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Tartarins allmächtiger Gönner kam zum Besuch nach Berlin. Natürlich im eigenen Auto und in Begleitung einer Geliebten. Das war er seiner Stellung schuldig. Er war schon Minister gewesen, übte jetzt als Deputierter einen Einfluß aus, daß die Regierung zitterte, wenn er sich in der Kammer erhob, und niemand, er selbst am wenigsten, zweifelte, daß er bald wieder Minister sein würde.
Es war seine Pflicht, Deutschland kennen zu lernen. Da man ein Land besser vom Auto als von der Eisenbahn sieht, fuhr er im Auto, und da vier Augen mehr als zwei sehen, nahm er seine Geliebte mit. Der Herr Deputierte ging mit dem größten sittlichen Ernst an seine Aufgabe, er wollte die Zahlungsfähigkeit Deutschlands feststellen.
Tartarin empfing ihn und brachte ihn in dem ersten Hotel unter. Die Geliebte machte Einkäufe, sie kaufte Kleider, Wäsche, Stiefel und Parfums zu ungeahnt billigen Preisen. Der Abgeordnete war froh, daß sie so angenehm und zweckmäßig beschäftigt war, denn er selbst konnte sich nur wenig um sie kümmern, er war Tag und Nacht in Anspruch genommen.
Er hatte sich Berlin als eine barbarische Stadt ohne Kultur vorgestellt. Wie erstaunt war er über die Fülle von Restaurants, Dielen, Bars, Tanzpalästen und sonstigen Vergnügungslokalen! Mit dem Besuch jedes einzelnen wuchs seine Überzeugung, daß Deutschland bezahlen könne und bezahlen müsse. Ein Land, das sich diesen Luxus an zweifelhaften Damen und noch zweifelhafteren Kavalieren leistete, würde doch die paar lumpigen Milliarden aufbringen können, deren das edle Frankreich bedurfte?
Wenn der große Mann mit Tartarin im Kreise holder Weiblichkeiten beim Sekt saß, memorierte er schon die Rede, mit der er bei seiner Rückkehr die Kammer in Erstaunen setzen würde.
»Meine Herren, ich kenne Deutschland aus eigener Anschauung, ich habe das für einen Franzosen unsagbare Opfer gebracht und habe mich in das Land des Feindes gewagt (Bewegung) … Meine Herren, den Deutschen geht es vortrefflich. Die Besiegten genießen, und wir, die Sieger, darben … Deutschland kann zahlen, weil es Geld in Überfülle hat (hört, hört!) und Deutschland wird zahlen, weil wir die Macht haben!« (Tosender Beifall).
Aber der einflußreiche Mann war nicht nur Abgeordneter, sondern auch Geschäftsmann, und der Geschäftsmann war weniger zufrieden als der Politiker. Vor allem die Tätigkeit der Kontrollkommission gefiel ihm nicht.
»Mein lieber Tartarin, ich habe Sie hierher versetzen lassen, um die Rechte unseres Syndikats zu wahren. Ihr Vorgänger arbeitete direkt gegen uns, zum Vorteil unserer Konkurrenz. Aber auch gegen Ihre Tätigkeit habe ich Bedenken.«
Der Held verbeugte sich demütig. »Was in meinen Kräften steht, habe ich für Frankreich getan.«
»Unser Syndikat ist Frankreich.« Durch den Widerspruch hatte Tartarin seinen Gönner gereizt. »Frankreich ist nicht damit gedient, wenn Sie kostbare Maschinen zerstören, die wir gebrauchen können.«
»Sie mußten vernichtet werden, sie waren nicht auszubauen.«
»Papperlapapp! Machen Sie das den Deutschen weiß. Jede Maschine ist auszubauen. Wissen Sie, was so ein Ding heute kostet?«
Tartarin hatte keine Ahnung. Er war ein Patriot und Krieger.
»Zehn, zwölf Millionen Franken. Franken sage ich, und wir hätten sie umsonst haben können, hätten sie nur den Deutschen wegzunehmen brauchen. So handelt kein wahrer Patriot.«
Das war der schlimmste Vorwurf, den man Tartarin machen konnte. Wehmütig ließ er sein Haupt auf die Brust sinken. »O mein Gönner … ich versichere Sie, ich bin unschuldig. Mein Vorgänger hatte die Vernichtung schon beschlossen.«
»So.« Die Erklärung stimmte den Deputierten milder, er geruhte sogar zu lächeln. »Ja, er sorgte für seine Leute. Also die Konkurrenz hat uns die Maschine nicht gegönnt. Na, jetzt haben wir sie ja hinausgedrängt, jetzt sitzen wir im Sattel und werden die Politik machen.« Dabei rieb er sich vergnügt die Hände, »Ich kann mich doch auf Sie verlassen?«
Tartarin legte die Hand auf die Brust. »Frankreich kann sich keiner besseren Führung anvertrauen als der Ihren, mein Gönner. Ihr hingebender Patriotismus ist uns allen ein Muster.«
»Ich liebe Frankreich,« erwiderte der große Staatsmann, »ich liebe es mehr als mein Leben, und weil ich es so liebe …« Er sprang in Begeisterung auf. »In den nächsten Tagen erscheinen meine Kriegsreden, zwei starke Bände. Oho, die Welt wird sehen, was wahrer Patriotismus ist!«
Die Erinnerung an die früheren Reden riß ihn hin. Es war ihm, als stände er wieder auf der Tribüne der Kammer, als spräche er zu den Abgeordneten, zu ganz Frankreich, zu ganz Europa. »Der Krieg war ein Wirtschaftskrieg, auch der Friede muß nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert werden. Es ist die deutsche Industrie, die uns bekämpft hat und die wir bekämpfen.« Er heftete einen durchbohrenden Blick auf Tartarin. »Warum rauchen noch immer so viel Schornsteine in Deutschland? Die Kontrollkommission nützt ihre Allmacht nicht aus.«
»O mein Gönner, Sie kennen unsere Schwierigkeiten nicht. Wir kämpfen nicht nur gegen die Deutschen, sondern ebenso gegen die Engländer und Italiener. Nur allmählich gelingt es uns, alle wichtigen Posten mit Franzosen zu besetzen und die Feinde beiseite zu schieben. Ein entsetzlicher Kleinkrieg, der unsere ganze Energie, unsere ganze patriotische Hingabe erfordert.«
»Sie zersplittern sich, mein Lieber. Der Hauptfeind ist die deutsche Industrie, die müssen wir unterkriegen. Doch selbst dem Gegner soll man Gerechtigkeit widerfahren lassen, er ist nicht durchweg bösartig, es gibt selbst in Deutschland gutgesinnte Unternehmungen …«
Tartarin riß die Augen aus, die Bewunderung für seinen Gönner wuchs immer mehr. Der große Mann, der geschworene Gegner aller Deutschen, konnte so gerecht und unparteiisch sprechen! Der Edelmut Frankreichs war ohne Grenzen.
