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Es war klar, nur der Dr. Bamberg konnte helfen.
Tartarin war entschlossen, zu ihm zu gehen und seinen Beistand in Anspruch zu nehmen. Wer weiß, ob dem Mann nicht Unrecht geschehen war? Es stand doch gar nicht fest, daß er ein Fälscher war. Freilich, die Erfindung und der Erfinder waren Schwindel, aber mußten darum auch seine Dokumente gefälscht sein? Der Pole sagte es. Aber Polen bestand erst seit drei Jahren, seine Bürger waren noch ohne politische Erfahrung. Auf ihr Urteil konnte sich Tartarin nicht verlassen.
Es war sehr möglich, daß er dem Doktor Unrecht getan. Das zarte Gewissen des Helden litt unter diesem Vorwurf, und doch zögerte er zu dem Manne zu gehen. Entsprach dieser Schritt der Würde Frankreichs? Durfte sich der Sieger mit der Bitte um Beistand an einen Deutschen wenden? Tartarin war unschlüssig, zum erstenmal in seiner Heldenlaufbahn.
Ein Brief Bambergs erleichterte ihm die schwere Entscheidung. Er bat dringend um eine Unterredung. Die Ehre Frankreichs war gerettet, und Tartarin konnte zu ihm gehen.
Der elegante Doktor war in seiner Häuslichkeit alles andere als elegant. Seine Füße steckten in alten ausgetretenen Schlappschuhen, den Rock hatte er ausgezogen, das wenig saubere Hemd ließ den kragenlosen Hals und die Brust offen. Das Kostüm wirkte anheimelnd auf Tartarin. Als echter Franzose hatte er eine unüberwindliche Abneigung gegen enge Schuhe, frische Wäsche und steife Halskragen. Er sah nicht ein, warum Bamberg sich zurückzog, um eine seines erhabenen Gastes würdige Toilette zu machen.
Die Kusine sah verweint aus. Sobald sie mit Tartarin allein war, schlang sie ihre vollen Arme um seinen Hals. »Ich hatte solche Sehnsucht nach Ihnen. Ich bin so glücklich, daß ich Sie endlich wiedersehe … endlich …«
Der Held ließ sich ihre Liebkosungen gefallen. Er durfte eine Dame nicht zurückstoßen. Kein Franzose hätte das getan. Aber er erwiderte ihren Kuß nicht. Er stand hier als Vertreter Frankreichs in einer schwierigen diplomatischen Mission, und die durfte nicht durch Frivolitäten entweiht werden. Tartarin war sich seiner Pflicht bewußt. Milde wies er die Leidenschaft der Dame zurück. »Es freut mich, daß Sie mich noch nicht vergessen haben. Ein andermal, ein andermal! Hier sind wir nicht ungestört.«
»Daran dachte ich nicht. Die Freude des Wiedersehens war zu groß. Aber Sie haben recht, recht wie immer.«
Es gibt keinen Franzosen, der durch Liebe, schmutzige Wäsche und weibliches Lob nicht in die beste Stimmung versetzt wird. So auch Tartarin. Er besaß alle Vorzüge seiner Nation.
Dem eintretenden Doktor schüttelte er jetzt die Hand, während er sich vorher diplomatisch-steif zurückgehalten hatte. »Ich bin froh Sie wiederzusehen. Es gab das letztemal eine kleine Unstimmigkeit zwischen uns …«
Der Doktor machte eine abwehrende Handbewegung: »Sprechen wir nicht mehr davon.« Er lachte. »Der diplomatische Verkehr kann sich ohne kleine Reibungen nicht vollziehen.«
Das sah Tartarin ein. »Die Hauptsache ist, daß man die großen gemeinsamen Interessen im Auge behält.« Er hatte das Gefühl, daß der vollendetste Diplomat nichts besseres sagen konnte. Er fragte nach Bambergs Befinden.
