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Den dicken Band, der da die Aufschrift trägt » conditions de la paix«, den Friedensvertrag von Versailles, betrachten die Mitglieder der Interalliierten Kontrollkommission als ein heiliges Buch. Sie beten ihn in der gleichen inbrünstigen Verzückung an, wie der Moslem den Koran, der Perser die Zendavesta und der koschere Jude die Thora. Er ist in ihren Augen nicht das Werk schwacher, fehlsamer Menschen, sondern die sichtbare Offenbarung eines unsichtbaren Gottes, verkündet durch den Mund der drei großen Propheten Lloyd George, Clemenceau und Wilson!
Freilich war noch ein vierter dabei, ein Italiener, aber sein Name ist verschollen. Kein Heldenbuch verkündet ihn, denn er verbrachte seine Feit damit, die hehre Weisheit zu unterschreiben, die dem göttlichen Sehergeist der andern entströmte. Möge er vergessen bleiben, aber Ehre und Ruhm den drei großen Propheten!
Die Herren der Kommission haben recht, daß sie das Werk der drei Weisen aus dem Abendlande hochhalten, denn es sichert ihnen eine Stellung, wie sie niemand im Laufe der Jahrtausende besaß. Sie säen nicht, aber sie ernten, sie zerstören nur, was andere Menschen geschaffen haben, dafür aber werden sie gekleidet reicher als die Lilien auf dem Felde, dafür werden sie geehrt, geliebt und bewundert. Ein Abglanz von dem Ruhm, der die drei großen Propheten umgibt, fällt auch auf ihr Haupt.
Tartarin blätterte in dem Heiligen Band. Seine Stimmung war ernst und andächtig, wie es sich bei der Lektüre dieses Buches der Bücher gebührt. Er las und las, aber zu seinem Entsetzen entdeckte er, daß selbst dieses Werk Lücken besaß. Er fand keinen Paragraphen, der den Deutschen verbot, die Liebesnacht eines französischen Offiziers zu stören, keinen, der ihnen untersagte, »Deutschland, Deutschland über alles« zu singen.
»Man hat es vergessen. Aber wie konnte man es vergessen?«
Auch der prächtige Oberst Giffard suchte vergebens. »Eine unverzeihliche Nachlässigkeit. Sicher wurde Clemenceau von dem Engländer und dem Amerikaner überstimmt.«
Was war zu tun? Daß Tartarin bitterstes Anrecht geschehen war, daß ein schlimmer Verstoß gegen den Friedensvertrag erfolgt war, lag auf der Hand.
»Man könnte Frankfurt a. M. besetzen.«
»Oder den Deutschen eine Kontribution auflegen.«
»Das beste wäre, den Reichskanzler vor Gericht zu stellen.«
Einstweilen schrieb man eine energische Note an die deutsche Regierung. Die gestörte Liebesnacht wurde auf Tartarins Wunsch nicht erwähnt, er wollte die edle Frau nicht bloßstellen, die ihm ihr internationales Herz und beinahe ihren noch internationaleren Körper geweiht hatte. Es war ebenso diskret wie galant. Desto schärfer wurde das Singen des patriotischen Liedes gerügt. Welche Genugtuung wollte die Regierung für diese Schändlichkeit geben? Wenn die Deutschen singen wollten, so sollten sie sich in ihre Zimmer einschließen. Das edle Frankreich mußte Sicherheit haben, daß die Ohren seiner Offiziere durch solche Gesänge nicht wieder beleidigt wurden. Das war das Mindeste, was man im Interesse des europäischen Friedens forderte.
Von der Kammertribüne donnerte Tartarins allmächtiger Gönner herab. »Meine Herren, ich habe den kriegerischen Geist in Deutschland kennen gelernt. Wir stehen am Vorabend ernster Ereignisse. Frankreich muß handeln. Ich habe die authentischen Urkunden in der Tasche, daß die Deutschen mit allen Mitteln einen neuen Krieg vorbereitend
Das stimmte. Tartarin hatte seinem Gönner die belastenden Schriftstücke gegeben, die er von Dr. Bamberg erhalten. Der Held tat stets seine Pflicht als Soldat und Franzose.
Die Kammer war empört. Die Lage war aufs äußerste gespannt.
Auf der Friedrichstraße fand eine große Prügelei statt. Drei französische Unteroffiziere wollten sich nach ihrer schweren Arbeit bei der interalliierten Kommission erholen. Sie hatten ja Geld im Überfluß, mehr als die deutschen Minister; sie tranken und zogen untergefaßt ihre Straße.
Quand on a travaillé
pendant six jours, six jours …
Ein französischer Unteroffizier hat das Recht, daß ihm jeder Passant ausweicht. Dafür ist er Sieger. Wer es nicht tat, wurde angerempelt. Es war ein Skandal, daß die Deutschen wieder zu rempeln wagten. Sie rissen sogar das Maul auf und schimpften. Natürlich schimpften die Franzosen wieder. Von dem Schimpfen kam man zu Püffen, von den Püffen zu Schlägen. Die Stöcke wurden geschwungen, die Messer gezogen. Da ein Schrei! Einer der Unteroffiziere sank getroffen nieder. Aus dem Hals rieselte sein Blut; der Mann war tot!
Entsetzt stob die Menge auseinander. Ein diplomatischer Zwischenfall schwierigster Art lag vor. Die Franzosen beweinten ihren gefallenen Kameraden, aber die gefühllosen Deutschen hatten kein Verständnis für ihren ergreifenden Schmerz. Einer der Unteroffiziere kam nach Hause, er schlief trotz seines Kummers vortrefflich, da brachte ihm die Wirtin am nächsten Morgen seine Monatsrechnung.
