen seines neuen Ranges trug, das Geleit. Man drängte sich an ihn, um ihm ein Erinnerungszeichen oder eine kleine Liebesgabe in die Hand zu drücken. Eine sorgsame Freundin übergab ihm einen wollenen Schal, denn es sei bitter kalt in dem nördlichen Berlin, eine andere Dame ein Bündchen Knoblauch, denn man wußte, daß dieses edle französische Nationalgewächs in Deutschland nicht gedieh.
»Nehmen Sie diese Waffe mit, mein alter Freund, es ist ein gut eingeschossener Revolver. Sie werden ihn sicher brauchen können.«
»Nein hier, mein Kommandant … Verzeihung … mein Oberstleutnant, hier ist ein vergifteter afrikanischer Dolch. In Berlin muß man auf alles gefaßt sein.«
Tartarin lächelte. Er nahm es nicht übel, daß man ihn noch als Kommandant anredete. Er lehnte auch die Waffen ab. »Ich fürchte die Deutschen nicht mehr, meine Freunde, ich kenne sie zu gut. Keiner wird sich an mir vergreifen, solange ich diesen treuen, schlachterprobten Gefährten an der Seite trage.«
Dabei schlug er mit der linken Hand an seinen Säbel, überzeugte sich aber gleichzeitig mit der rechten, daß der Revolver in seiner Brusttasche vorhanden war. Auch die gezogene Pistole, von der er sich nie trennte, steckte schußbereit in seiner Hose. Niemand sah die Waffen, aber – Gott sei Dank! – sie waren da.
»Meine Freunde, ich scheide … ich scheide … ich verlasse euch … ich ziehe in die Hauptstadt des Feindes im Dienste Frankreichs …«
Weiter kam er nicht. »Es lebe Frankreich!« riefen alle Anwesenden. Der Ruf übertönte seine Worte. Die Musik fiel ein, und die schwarzen Soldaten gröhlten.
Tartarin war gerührt. Selbst als es wieder stiller wurde, konnte er nicht weiterreden. »Frankreich, Ehre, Vaterland, Wiedersehen und Tod« war alles, was er zu stammeln vermochte.
Der Zug fuhr los. Der Held saß einsam in seinem reservierten Kupee. Die nächste Station bildete die Grenze des besetzten Gebietes. Beim Anblick des letzten Negers wurde er weich, es war ihm, als verlöre er die Heimat für immer. Wann würde er diese edeln schwarzen Züge wiedersehen? Jetzt befand er sich wirklich im Lande der Feinde, außerhalb des Schutzes der französischen Bajonette.
Aber keine Furcht beschlich sein Herz. In der unerschrockenen Haltung des Siegers mit erhobenem Haupt, ein verächtliches Lächeln auf den Lippen, stieg er in Frankfurt um und suchte den Schlafwagen auf.
»Hier, mein General,« wies man ihn demütig zurecht.
»In diesem Wagen soll ich fahren?«
»Jawohl. Der Platz ist für Sie telegraphisch aus Mainz belegt.«
»In diesem Wagen? Mit so vielen Deutschen zusammen? Für französische Offiziere muß ein besonderer Wagen reserviert werden. So steht es im Friedensvertrag.«
»Nur im besetzten Gebiet«, mischte sich der Stationsvorsteher ein.
Tartarin war empört, er spürte die Lücken des schlappen Friedens am eigenen Leibe. Clemenceau hatte unverantwortlich gehandelt. Wie konnte man französischen Offizieren zumuten, daß sie im gleichen Wagen mit den besiegten Deutschen fuhren? Oho, er würde es ihnen schon beibringen, daß er nicht ihresgleichen war. Wütend betrat er sein Schlafkupee und schlug die Tür hinter sich zu.
Er lehnte sich zum Fenster hinaus. Der Zeitungsverkäufer rief seine Ware aus. »Neueste Frankfurter, neueste Pariser Blätter.« Ein Buch erregte durch ein gelbes Umband »Verboten im besetzten Gebiet« Tartarins Aufmerksamkeit. Der Verkäufer pries es ihm an:
»Hochinteressante Neuigkeit: ›Tartarin en Rhénanie‹. Tartarin am Rhein. Von Allemand Daudet. Von der Rheinlandskommission verboten. Lebensbeschreibung eines der größten französischen Feldherren.«
Tartarin kaufte das Buch. Auf dem Deckel war das Bild eines französischen Offiziers, wahrhaftig sein Bild! Das tat ihm wohl, obgleich es das Werk eines Boche war. Er legte sich zu Bett, sobald der Zug abfuhr; der Säbel hing so, daß er ihn erreichen konnte, der Revolver lag neben dem Kopfkissen, die Pistole am Fußende des Lagers. Tartarin fühlte sich so sicher, wie sich ein Franzose unter Deutschen fühlen kann, und er begann zu lesen.