»Meine Worte überraschen Sie, mein lieber Oberstleutnant?«
»Ich bewundere und verehre Sie, mein hoher Gönner.«
»Die gutgesinnten Unternehmungen dürfen nicht belästigt, im Gegenteil sie müssen in jeder Weise gefördert werden. Es sind die Unternehmungen, die mit unserem Syndikat in Verbindung stehen. Wir lassen uns bei unseren Geschäften nur von patriotischen Rücksichten leiten. Unser Vorteil ist der Vorteil Frankreichs. Jetzt stehen wir im Begriff, die Aktien des Hochheimer Stahlwerks zu erwerben.«
Auch in Tartarin regte sich der Patriot. Es war gewiß ein Verdienst, diesen deutschen Besitz an Frankreich zu bringen. Er wollte nach seinen Kräften dabei helfen.
»Kann man die Aktien noch kaufen?«
»Ich mache mir ein Vergnügen daraus, sie Ihnen zu empfehlen. Der Kurs ist heute 390. Unsere Käufe werden ihn in acht Tagen mindestens auf 1000 treiben. Es freut mich, wenn Sie an dem Werk interessiert sind; Sie werden mich dann um so besser verstehen.«
Tartarin rechnete. Frl. Georgette hatte ihm seinen Anteil aus dem polnischen Seidengeschäft noch immer nicht ausgezahlt. Er betrug sicher 100 000 Mark. Er mußte sich Vorschuß darauf geben lassen und dafür Aktien kaufen. Wie viel gab das? Und wie groß war der Nutzen bei einer Steigerung um 600 Prozent? Das Exempel war schwierig. Tartarin hörte dem Deputierten nur mit halbem Ohr zu.
»Das Hochheimer Werk darf in keiner Weise gestört werden. Scheinbar ist dort manches so, wie es nach dem Friedensvertrag nicht sein sollte, aber sie werden sich selbst überzeugen, daß es nur so scheint. In Wahrheit geschieht alles zum Nutzen Frankreichs.«
Der große Mann deklamierte jetzt nicht mehr, sondern sprach sehr ruhig und eindringlich. Tartarin verstand ihn.
»Ich werde selber hinfahren und mich von der völligen Harmlosigkeit des Werkes überzeugen.«
Der Deputierte drückte ihm die Hand. »Sie müssen noch mehr tun. Die Konkurrenz ist gefährlich. Die Fabrik in Niederheim arbeitet billiger als die unsere. Ich bin überzeugt, sie stellen heimlich Kriegsmaterial her. Untersuchen Sie das genau, mein lieber Tartarin, und vergessen Sie nicht, bei der Untersuchung einen Blick in die Bücher und Fabrikationsmethoden zu werfen. Das Vaterland fordert diesen Dienst von Ihnen.«
Tartarin war mit seiner Kopfrechnung fertig. Er konnte sich 25 Aktien kaufen und 150 000 Mark daran verdienen. In acht Tagen. Das Geschäft lohnte sich. Er dankte seinem Gönner. »Ich werde Ihr Vertrauen zu rechtfertigen wissen. Es liegt auf der Hand, daß in Niederheim Kriegsmaterial fabriziert wird. Die Kontrolle muß dort gründlich sein, so gründlich – denke ich – daß sie ein paar Wochen nicht arbeiten können.«
Die Augen des allmächtigen Deputierten ruhten mit Stolz auf seinem Schützling. »Ich freue mich, bei einem Soldaten so viel Verständnis für das Wesen des Wirtschaftskrieges zu finden. Sie sind der Mann, den Frankreich auf diesem schwierigen Posten braucht.«
»Mein Gönner!« wandte Tartarin in edler Bescheidenheit ein. »Ich tue nur meine Pflicht. Es wird auch den Hochheimer Aktien zugute kommen.«
»Wir bringen sie auf 1200, vielleicht noch höher.« Der allmächtige Deputierte sprang bei dieser Aussicht begeistert auf. Er umarmte Tartarin. Er hatte keinen Unwürdigen protegiert.