Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Werk der Vernichtung

Die Fabrik lag still, die Kessel waren gelöscht, die hohen Schornsteine reckten sich zwecklos wie hilfesuchend zum Himmel empor, die Kolben stampften nicht mehr, und die Treibriemen hingen schlaff und bewegungslos von den Rädern herab. Die Fabrik war zum Tode verurteilt.

Fleißige Hände hatten die Stätte der Arbeit vor einem halben Jahrhundert gegründet. Sie war gewachsen und hatte sich ausgedehnt, daß sie vielen Hunderten Brot und Verdienst geben konnte. Ihre Erzeugnisse zogen hinaus in fremde Länder, über das Meer in die fernsten Weltteile. Dann kam der Krieg. Jetzt galt es nicht mehr friedliche Produkte herzustellen, sondern Mordwaffen zum Schutze der Heimat. Neue Maschinen wurden aufgestellt, sie verwuchsen mit den alten, mit dem Gebäude selbst, daß sie nicht mehr von ihm getrennt werden konnten. Damit war das Schicksal der Fabrik entschieden. Sie konnte wohl auf den Friedensbetrieb wieder eingestellt, aber die Kriegsmaschinen konnten nicht herausgenommen werden. Sie selber mußte fallen. Die interalliierte Militärkommission hatte sie zum Sterben verurteilt; sie sollte gesprengt werden.

Der Werkmeister zahlte den Wochenlohn zum letzten Male aus. Es wurde unheimlich still in dem Gewirr von Rädern, Kranen und Dampfhämmern, die sonst nie zu rasten pflegten. Die Arbeiter verließen die Stätte ihrer langjährigen Tätigkeit. Die jüngeren waren guten Mutes. Ob hier, ob dort, Arbeit gab es überall. Mit zwei kräftigen Armen sucht man seinen Weg. Für die älteren bedeutete es Trennung von Weib und Kindern. Sie besaßen hier ein Häuschen und ein Stück Land. Davon mußte geschieden sein. Fetzt hieß es wandern und anderswo Arbeit suchen.

Das war bitter auf die alten Tage.

Manche Faust ballte sich, mancher Arm reckte sich anklagend in die Höhe, und manche Träne rollte in das vorgehaltene buntfarbige Taschentuch.

»Das Heulen hat auch keinen Zweck.«

»Weiß Gott nicht, aber es kommt einem so, weil man nicht dreinschlagen kann, dreinschlagen, daß …«

»Himmelkreuzdonnerwetter! Und von uns dachte doch keiner mehr an Krieg. Wir waren froh, daß er vorüber war.«

Der Direktor sprach mit einigen Angestellten und Arbeitern. »Von unserer Seite ist alles geschehen, was zur Rettung des Werkes möglich war. Die Regierung, der Botschafter in Paris und alle Behörden, die sonst in Betracht kommen, haben sich vergeblich bemüht. Die Franzosen bleiben dabei, daß die Fabrik gesprengt werden muß, da eine Umstellung zu Kriegszwecken jederzeit wieder möglich sei.«

»Haben Sie Garantien angeboten, daß nur Friedenswaren hergestellt werden sollen?«

»Sachliche wie persönliche. Es war alles umsonst. Es tut mir leid, daß ich Ihnen keinen besseren Bescheid geben kann. Ich selbst leite das Unternehmen seit 23 Jahren, es fällt mir sehr schwer, von der Stätte meiner Wirksamkeit zu scheiden. Vielleicht erreichen die Herren noch einen Aufschub, wenn Sie den Ententeoffizieren persönlich Ihre Gründe vortragen. Morgen soll das Vernichtungswerk vonstatten gehen. Ich bezweifle es ja, aber auch das Letzte muß versucht werden.« –

Tartarin hatte Mlle. Georgette nicht mitgenommen. »Es würde mir so viel Spaß machen, eine deutsche Fabrik in die Luft fliegen zu sehen,« schmeichelte sie.

