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Ungebadet trat Tartarin am nächsten Morgen seinen Dienst an. Er wusch sich dafür den Hals recht gründlich und drehte den Schnurrbart in die Höhe. Die Entfernung zu seinem Bureau war nicht weit, aber er ließ sich doch im Auto abholen. Erstens ging er überhaupt ungern zu Fuß, zweitens glaubte er, daß es gegen die Würde des Siegers verstoße, und drittens wußte er nicht, ob ein französischer Offizier sicher durch die Straßen Berlins gehen könne. Von vorn fürchtete Tartarin keine Gefahr, aber konnte nicht ein feiger Meuchelmörder ihm von rückwärts den Dolch in den Leib bohren? Außerdem mußten ja die Deutschen das Auto bezahlen. Tartarin durchfuhr die kurze Strecke mit dem Behagen eines Mannes, der seine Feinde schädigt.
Auf dem Bureau war noch niemand. Man führte Tartarin in sein Dienstzimmer, einen schönen Raum mit einer Chaiselongue und bequemen Klubsesseln. Auch Zeitungen waren da. Das Warten war hier nicht unangenehm, und so wartete der Held in Geduld, lange, lange Zeit.
Endlich erschien jemand. Eine junge, elegant gekleidete Dame hüpfte in das Zimmer. In dem kurzen Röckchen, das die Unterschenkel in den prallen seidenen Strümpfen ganz frei ließ, und mit dem wuscheligen Pagenköpfchen sah Mlle. Georgette aus wie ein großes Baby. Sie lachte immer, und nicht nur mit dem Gesichte wie andere Menschen, sondern mit dem gesamten Oberkörper, der sich in den vollen Hüften drehte, wenn sie lachte.
»Ach, Sie sind unser neuer Chef, ich bin die Sekretärin Ihres Vorgängers und werde wohl die Ihre werden.«
Tartarin staunte. Das sollte eine Tippdame sein? Mit den Ringen an den Fingern und den Perlen im Ohr? Sie gefiel ihm, sie imponierte ihm. Er wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn gar nicht zu Worte kommen.
»Sie wundern sich wohl, daß ich so spät komme? Aber die andern sind auch noch nicht da. Wir hatten gestern furchtbar zu tun. Ihretwegen, die große Note. Ja, wenn wir eine Note schreiben, das ist immer ein schwerer Tag. Glücklicherweise kommt es nur zwei- bis dreimal in der Woche vor. Ich habe mir gestern die Finger wund getippt.«
Dabei streckte sie Tartarin ihr fleischiges Patschhändchen hin. Die rosigen Nägel waren tadellos gepflegt, sie sahen nicht nach übermäßiger Arbeit aus. Tartarin ergriff die Hand, und Mlle. Georgette hatte nichts dagegen, daß er sie in der seinen behielt. Sie führte sich bei ihrem Vorgesetzten ein.
»Mein Fräulein, wir werden uns gewiß gut verständigen.« Doch dann fiel Tartarin ein, daß er der Vorgesetzte war, daß er sich in einem Dienstgebäude der französischen Republik befand. Er ließ die Hand los und fuhr mit Würde fort: »Wir werden zusammenarbeiten zum Wohle des Vaterlandes.«
Mlle. Georgette lachte. »Ich liebe die Arbeit. Ich glaube, wir passen zusammen. Mit Ihrem Vorgänger bin ich auch sehr gut ausgekommen. Er verdiente viel Geld und sorgte dafür, daß für unsereinen etwas abfiel. Nur einen Wunsch hat er mir nicht erfüllt, und den müssen Sie mir erfüllen. Ich möchte gern mal dabei sein, wenn eine deutsche Fabrik in die Luft gesprengt wird.«
Tartarin hatte keine Bedenken. Warum sollte er einer Französin dieses patriotische Schauspiel nicht bieten?