»Wie mir es unterdessen ergangen ist? Nun teils – teils. Ich habe vielversprechende Beziehungen zu den Engländern angeknüpft …«
»Zu den Engländern.« Das war Tartarin unangenehm. Wenn der Doktor jetzt in Pfunden arbeitete, dann mußte Frankreich tief in den Beutel greifen.
»Sie wissen, die englischen Beziehungen meiner Kusine …« Die Dame errötete, der ritterliche Tartarin blickte diskret zur Seite, der Doktor ließ das Thema fallen.
»Auf der andern Seite habe ich gewisse Unannehmlichkeiten, und deshalb muß ich Sie sprechen, mein verehrter Gönner!«
Jetzt kommt das Geschäft, dachte Tartarin.
»Sie werden mir zugeben, daß ich Frankreich wichtige Dienste geleistet habe?« Der Held nickte. »Dafür soll ich nun büßen. Man ist mir auf der Spur.«
»Man … auf der Spur … ich verstehe Sie nicht.«
»Nun, die Polizei. Sie wissen, ich habe meine Verbindungen überall.« Der Doktor warf sich dabei stolz in die Brust. »Ein Freund im Polizeipräsidium hat mich gewarnt. Man will mir den Prozeß machen, sie behaupten, ich hätte politische Dokumente gefälscht …«
»Unerhört! Das wagte man zu behaupten!«
»Oh, man wagt noch mehr … ich hätte sie an Frankreich verkauft …«
Eine Pause trat nach der peinlichen Eröffnung ein. Tartarin war in Verlegenheit, was er sagen sollte. Der Doktor trat dicht zu ihm und sprach mit leiser, aber sehr vernehmlicher Stimme:
»Sie wissen, wenn es dazu kommt, sind Sie unsterblich blamiert. Ich würde beim besten Willen nicht in der Lage sein, Sie zu schonen.«
Tartarin hatte das unangenehme Gefühl, als ob der Doktor ihm drohte. Doch es war wohl ein Irrtum, er sprach jetzt wieder in seinem gewöhnlichen Tone:
»Die deutsche Regierung haßt und fürchtet mich, weil ich ein Freund des Friedens und ein Freund Frankreichs bin. Ich denke, Frankreich wird es mir Dank wissen, daß ich es rechtzeitig vor den kriegerischen Absichten der Deutschen gewarnt habe?«
Die Kusine warf Tartarin hinter dem Rücken des Doktors einen seelenvollen Blick zu. »Oh, verlassen Sie uns nicht.«
Ein so schnöder Gedanke lag dem Helden fern. »Frankreich verläßt seine Freunde in der Not nicht. Es hat nicht nur den Willen, sondern auch die Macht, sie zu schützen.«
»Wie gut Sie sind!« lispelte die Kusine mit einem schmachtenden Augenaufschlag.
»Ich war überzeugt, daß ich auf Frankreichs Dankbarkeit bauen konnte,« erklärte der Doktor.
»Und was soll mein edles Vaterland für Sie tun?«
»Mir in Wiesbaden, im besetzten Gebiet eine Freistatt gewähren und mich gegen die ungerechten Angriffe der deutschen Behörden schützen.«
»Es wird uns ein Vergnügen sein. Kein Deutscher soll Ihnen dort ein Haar krümmen, kein deutsches Gericht einen Schritt gegen Sie tun. Sie werden mit ihrer Kusine der Gast Frankreichs sein.«
»Ich danke Ihnen, ich danke Frankreich. Aber von meiner Kusine muß ich mich leider trennen, sie muß hier bleiben, um meine politischen Beziehungen aufrecht zu halten.«
»Ja, ich bleibe hier.« Dabei erhielt Tartarin einen vielversprechenden Blick.
Er war sehr zufrieden mit dem Verlauf der Unterhaltung. Nachdem er dem Doktor eine so große Gunst erwiesen, wurde es ihm leichter, sein Anliegen vorzubringen.
