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Tartarin muß helfen

Das Unglück trat ein. Englische und französische Minister trafen sich wieder einmal in einem eleganten Badeort, und die Engländer regten an, die Kontrollkommission aufzulösen.

»Wir müssen unsere Unentbehrlichkeit beweisen,« erklärte der unerschrockene Tartarin den Genossen, »wir selbst müssen unser Schicksal in die Hand nehmen. Wir brauchen Beweise, daß Deutschland noch nicht abgerüstet hat.«

Sie alle gingen an die Arbeit. Waffenfunde wurden in reichlicher Fülle gemacht. Ein übereifriger Student hatte sechs Gewehre versteckt, in der Toilette eines vornehmen Restaurants wurden zwei Handgranaten gefunden, und einem zehnjährigen Kinde nahm man einen richtigen Säbel weg, mit dem es spielte. Gab es einen kräftigeren Beweis für Deutschlands verräterische Absichten, als daß die Knaben schon die Mordwaffen zu handhaben lernten?

Der Fall wurde telegraphisch über die ganze Erde verbreitet. Er hätte dem Blindesten die Augen öffnen müssen, aber sie wollten ja nicht sehen.

Der General buchte jeden dieser Verstöße gegen den Friedensvertrag. Er selbst hatte eine noch viel furchtbarere Entdeckung gemacht. Auf einer Dienstreise von Mainz nach Berlin bemerkte er, daß ganz Deutschland eine einzige große Festung war. Rhein, Weser, Elbe bildeten drei Verteidigungsabschnitte, über die Flüsse führten Brücken, die Brücken waren mit Türmen befestigt, die Türme hatten Schießscharten und die Brückenzugänge schwere eiserne Gitter.

»Denken Sie, meine Herren, diese Raffiniertheit der Deutschen! Sie brauchen nur die Gitter zuzumachen, und kein Franzose kann ihnen etwas tun.«

»Und wir sind hier abgeschnitten,« bemerkte Tartarin. Wie immer übersah er mit einem Blick die ganze Größe der Gefahr. »Der Friedensvertrag verlangt, daß Deutschland jederzeit für unseren Einmarsch offen liegt.«

Die Flüsse mußte man den Deutschen lassen, auch die Brücken konnte man nicht vernichten, sonst hätten ja die Franzosen erst recht nicht kommen können. Aber die Türme … Die Schießscharten mußten zu schönen großen Fenstern erweitert werden. Der General gönnte dem Feinde die Aussicht und den freien Blick in das Land. Und die Gittertore mußten beseitigt werden. Frankreich duldete keine Hindernisse auf der Bahn des europäischen Friedens.

Die Beweise für Deutschlands böse Absichten häuften sich. Jeder Tag brachte dank der unermüdlichen Wachsamkeit der französischen Offiziere neue. Und doch blieb der General skeptisch. Wenn er im Kreise seiner Untergebenen saß, zuckte er die Achseln.

»Das alles wird auf die Engländer keinen Eindruck machen. Meine Herren, wir brauchen mehr.«

»Noch mehr?«

»Wir brauchen Vorfälle, die die deutsche Regierung selber kompromittieren.«

»Sie werden gefunden werden.«

»Sie müssen gefunden werden.«

»Es wird schwer halten.«

»Sehr schwer.« Tartarin war sich der Schwierigkeit voll bewußt. »Die Leute tun ja alles, was wir wollen, sie protestieren, sie schreiben einige Noten, aber sie geben immer nach. Ja, wenn sie Widerstand leisteten …«

»Dann ließe sich viel machen.«

Der Oberst Giffard wollte einen Zwischenfall erregen. »Natürlich einen blutigen Zwischenfall. Es wäre ja entsetzlich, wenn ein Franzose ums Leben käme, aber …«

»Es würde auch nichts helfen.«

Tartarin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Deutschen würden wieder bezahlen und um Entschuldigung bitten. Das Opfer lohnt nicht.«

»Könnte nicht ein Aufstand losbrechen?« fragte der junge Leutnant Duval.

»Daß man uns hier totschlägt?«

»Ich habe mein Leben in drei Weltteilen für Frankreich eingesetzt. Ich bin bereit zu sterben, aber von dem Berliner Pöbel möchte ich nicht ermordet werden.«

»Ich auch nicht. Ich auch nicht!«

»Wir haben die Pflicht, für Frankreich zu leben. Frankreich kann uns nicht entbehren, nicht einen von uns.«

»Nicht einen!« erwiderte der Leutnant voll Begeisterung. »Aber der Aufstand könnte ja in Köln oder Koblenz ausbrechen, bei den Engländern und Amerikanern.«