Sie klatschte begeistert in die Hände. »Es muß zu lustig sein. Im Augenblick steht noch ein großes Haus da, bum! gibt es einen Knall, und weg ist es. Ich freue mich riesig darauf. Sorgen Sie, daß bald etwas gesprengt wird. Die Deutschen haben ja soviel Fabriken.«
»An mir soll es nicht fehlen, Frl. Georgette. Wenn es nach mir ginge, flögen alle deutschen Fabriken in die Luft. Dann hätte Frankreich Ruhe.«
»Hm, sind Sie ein grimmiger Mann!« Frl. Georgette tat, als ob sie sich fürchtete. »Sie sind wohl im Felde gewesen? Haben Sie viele Deutsche totgeschlagen.«
»Unzählige!« Tartarin reckte die Hand wie zum Schwur empor.
»Unsere andern Offiziere haben alle zu Hause gesessen und Geld während des Krieges verdient.«
»Nein, Geld habe ich nicht verdient.«
»So?« Die Französin schien enttäuscht. »Aber hier ist viel zu holen.«
»Die Gehälter sind glänzend.«
Doch das meinte Frl. Georgette nicht. »Ich meine nebenbei, so hintenherum. Jeder macht hier Geschäfte. Für Ihren Vorgänger fuhr ich oft nach Paris, natürlich auf Freischein, es waren Dienstreisen.«
Tartarin war überrascht. Auch der Zahlmeister hatte ihm schon gestern von Nebeneinnahmen gesprochen. Frl. Georgette schien Bescheid zu wissen. Er beschloß, sich an sie zu halten. Wenn hier alle Geld verdienten, wollte er auch sein Teil haben. –
Der General ließ Tartarin zu sich rufen. Der Allmächtige sah heute imponierend aus. Er hatte alle seine Orden angelegt. Tartarin überzählte sie, es waren noch mehr, als er selber besaß, und er hatte sich deren sechsundzwanzig erworben. Der General war freundlich wie immer, aber sachlich.
»Mein lieber Tartarin, Sie werden eine glänzende Genugtuung erhalten. Lassen Sie sich die Note zeigen, es ist das Energischste, was je aus unserm Bureau gekommen ist.«
Der Untergebene verbeugte sich und legte die Hand an das Kepi.
»Haben Sie sich im übrigen schon mit Ihrer Aufgabe vertraut gemacht? Ist Ihnen der Wirkungskreis der Kontrollkommission bekannt?«
»Wir haben Deutschland zu entwaffnen, das Kriegsmaterial zu zerstören, die militärischen Fabriken zu vernichten, die schwere Artillerie wegzuschaffen …«
»Gut, sehr gut,« nickte der General. »Ich sehe, Sie gehen mit Eifer an die Sache. Aber glauben Sie, mein Lieber, daß wir die zwei Jahre müßig gewesen sind? Das deutsche Heer ist längst auf 100 000 Mann herabgesetzt, die Festungen geschleift, die Abrüstung vollzogen.«
Tartarin machte ein langes Gesicht, das bei jedem Wort des Generals länger wurde. »Dann sind wir ja fertig und können unsere Koffer packen.«
Sein Chef warf ihm einen entrüsteten Blick zu. »Das ist die deutsche Auffassung. Kein Franzose darf sie teilen.« Tartarin senkte beschämt den Blick zu Boden, aber er atmete auf, als der General fortfuhr. »Im Gegenteil, wir stehen erst im Anfang unserer Tätigkeit. Wissen Sie, mein Lieber, jede Lehrerstelle in Deutschland hätte die nächsten zehn Jahre durch einen Franzosen besetzt werden müssen. Das hat man versäumt, im Friedensvertrag zu bestimmen. So wächst ein neues Geschlecht von Feinden heran. Sie haben nur äußerlich, nicht geistig abgerüstet. Unter der Oberfläche gärt es weiter. Überall werden Waffen verborgen und neue Formationen gebildet, die Fabriken können jederzeit zu Kriegszwecken umgestellt werden.«
Tartarin konnte sich vor Empörung nicht mehr halten. »Das muß verhindert werden, das darf nicht sein.«
»Nein, das darf nicht sein. Italiener und Engländer mögen sich durch diese Manöver täuschen lassen, ich durchschaue sie. Frankreich darf nicht überrumpelt werden.«
»Niemals!« rief Tartarin. »Niemals!« stimmte der Adjutant bei, der aus seinem Klubsessel emporfuhr.