Wahrhaftig, es waren seine eigenen Erlebnisse in Deutschland. Alles genau, wie es sich begeben hatte. Warum war das Buch verboten? Der Verfasser war ja ein Deutscher, aber so verständig wie kaum einer seiner Landsleute. Er sprach mit Bewunderung von Frankreich, mit Bewunderung von Tartarin, er nannte ihn einen Helden, einen großen Krieger, Patrioten und Franzosen. Es war doch schön, selbst von den Feinden anerkannt zu werden. Tartarin nahm sich vor, die Bekanntschaft des Autors zu machen. Er betrachtete ihn als den ersten Deutschen, der Verständnis für die gallische Kultur besaß. »Unsere Arbeit in diesem Barbarenland ist nicht umsonst gewesen. Man sieht, sie kommen allmählich zur Einsicht.« Das Buch befriedigte Tartarin. »Freilich, lange wird es noch dauern, aber wir haben ja Zeit. So bald gehen wir aus Deutschland nicht heraus.«
Unter diesen Gedanken schlummerte er ein. Bald schnarchte er so fest und harmonisch, wie man nur mit dem hohen Bewußtsein des Siegers schnarchen kann. Es übertönte das Rollen der Räder und das Kreischen der Achsen. Die Dame nebenan konnte nicht schlafen, sie pochte an die Verbindungswand, sie beschwerte sich beim Schaffner, er klopfte an die Türe, aber Tartarin ließ sich nicht stören. Er schlief und schnarchte. Hm, hm … hm, hm … mit der Regelmäßigkeit einer gut geölten Maschine. Ob der Zug hielt oder fuhr, er schnarchte. Eine Stunde nach der andern, bis der Morgen graute, bis man sich in der Nähe von Berlin befand.
Die Reisenden erhoben sich. Es war Zeit aufzustehen und sich anzukleiden. Der Schaffner hämmerte jetzt mit beiden Fäusten gegen Tartarins Türe. Vergeblich, er war nicht zu erwecken. Der Mann besaß einen zweiten Drücker zu dem Kupee, er benutzte ihn und rüttelte den Schläfer ziemlich unsanft am Arm.
»Aufstehen! In einer halben Stunde sind wir in Berlin.«
Tartarin wälzte sich herum. Er schlug die Augen auf, er sah den fremden Mann über sich gebeugt.
» Assassin, voleur, au secours!« Er griff nach dem Revolver. Der Schuß ging los, der Schaffner floh, er war unverletzt, ein zweiter und dritter Schuß krachten hinter ihm drein, aber sie trafen nur noch die zugeschlagene Tür.
Die Dame im Nebenkupee, die nicht geschlafen hatte, zog die Notleine. Die Maschine stoppte. Das Zugpersonal eilte nach dem Schlafwagen. Die halbangekleideten Reisenden traten aus den Abteilen.
»Um eines Haares Breite hätte er mich getroffen,« jammerte der Schaffner.
Man öffnete die Tür. Da stand Tartarin, zwar unfrisiert und ungewaschen, aber doch majestätisch, jeder Zoll ein siegreicher Franzose im Nachthemd.
Der Zugführer wollte ein Protokoll aufnehmen. Er hielt eine lange Rede, Tartarin eine noch längere, in der er Clemenceau und Poincaré und alle Schöpfer des Versailler Friedens beschwor. Keiner verstand den andern. Ein Herr spielte den Vermittler.
»Sie müssen doch einsehen, daß Sie nicht schießen durften.«
»Niemand darf in mein Kupee eindringen. Ich bin französischer Offizier, ich bin nur meinen Vorgesetzten Rechenschaft schuldig. Kein Boche hat mir etwas zu sagen.«
Tartarin griff nach seinem Degen, aber in der Enge des Schlafkupees konnte er ihn nicht aus der Scheide kriegen.
»Ich verlange, daß man weiterfährt. Ich muß nach Berlin. Sie sind verpflichtet, mich hinzubringen. Frankreich braucht meine Anwesenheit in Berlin.«
»Sie sollten sich erst anziehen.« Die umstehenden Damen senkten die Blicke zu Boden, denn der Held war noch immer im Nachthemd.
Das Zugpersonal weigerte sich weiterzufahren, wenn Tartarin nicht die Waffen abgäbe.
»Nie und nimmer. Kein französischer Offizier gibt seine Waffen ab.«
»Dann müssen Sie aussteigen.«
» J'y suis, j'y reste.«
Einige Herren suchten zu vermitteln. Vergeblich. Die Beamten fuhren nicht, und Tartarin, der sich unterdessen angezogen hatte, blieb sitzen. Das Publikum wurde ungeduldig, eigentlich mußte man jetzt schon in Berlin sein, die Leute nahmen eine drohende Haltung an.
