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Die Mitteilungen des Dr. Bamberg veranlaßten Tartarin eine neue Revision aller deutschen Kasernen vornehmen zu lassen. Er selbst beteiligte sich auf das eifrigste daran, er mußte nachsehen, ob die treulosen Deutschen wirklich 64 000 Mann über die ihnen zugebilligte Zahl unter Waffen hielten.
Die preußischen Offiziere waren sehr erstaunt, als ihnen schon wieder eine Durchsuchung ihrer Kasernen angemeldet wurde. Erst vor acht Tagen waren die Vertreter der Entente dagewesen und hatten jedes Hemd und jede Unterhose durchgezählt. Der Soldat durfte nur zwei Hemden besitzen, jedes weitere war eine mittelbare Vorbereitung zum Krieg, eine Bedrohung des europäischen Friedens.
Man rüstete sich auf Tartarins Empfang, machte die Präsenz- und Löhnungslisten bereit und legte das Verzeichnis der Waffen und Bestände heraus. Aber Tartarin wehrte ab, es gehörte nicht viel dazu, die Papiere mit den Forderungen der Entente in Einklang zu bringen. Sie hatten kein Interesse für ihn. Nur Betten wollte er scheu, nichts als Betten.
Er lief von Stube zu Stube. »Wie viel Mann sind hier untergebracht?«
»Zwölf.«
»Und wieviel Betten stehen hier? Sechzehn.«
Tartarin richtete seinen durchbohrenden Siegerblick auf den begleitenden Offizier. »Wer soll in den überzähligen Betten schlafen?«
»Niemand. Sie stehen noch aus alter Zeit hier. Die Kasernen waren damals stärker belegt.«
Tartarin lachte höhnisch, aber er hütete sich etwas zu sagen, obgleich die Ausflüchte sein Herz empörten. Er stürzte in die nächste Stube. Dort waren sogar sechs Betten zu viel. Es wurde immer schlimmer. Bamberg hatte Recht. In der ganzen Kaserne standen 40 überzählige Betten, in ganz Deutschland gab es vielleicht 1500 Kasernen. Ein einfaches Exempel ergab, daß die Zahl des Doktors richtig war. Die Deutschen trafen die Vorkehrungen, 64 000 Mann über den Friedensstand unterzubringen, ja hatten sie vielleicht schon untergebracht. Am Tage mochten sie als Arbeiter verkleidet in der Stadt spazieren gehen, des Nachts schliefen sie als Soldaten in der Kaserne. Und das geschah unter den Augen der Kontrollkommission!
»Die überzähligen Betten müssen sofort beseitigt werden.«
Der preußische Offizier machte Einwände. Wo sollte er sie hinbringen?
»Verbrennen Sie sie, vernichten Sie sie!«
»Das darf ich nicht.«
»Ich befehle es Ihnen … ich …«
»Befehlen …?« Der Offizier trat einige Schritte zurück.
»Verstehen Sie mich: ich befehle. Der Sieger befiehlt, und der Besiegte hat zu gehorchen.« Der beständige Widerspruch des Deutschen reizte Tartarin.
»Nur meine Vorgesetzten haben mir Befehle zu erteilen.«
Tartarin hatte kein Bedürfnis, sich mit dem Deutschen auf einen Wortwechsel einzulassen. »Wir werden unseren Willen schon durchsetzen, mein Herr. Sie wissen wohl, daß unsere Truppen am Rhein stehen.«
Doch was lag Tartarin an einen armseligen feindlichen Offizier? Er verachtete ihn, wie er alle Ausländer verachtete. Die Hauptsache war, daß er die Betten gezählt hatte. Der Doktor hatte Recht. Seine Angaben wurden, durch den Augenschein bestätigt, man konnte ihm völlig vertrauen. Tartarin dankte dem Schicksal, das ihn mit diesem edlen Mann, diesem aufrichtigen Freunde Frankreichs, zusammengeführt hatte. –
Bamberg saß gerade an seinem Schreibtisch und arbeitete im Schweiße seines Angesichts für Frankreich. Die Kusine half ihm. Beide hatten es sich bequem gemacht. Der elegante Doktor saß in Schlappschuhen und Hemdärmeln da, und die vollen korsettbefreiten Formen der ehemaligen königlich großbritannischen Mätresse wurden nur durch eine lose Nachtjacke verhüllt, die ebenso viel Schmutzflecke wie Spitzen aufwies. Sie rauchte und blätterte im Adreßbuch.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf Müller,« zählte der Doktor in der Liste, mit deren Aufstellung er beschäftigt war. »Mehr Müller dürfen wir nicht aufnehmen. Sonst klingt es unwahrscheinlich.«
Die Kusine wies mit dem Finger in den unförmigen, enggedruckten Band. »Hier steht noch einer mit einem so drolligen Vornamen. Ikonoklast … Ikonoklast Müller. Wie das klingt! Den dürfen wir nicht weglassen.
»Meinetwegen Müller Nr. 6 Ikonoklast. Machen wir zum Unteroffizier. Er hat's durch seinen Vornamen verdient. Nun ein paar Namen auf N. Die Hälfte des Alphabets haben wir hinter uns.«
Die Kusine suchte Namen auf N aus dein Adreßbuch, dann auf O, dann auf P. Der Doktor schrieb sie in seine Liste. Es war eine langweilige Tätigkeit. Er hatte es satt, sprang auf und warf den Federhalter hin, daß die Tinte über das Papier spritzte.