»Deshalb habe ich Sie berufen, mein lieber Tartarin. Sie kennen die Deutschen, Sie sind der Mann, der sie zu behandeln weiß.« Der Angeredete reckte sich in seiner ganzen Größe empor. Das Lob des Vorgesetzten schmeichelte ihm, obgleich er wußte, daß es verdient war, aber mit der jedem Franzosen angeborenen Bescheidenheit winkte er ab.
»Nein, nein, mein Lieber,« fuhr der General fort. »Frankreich erkennt die Leistungen seiner Söhne gern an. Oh, unsere Aufgabe ist schwer, sehr schwer.« Sorgenvoll trat er ans Fenster. »Sehen Sie, wer bürgt mir dafür, daß dieses Auto sich nicht plötzlich in ein Panzerauto verwandelt, daß die Droschke sich nicht als Lafette einer Kanone entpuppt, daß diese Fußgänger nicht nach Hause stürzen, ihre verborgenen Waffen holen, sich zu Bataillonen, Regimentern, Armeen formieren und über das wehrlose, vertrauensselige Frankreich herstürzen? Wer bürgt mir dafür? Bei dem Gedanken zittere ich und ganz Frankreich mit mir.«
Da der Vorgesetzte zitterte, zitterte Tartarin auch, und zwar so heftig, daß die Medaillen auf seiner Brust klapperten. Nur der Adjutant zitterte nicht. Er hatte am Tage vorher eine sehr ernste Auseinandersetzung mit einem englischen Kameraden gehabt. Der Engländer trank dabei Whisky in ungemessenen Mengen, der Adjutant haßte Whisky, aber er mußte beweisen, daß ein Franzose nicht weniger vertragen konnte. Er hatte seine Pflicht glänzend erfüllt, er hatte den Engländer in seinem Nationalgetränk besiegt, er hatte sich für Frankreich geopfert und konnte daher heute nicht für sein Vaterland zittern.
»Sie sind ergriffen, mein edler Freund,« wandte sich der General zu Tartarin. »Aber keine Schwäche!« Der Adjutant seufzte und faßte sich an den Kopf. »Wir müssen Männer sein! Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Sie werden die Listen der Feinde zuschanden machen. Ich stelle Sie an die Spitze unseres geheimen Überwachungsdienstes. Greifen Sie durch, greifen Sie energisch durch!«
»Mein General, ich werde Ihr Vertrauen zu rechtfertigen versuchen.« Tartarins Brust schwoll bei dem Gedanken an die Größe seiner Aufgabe, aber er fühlte, daß er ihr gewachsen war. Klar lag seine Rolle vor seinen Augen. »Ich war bisher ein rauher Krieger, ich habe nur den Degen geführt, aber das Vaterland will es, und ich werde mich in einen Diplomaten verwandeln. Die Deutschen sollen ihren Mann in mir finden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, man kann diesen Leuten nicht die sanfte, edle Seele eines Franzosen einhauchen, aber man kann ihnen die Giftzähne ausbrechen.«
Der General reichte ihm gerührt die Hand. »Ich habe mich in Ihnen nicht geirrt. Mein lieber Castelin …« Der Adjutant fuhr aus seinem Halbschlummer empor. »Ich danke Ihnen, daß Sie die Berufung unseres Tartarin durchgesetzt haben. Jetzt kann ich ruhig schlafen, jetzt kann Frankreich ruhig schlafen.«
Auch der Adjutant beschloß ruhig zu schlafen. Nur Tartarin wachte, wachte für alle.