Tartarin sah, daß die Klugheit der Tapferkeit besserer Teil sei. Was sollte er auch gegen die Übermacht machen? Er erklärte sich bereit, den feindlichen Zug zu verlassen.
Der fuhr davon. Tartarin wurde von dem Stationsvorsteher des kleinen Ortes in Empfang genommen. Er war in der größten Verlegenheit. Was sollte er mit dem fremden Offizier anfangen? Er rief den Gendarm und den Bürgermeister telephonisch herbei. Sie kamen, und mit ihnen die halbe Einwohnerschaft des Städtchens. Sie schlossen einen Kreis um Tartarin. Der Held war oft in Gefahr gewesen, aber niemals in einer größeren. Er, der einzelne, inmitten einer Horde von Deutschen! Er war auf alles gefaßt! Mochten sie kommen, er konnte nicht mehr tun, als für Frankreich sterben.
Aber niemand tat ihm etwas. Am Gegenteil, man zog ihn in den Wartesaal, man setzte Kaffee vor, man gab ihm Brötchen und Eier. Tartarin überwand sich, er nahm das feindliche Frühstück zu sich und gab den Leuten Gelegenheit, seinen gesunden Appetit zu bewundern.
Man hatte den Vorfall nach Berlin gemeldet. Ein Auto fuhr vor mit einem Reichswehroffizier und zwei Soldaten. Er begrüßte Tartarin auf französisch. Der Held erwiderte den Gruß nicht, aber die Laute der Muttersprache gaben ihm alle seine Energie wieder.
»Mein Herr, ich mache Sie, ich mache die Leute hier, ich mache den Schaffner und ganz Deutschland für die unerhörte Kränkung verantwortlich, die man mir zugefügt hat. Frankreich wird blutige Rache nehmen. Seien Sie dessen gewiß.«
»Ich habe den Auftrag, den Herrn Oberstleutnant nach der französischen Botschaft zu bringen!«
»Nach der französischen Botschaft? Gut. Aber wenn mit nur ein Haar gekrümmt wird …« Sie fuhren los. Tartarin saß aufrecht neben dem Feinde. Er sprach kein Wort mit ihm. Das Schweigen fiel ihm schwer, wie es jedem Franzosen schwer fällt, aber er war es seiner Würde schuldig. Er brütete Gift und Galle.
Er hatte sich seinen Einzug in Berlin anders vorgestellt. An der Spitze seiner edeln Senegalesen als Sieger mit Paukenschlag und Fahnen. Statt dessen kam er beinahe wie ein Gefangener, begleitet von preußischen Soldaten! Und nicht mal durch die mittlere Durchfahrt des Brandenburger Tores ging sein Weg, wie es dem Sieger gebührt.
In der Botschaft erwartete man ihn. Auch sein General, der Chef der Kontrollkommission, war mit seinem Stabe gekommen. Tartarin erzählte, er entschädigte sich für die stumme Autofahrt.
»Unerhört!«
»Ungeheuerlich!«
»Ja, meine Herren, das haben diese Deutschen mir zu bieten gewagt, und nun frage ich Sie: Sind wir die Sieger oder die Boches?«
Die Empörung war allgemein. »So etwas einem französischen Offizier!«
»Wir verlangen Sanktionen … die Besetzung des Ruhrgebietes … Abbruch der Beziehungen … Erneuerung des Krieges.«
»Ich werde sofort eine Note an die deutsche Regierung richten,« erklärte der Botschafter.
»Nein, ich werde die Beleidigung meines Offiziers rächen,« entgegnete der General. »Lassen Sie sofort eine Note im schärfsten, nein, im allerschärfsten Ton aufsetzen.«
»Ich bin der Vertreter der Republik,« wandte der Botschafter ein.
»Exzellenz, überlassen Sie das mir. Hier muß der Soldat das Wort ergreifen. Ich selbst werde die Note schreiben.«
»Und ich auch. Ich kann nicht zugeben, daß Frankreichs Ehre mit Füßen getreten wird. Schreiben wir zwei Noten, eine diplomatische und eine militärische.«
»Gut, zwei Noten. Wir werden den Deutschen doppelte Angst einjagen. Wir wollen sehen, welche energischer ausfällt. Ich werde Forderungen stellen … Forderungen …«
»Und ich erst, mein General. Ich verlange eine Sühne für Tartarin …«
»Sühne für Tartarin!« Es fehlte nicht viel, und die Schwerter wären aus der Scheide geflogen.
Tartarin strahlte. Er fühlte sich als der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Er hatte nicht umsonst gelitten. Wenn der Krieg seinetwegen wieder ausbrach, nun, die Deutschen wollten es nicht anders. Die Ehre über alles.