»Das wäre herrlich! Großartig!«

»Darauf können wir nicht rechnen. Ich bin in Oberschlesien gewesen,« sagte der Hauptmann Pomerol, »was haben wir für Mühe gehabt, bis wir die Deutschen so weit hatten, daß sie losschlugen. Es hat Wochen gedauert, in Köln würden wir ein Jahr brauchen. Diese Hoffnung müssen wir aufgeben.«

»Schade! Der Vorschlag war ausgezeichnet, aber mit den Deutschen ist nichts anzufangen.«

»Man kann ihnen das Gewehr in die Hand drücken, sie schießen nicht los.«

Auch das ging nicht. Die Gesichter der Offiziere wurden immer länger, ihre Mienen immer besorgter. Der Oberst sah sich als Pensionär in Limoges im grauen Zylinder, der Hauptmann dachte an seine Braut, die nun weiter warten mußte, und der Leutnant Duval fluchte im Geiste auf seine Rekruten in Besançon.

Auch der General war traurig. Es war schön in Deutschland, als Diktator, als Herr über 60 Millionen Menschen … Und das sollte nun vorbei sein? Es war zu schmerzlich. Nervös spielte er mit seinem Klemmer.

»Der einzige, der uns noch retten kann, ist unser Freund Tartarin.«

»Ich, mein General?« Aller Augen richteten sich auf den Helden. Er errötete. Seine Bescheidenheit ertrug dieses Übermaß der Anerkennung nicht. »Ich, ein einfacher Soldat?«

»Keine falsche Bescheidenheit. Die Stunde ist zu ernst für Komplimente. – Wir alle sind darin einig, daß wir die Kontrollkommission und daß die Kontrollkommission uns nicht entbehren kann.«

Die Anwesenden nickten zustimmend. Der Leutnant sprang in der Erregung von seinem Sitz auf.

»Bleiben wir ruhig und sachlich,« fuhr der General mit bewegter Stimme fort. »Es muß alles geschehen, daß der augenblickliche Zustand erhalten bleibt.«

»Alles.«

»Die Welt muß von der Notwendigkeit der Kontrollkommission überzeugt werden. – Mein lieber Tartarin, vor einiger Zeit gaben Sie mir einige herrliche Schriftstücke …«

Tartarin errötete. Er dachte an Dr. Bamberg, an die Kusine und die gestörte Liebesnacht. »… darunter den Nachweis, daß die Deutschen 64 000 Mann zu viel halten. Die Dokumente haben mir treffliche Dienste geleistet.«

»Mein General …« Tartarin wollte reden, aber was sollte er auf dieses Lob erwidern? Durfte er sagen, daß die Papiere von einem Fälscher stammten? Die Ehre Frankreichs erlaubte es nicht. Die Enttäuschung konnte er seinem General nicht bereiten. Dieser ließ ihn auch nicht zu Worte kommen.

Seine erhobene Hand gebot Schweigen. »Ich will nicht wissen, woher Sie die Schriftstücke haben. Ich lasse meinen Offizieren die größte Freiheit, und gerade zu Ihnen habe ich unbegrenztes Vertrauen. Es wird Ihnen nicht schwer fallen, etwas ähnliches Gravierendes aus Ihrer Quelle zu erhalten, und dann wird kein Engländer mehr wagen, von der Aufhebung unseres Amtes auch nur zu reden.«

Der Chef drückte Tartarin die Hand. Die Kameraden umringten ihn.

»Sie sind der einzige, der uns retten kann.«

»Retten Sie uns, und Sie retten Frankreich!«

»Tun Sie es, alter Freund. Wir werden Ihnen ewig dankbar sein.«

»Frankreich wird Sie …«

Es war vielleicht der größte Moment in dem großen Leben Tartarins. Es war ihm, als ob das Vaterland selbst vor ihm stände und ihn um Rettung anflehte. Durfte er sich ihm entziehen? Durfte er ihm die helfende Hand verweigern? Etwa weil Bamberg ein Schwindler war? Lächerlich! Das waren unwürdige Bedenken. Tartarin durfte sich dem Rufe der Republik nicht entziehen. Die Größe des Augenblicks erschütterte ihn. Seine Stimme zitterte.

»Meine Freunde, ich danke Ihnen … ich danke Ihnen. Ich werde versuchen … ich will nichts versprechen … aber ich denke … es wird mir gelingen.« Seine Rede festigte sich. »Auf jeden Fall werde ich nichts unversucht lassen, um uns, um Frankreich, um die Welt zu retten. Ich bin bereit, mein Leben zu wagen.«

Tartarin riß den Uniformrock auf, als wollte er sein nicht sehr sauberes Hemd den Geschossen des Feindes darbieten. Die Rührung war allgemein. Die Freunde umarmten ihn.

»O, mein alter Kriegskamerad, Sie sollen für Frankreich leben und nicht sterben!«


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