»Ich muß mein Geld haben. Ich warte schon seit 14 Tagen darauf.«
»Geld wollen Sie auch noch?«
»Bezahlen Sie oder ich werde klagen.«
Der Schmerz des Franzosen um seinen Kameraden erwachte beim Anblick der Rechnung, die Drohung verletzte ihn in seinen heiligsten Gefühlen. Durften sich die Besiegten eine solche Sprache anmaßen? Nein und noch einmal nein! Wäre er Foch gewesen, so hätte er sofort einige Armeekorps mobilisiert. Da er keine Armeekorps zur Verfügung hatte, so holte er kräftig aus. Schwapp! hatte das freche Weib einen wohlgezielten Fußtritt im Bauche sitzen. Mochte sie zusammenbrechen, sie hatte ihre Strafe verdient, und wenn sie zehnmal schwanger war! Einen Franzosen, einen Angehörigen der Siegernation, um Bezahlung seiner Rechnung bitten! Es war unerhört!
Die Frau konnte froh sein, daß sie mit dem Leben davonkam, ja sie konnte dem Franzosen dankbar sein, dessen Fußtritt ihre Schwangerschaft um mehrere Monate verkürzte und ihrem Kinde vor der Zeit zum Leben verhalf. –
Tartarin heischte Sühne für den Gefallenen. Gram umflorte sein Haupt, mit gebrochener Stimme redete er auf den deutschen Vertreter ein. »In Carcassonne trauern eine Mutter, eine Schwester, eine Gattin, die Großmutter und unzählige Tanten um den Verstorbenen. Die Sühne muß dementsprechend sein, so reichlich, daß alle diese Angehörigen ohne Sorgen nur ihrem Schmerze leben können.«
Der Deutsche suchte abzulenken und wollte eine Gegenforderung für die Frau mit dem Fußtritt erheben, aber da kam er schön bei Tartarin an.
»Wegen des Fußtritts? Mein Herr, in Frankreich leben unzählige Frauen, die täglich ihren Fußtritt erhalten. Sie lieben und achten ihren Mann trotzdem. Was eine Französin ertragen kann, wird einer Deutschen gewiß nichts schaden. Ich gebe zu, daß andere Teile des weiblichen Körpers zur Aufnahme eines Fußtrittes geeigneter sind. Aber was wollen Sie? Es war doch ein Unteroffizier, ein Mann ohne anatomische Kenntnisse. Wollen Sie ihn für den kleinen Irrtum verantwortlich machen? – Sie wenden ein, daß die Frau in gesegneten Umständen war?« Der Deutsche nickte zustimmend. »Ja, war das die Schuld unseres Unteroffiziers?«
»Nein.«
»Dann kann man auch nicht verlangen, daß er auf die Kleinigkeit Rücksicht nahm. Die Frau hätte sich nur umzudrehen brauchen, dann hätte ihr der Fußtritt gar nichts geschadet, im Gegenteil, beide hätten daran Spaß gehabt.«
Der Deutsche konnte sich den überzeugenden Gründen Tartarins nicht verschließen. Die Frau behielt ihren Fußtritt, sie mochte sehen, wie sie mit ihrem zu früh geborenen Kinde fertig wurde, Frankreich zahlte ihr keine Entschädigung und kein Schmerzensgeld. Für den gefallenen Unteroffizier forderte es eine Entschuldigung der deutschen Regierung und eine Million Schadloshaltung.
»Eine Million Franken, aber Goldfranken,« erläuterte Tartarin. »Für Papiergeld ist die Trauer der Familie viel zu groß.«
»Eine Million!« Der Beamte war erschüttert. Er konnte keine Worte finden.
»Scheint Ihnen die Summe für einen französischen Unteroffizier zu hoch? Frankreich muß Sicherheit haben, daß seine Angehörigen in den Straßen Berlins nicht niedergemetzelt werden, Frankreich muß dafür sorgen, daß alle Tanten des Verstorbenen lebenslänglich ausschließlich ihrer Trauer leben können.«
Der Deutsche war zu einer Entschuldigung bereit, er war auch bereit, den Toten mit allen militärischen Ehren bis zur Grenze zu befördern, er erbot sich sogar an dem Haus eine Tafel anbringen zu lassen, wo er gewohnt und die Miete nicht bezahlt hatte. Aber eine Million in Gold! So weit reichte seine Vollmacht nicht. Er bot eine geringere Summe.
Tartarin erhob sich voll Empörung. War nicht Frankreich durch den schmählichen Vorschlag in seiner Person beleidigt? »Wir sind eine Nation von Helden, nicht von Händlern, mein Herr. Mit uns feilscht man nicht. Wir lassen uns unser Recht nicht abkaufen. Frankreich ist das Land der Gerechtigkeit. Ich würde die Forderung nicht vertreten, wenn ich von ihrer Gerechtigkeit nicht überzeugt wäre. Ich würde mich schämen ein Franzose zu sein, wenn Frankreich jemals etwas anderes als das Recht verlangt hätte. An dem Geld liegt uns nichts, aber die Million muß bezahlt werden.«
Er brach die Verhandlung ab. Der Deutsche begriff Frankreichs Edelmut doch nicht. Man mußte schärfere Mittel gebrauchen. Eine neue Note mußte aufgesetzt werden.
Es war die dritte in der einen Woche. Die Kontrollkommission hatte schwer zu arbeiten. Es bedurfte ihrer ganzen Opferwilligkeit, um das Übermaß der Arbeit zu bewältigen. Drei Noten in einer Woche! Und da sprach man davon, ihren Bestand herabzusetzen! Drei Noten in einer Woche! Vierhundert Offiziere mit sechshundert Hilfskräften konnten es kaum schaffen. Nicht einer war entbehrlich, wenn der Friede Europas erhalten bleiben sollte.