»Nachdem Frankreich so viel für Sie getan hat, wird es Ihnen gewiß ein Vergnügen machen, etwas für Frankreich zu tun?«
»Für Frankreich! Alles!«
Tartarin erzählte, daß die Kontrollkommission von der Auflösung bedroht sei.
Die Kusine war entsetzt. »Sie wollen uns verlassen? Das ist unmöglich! Das überlebe ich nicht.« Sie vergaß in ihrer Bestürzung, daß der eifersüchtige Doktor zugegen war.
Der Held lächelte über den verzweifelten Ausbruch ihrer Liebe. »So weit ist es noch nicht. Wir hoffen, diesen Schlag noch abzuwenden, und dazu brauchen wir einen Beweis, daß Deutschland nicht daran denkt, abzurüsten.«
Er sah den Doktor fragend an. Doch der bedachte sich nicht lange, er legte stets Wert auf prompte Bedienung seiner Kundschaft. »Wollen Sie den Aufmarschplan der vereinigten deutsch-russischen Armeen?«
»Den Aufmarschplan?« Das übertraf ja Tartarins kühnste Erwartungen. Seine Augen leuchteten. »Wenn wir den haben könnten!«
»Ich erhalte ihn in den nächsten Tagen vom Kriegsministerium.« Der Doktor sprach, als ob es sich um etwas Selbstverständliches handelte. »Ich wollte ihn eigentlich den Engländern geben, aber Frankreich hat natürlich den Vorzug. Wenn ich für Frankreich arbeite, weiß ich, daß ich für den Frieden und den Fortschritt der Menschheit arbeite.«
Tartarin konnte sich noch nicht von seiner Überraschung erholen. So weit war es also schon, daß die Russen und Deutschen einen Angriffsplan entwarfen, und das ahnungslose Frankreich wußte noch nicht einmal, daß sie verbündet waren. Er sprach dem Doktor sein Erstaunen aus. Der zuckte mit den Achseln.
»Der Bündnisvertrag? Auch der ist vor einigen Tagen durch meine Finger gegangen.« Er rieb sich überlegen die Hände. »Wir erfahren alles, was in Europa vorgeht. Nicht wahr, Kusine?«
»O ja. Für uns gibt es keine Geheimnisse.«
»Ich hätte Ihnen die Urkunde gebracht, aber unsere Differenzen von damals … Sie wissen ja!«
»Gott sei Dank, daß sie beseitigt sind.« Die beiden Männer drückten sich die Hände.
»Der Aufmarschplan erfordert allerdings gewisse Ausgaben.«
»Sprechen wir nicht von Kleinigkeiten. Wenn wir ihn haben, ist die Aufhebung der Kontrollkommissionen ausgeschlossen.«
»Ausgeschlossen,« bestätigte der Doktor. »Wir werden durch unsere englischen Verbindungen dazu beitragen.«
»Ich werde an eine hohe Persönlichkeit in London schreiben.« In ihrer Liebe war die Kusine zu jedem Opfer bereit.
Tartarin wußte, daß die hohe Persönlichkeit der König selber war. In seiner Dankbarkeit hätte er die Kusine gern ans Herz gedrückt, doch in Gegenwart des eifersüchtigen Doktors ging das nicht. Rücksichtsvoll schonte der Held selbst die Gefühle eines Deutschen.
»Den Aufmarschplan erhalten Sie in drei Tagen spätestens.«
»Kann ich mich darauf verlassen?«
»Ich bringe ihn dir persönlich,« flüsterte ihm die Kusine in einem unbewachten Augenblick zu. Sie nannte ihn jetzt wieder du, das Einvernehmen war vollständig hergestellt.
Als Tartarin fort war, setzte sich der Doktor sofort an die Arbeit. »Gib mir mal das Kursbuch her, Schatz. Ich bin zwar nie Soldat gewesen, aber die Russen werde ich schon aufmarschieren lassen.«