»Es geht nicht, liebes Kind, beim besten Willen nicht.«

»Du hast es mir aber bestimmt versprochen.« Dabei stampfte sie mit dem Fuß. Seit sie sich du nannten, lächelte sie nicht mehr, sondern war sehr energisch.

»Du mußt doch einsehen. Ich fahre nicht allein. Die andern Offiziere …

»Sie werden schon begreifen, daß eine Französin den Wunsch hat, bei einem patriotischen Werk dabei zu sein.«

»Aber die beiden Italiener, die mitfahren …«

»Die Italiener?« Fräulein Georgette lachte. »Die Italiener können mir sonst etwas … Je m'en fiche.«

»Aber ich muß Rücksicht auf sie nehmen. Sie sind unsere Bundesgenossen. Ich als Vertreter der erhabenen französischen Republik …«

Fräulein Georgette ließ ihn nicht ausreden. »Ihr fürchtet euch vor den Italienern. Sag's nur offen.«

»Niemals!« brauste Tartarin auf. »Wir Franzosen fürchten uns nie! Und ich …! Georgette, du kennst mich. Ich habe viel für dich getan …« Tartarin wollte zärtlich werden, doch er kam schön an.

»Du für mich? Ich habe dich an meinen Geschäften beteiligt.«

Der Held verstummte. Das polnische Seidengeschäft war noch in der Schwebe, er mußte die Gefühle seiner Freundin schonen, aber mitnehmen konnte er sie nicht. In übelster Laune fuhr er ab. Das Unglück wollte, daß einer der Italiener auf der Fahrt neben ihm saß. Man sprach über die gemeinsame Tätigkeit, und der Italiener meinte, das Werk der Kontrollkommission sei so gut wie vollbracht.

»Ich glaube, in ein paar Wochen können wir nach Hause gehen.«

»Glauben Sie? Wir Franzosen denken nicht daran. Unsere Arbeit fängt erst an, die Abrüstung der Geister. Vorher gehen wir nicht aus Berlin weg. Das ist das Ziel unseres Sieges.«

»Des gemeinsamen Sieges,« verbesserte der Italiener.

»Er ist Frankreichs Ausdauer zu danken.«

»Ohne Italiens Hilfe wäre der Krieg schon 1915 verloren gewesen.«

Tartarin lachte höhnisch. »Frankreich war damals so unbesiegbar wie heute.« Die Anmaßung des Fremden empörte ihn. Von den Engländern mußte man sich manches gefallen lassen, aber diese Makkaroniesser und Murmeltierbändiger, diese armen Schlucker wagten zu mucksen! Sie konnten froh sein, daß das edle Frankreich sie an seiner Seite hatte mitsiegen lassen. In noch üblerer Laune als er abgefahren, kam er an.

Die Arbeiterdeputation mit ihrer Bitte um Aufschub hatte da schlechte Aussichten. Zuerst wollte der Held sie überhaupt nicht zu Worte kommen lassen.

»Es steht nicht in meiner Macht, die Befehle der Interalliierten Kommission zu widerrufen.«

»Wir bitten auch nur um einen kurzen Aufschub. Wir wollen noch einen Versuch machen, das Werk zu retten. Es sind viele von uns, die durch die Vernichtung von Haus und Hof vertrieben werden, viele alte Leute, die mit ihren Familien brotlos werden …«

Tartarin bedauerte das, aber das Glück der Völker stehe höher als das des einzelnen. »Europa muß Frieden, Frankreich will Sicherheit haben. Opfer sind unvermeidbar.«

»Keiner von uns will den Krieg. Die deutsche Arbeiterschaft ist friedlich. Sie ist bereit, die Garantie zu übernehmen, daß künftig nur Friedenswaren hergestellt werden.«

Der Italiener meinte, man könne den Vorschlag nach Berlin weitergeben, aber Tartarin durchschaute die Arglist der Deutschen. Sie versprachen alles, um ihre Fabrik zu retten. »Das sagen Sie,« wandte er sich zu den Leuten, »aber ihre Kinder werden anders denken. Sie werden sich auf das vertrauensselige Frankreich stürzen, ich darf mein edles Land dieser entsetzlichen Gefahr nicht aussetzen.«