»Verfluchte Arbeit! 64 000 Namen hinzuschmieren! Aber ich muß doch dem dämlichen Franzosen die Liste von den 64 000 überzähligen Soldaten zusammenstellen. Als ob das Adreßbuch nicht für Hunderttausend ausreichte. Ich habe genug für heute. Wir wollen uns anziehen und ausgehen.«
»Wovon? Das Geld für die Kriegsrede des Reichskanzlers ist alle. Ich habe dem Franzosen die Liste für morgen versprochen!«
»Hast du Sehnsucht nach deiner neuesten Eroberung, nachdem ich dich kaum zur Geliebten aller europäischen Potentaten erhoben habe?«
Die Kusine wurde rot, sie konnte noch rot werden. »Du hast es doch gewollt.«
»Na ja, Geschäft ist Geschäft. Aber wenn du einen andern lieb hast, dann, weißt du, gibt's Senge.« Die Erinnerung an die genossenen Hiebe machte tiefen Eindruck auf die Frau. Sie fiel dem Doktor um den Hals. »Du weißt, ich liebe nur dich und tue, was du willst. Aber wir brauchen Geld.« Ein Kuß bestätigte die unangenehme Mitteilung.
»Was haben wir alles vor?« Bamberg nahm sein Notizbuch zur Hand. »Den Deutschen habe ich den Text der polnisch-tschechischen Militärkonvention versprochen. Sie zahlen elend, die kannst du machen.«
»Ich …«
»Du bist doch ein gescheites Frauenzimmer. Den Unsinn der Polen und Tschechen kriegst du allemal zustande. Weiter: die deutsche Armeeliste für die Franzosen ist in Arbeit. Das Reglement für die militärische Ausbildung der Polizei. Wollen wir das den Polen, den Franzosen oder beiden verkaufen? Knauserig sind sie doch. Ja, wenn man an die Engländer oder Amerikaner heran könnte …«
Er dachte nach. »Der Dollar steht heute 315,« warf die Kusine ein.
»Deutsche Flottenpläne müßten doch für sie Interesse haben. Und deine Beziehungen zum König von England könnten uns den Weg bahnen.«
Beide lachten. »So gut wie dein Doktortitel dich zum gelehrten Mann macht.«
»Erlaube, ich habe studiert. Er genügt mir auch nicht mehr. Ich werde mich nächstens zum Legationsrat a. D. ernennen. Das muß dem Geschäft einen neuen Aufschwung geben.«
Die Kusine war entzückt von dem neuen Titel. Sie war etwas angejahrt, hatte aber noch schöne volle Arme und die schlang sie um den Hals des zukünftigen Legationsrates. Er nahm die Liebkosungen hin wie einen seiner Klugheit geschuldeten Tribut und klopfte sie herablassend auf den Rücken.
»Weißt du, Schatz, wir beide regieren eigentlich die Welt. Hast du gestern die Rede des französischen Ministerpräsidenten gelesen? Der Mann wiederholt nur, was wir ihm vorgeschwindelt. Und das nennt man Politik!«
Die Kusine wollte ihm ein Kompliment sagen. »Er heimst dafür noch Beifall ein, und wir müssen uns vor der Polizei verstecken.«
Der Doktor lachte verächtlich. »Nee, tun können sie mir nichts. Ich blamiere sie alle durch ihre eigene Leichtgläubigkeit. Aber meinen nächsten Coup gebe ich nicht unter eine Million aus der Hand. Ich habe das elende Leben satt.«
»Den elektrischen Fernzünder, der die Munitionslager in Brand steckt?«
Der Doktor nickte. »Mach nur deine Freunde scharf, den Polacken und den Franzosen.«
»Sie lassen mir jetzt schon keine Ruhe, sie sind ganz wild auf die Erfindung und den Erfinder.«
»Wir wollen sie zappeln lassen. Sie sollen diesmal blechen. Die größte Erfindung des Jahrhunderts kostet Geld, viel Geld selbstverständlich. Wie wäre es mit einer Anzahlung? Man könnte ihnen eine erste Rate …« Der Doktor verstummte und grübelte nach. Die Kusine schwieg auch, sie sah ihm an, daß ein großer Plan reifte. Mit dem Finger an der Nase überlegte er.
»Wenn ich nur jemand hätte, um die Rolle des Erfinders zu spielen. Steh mal auf, Schatz … so nun dreh dich rum … Nee es geht nicht. Du bist zu stark. Mit den dicken Hüften kann ich dich nicht als Mann verkleiden. Schade. Du hättest die Sache ausgezeichnet gemacht. Ich muß einen andern nehmen, aber er wird viel Geld verlangen und …«
»… uns verraten. Er wird das Geschäft selbst machen wollen.«
»Er muß dumm sein, so saudumm, daß wir ihn ganz in der Hand behalten. So dumm …«
»Der Erfinder?«
»Warum nicht? Mit dem dicken Franzosen wird er es noch immer aufnehmen.
»In Geschäften ist der nicht dumm. Denke an die Hochheimer Aktien. Er hat ganz Recht gehabt. Sie sind auf tausend gestiegen.
»Aber wir konnten nicht kaufen. Ich sage dir, mein Erfinder wird den Franzosen reinlegen und den Polen dazu.
»Erst haben.«
»Ich werde ihn finden.« Er legte die Liste sorgfältig zusammen. »Ich will jetzt ausgehen und ihn suchen. Du kannst dich ja bei deinem Tartarin zum Abendessen einladen.«
»Ohne die Liste?«
»Hier nimm ihm die ersten 30 000 Mann mit. Die andern kommen später.