Er befahl, daß das Vernichtungswerk seinen Lauf nehme. Der Leutnant Duval meldete ihm, daß es bis zu der Sprengung noch einige Stunden dauern werde. »Ich habe unterdessen das Frühstück herrichten lassen.«

»Ausgezeichnet, mein Lieber. Die Herren sind sicher nach der langen Fahrt hungrig.«

Das Essen war nicht übel. Tartarin sprach selber vorher mit dem Wirt. Requirieren durfte man ja leider hier nicht wie im besetzten Gebiet, aber es gab doch Mittel, den Leuten Verständnis für die Ehre beizubringen, die ihnen durch den Besuch der Sieger widerfuhr. Der Mann rückte mit seinem besten Mosel zu einem sehr mäßigen Preis heraus. Auch einen alten Kognak entdeckte der Leutnant Duval in seinem Keller, der besser durch die Kehlen hochgebildeter lateinischer Geister als deutscher Barbaren floß. Die Stimmung war beim Kaffee recht angeregt.

Tartarin erzählte von seinem Jagdabenteuer: »Meine Herren, Sie hätten das Entsetzen der Bauern sehen sollen, als ich mich als französischer Offizier vorstellte. Die Welt zittert, wenn der Name des siegreichen Frankreichs ausgesprochen wird.«

Er wurde durch die Ordonnanz unterbrochen. Es war lästig, daß man zu der Sprengung mußte. Kaum, daß man seinen Kaffee in Ruhe austrinken konnte. An Mittagsschlaf nicht zu denken. Die Pflicht rief, und mit weingerötetem Kopfe erreichte man in kurzer Fahrt die Stätte der Vernichtung.

Im weiten Umkreis war sie abgesperrt. Die ganze Arbeiterschaft und alle Angestellten des Werkes standen mit Weib und Kind da und starrten hinüber nach dem Gebäude, das ihnen jahrzehntelang Brot gegeben hatte. Kein Laut, war zu hören, Stille herrschte wie bei einem Leichenbegängnis, jeder fühlte, daß hier ein Leben umgebracht, nicht, daß tote Mauern niedergelegt wurden. Einzelne Frauen schluchzten, alle Blicke hingen an dem roten Bau und den hohen Schornsteinen. Noch standen sie aufrecht, vielleicht noch eine, vielleicht noch zwei Minuten, dann mußte der Krach kommen, und ein Menschenwerk barst zusammen.

»Der Turm wankt!« rief es plötzlich. Eine schwere Rauchwolke stieg auf. Ein Schrei des Entsetzens rang sich aus tausend Kehlen empor und übertönte fast den dröhnenden Laut der Explosion. Ein starker Stoß, einige leichtere folgten. Eine kurze Flamme zuckte auf, dann trieb der Wind die Rauchschwaden auseinander. Nur ein Haufen von Trümmern war übrig. Die dumpfe Angst auf all den bleichen Gesichtern löste sich. Die Kinder fingen an zu weinen, die Mütter zogen sie eng an sich, als müßten sie sie gegen eine unbekannte Gefahr schützen, die Männer durchbrachen die Sperre, um einen letzten Blick auf die Stätte ihrer Arbeit zu werfen. Dann hieß es, das Bündel schnüren und sich anderswo eine neue Existenz schaffen. Es war hart, aber die Sieger wollten es so.

Auf einen schlachterprobten Helden wie Tartarin konnte die Sprengung keinen Eindruck machen. Die überlegene Ruhe, die er in allen Gefahren bewahrte, blieb ihm treu. »Meine Herren, ich kann Ihnen sagen, ich habe ganz andere Schrecken durchgemacht. Kehren wir nach dieser Unterbrechung in unser Hotel zurück.«

Er bedauerte jetzt, daß er Georgette nicht mitgenommen hatte. Die Sache hätte ihr sicher Spaß gemacht. Und dann das polnische Seidengeschäft? Wenn sie ihm seinen Anteil nicht auszahlte?


 << zurück weiter >>