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Wir brauchen Tartarin

Der berühmte französische General, der Held aus tausend Schlachten, das Haupt der interalliierten militärischen Kontrollkommission, saß vor seinem Schreibtisch. Er war nervös, sichtlich nervös. Seine zarten, degengewohnten Finger spielten unruhig mit dem Klemmer, bald setzte er ihn auf die edel geschwungene Nase, bald riß er ihn wieder herunter. Er hatte Sorgen, schwere Sorgen!

Was nützte es ihm, daß er in dem elegantesten Hotel von Berlin die besten Zimmer bewohnte, was half es, daß ihm die armen Deutschen ein Gehalt von beinahe einer Million zahlen mußten, was endlich, daß sein großer Schreibtisch leer von Akten war und daß er herzlich wenig zu tun hatte? Er hatte Sorgen, schwere Sorgen!

Die andern Helden Frankreichs hatten es gut. Foch, Petain, Castelnau und wie sie alle hießen, genossen jetzt des Sieges und ließen sich feiern in den entlegensten Ländern dies- und jenseits des Ozeans, er aber saß in Berlin, inmitten der Feinde, inmitten der schrecklichen Deutschen. Die Taten der andern gehörten der Vergangenheit an, auf ihm aber lastete die Zukunft, die Zukunft Frankreichs, die Zukunft der Welt. Mit einem Häuflein von wenigen hundert Offizieren war er berufen, Deutschland zu überwachen und Frankreichs Machtstellung, die es mühsam durch den Krieg errungen hatte, zu bewahren. Und darunter waren Engländer und Italiener, Bundesgenossen freilich, aber Bundesgenossen, denen man nicht über den Weg trauen konnte.

Der General lachte höhnisch, als er an diese Mitarbeiter dachte. Nein, nur auf seine Franzosen war er angewiesen. An ihrer Spitze wollte er siegen oder fallen. »Es lebe Frankreich!«

Der Held rief es unwillkürlich und warf dabei den Klemmer auf den Schreibtisch. »Es lebe Frankreich!« Es war der Ruf, der ihn in allen Gefahren aufrecht hielt. Sein Adjutant fuhr aus seinem bequemen Klubsessel empor. Er hatte die langen Beine von sich gestreckt, das gedankenreiche Haupt auf die Brust gesenkt und hielt die Augen geschlossen. Man konnte glauben, er wäre eingeschlafen. »Es lebe Frankreich!« Bei dem Ruf zuckte er zusammen, und seine Hand griff nach dem Degen. Mit einem Schlage war er ganz Wille und Energie. Er sprang auf, und auch der General sprang auf. Sie standen sich gegenüber mit funkelnden Augen und klopfendem Herzen, der lange Adjutant und der kleine General, der Mann der Tat und der Mann des Gedankens. Jetzt hätte eine Rotte Deutscher kommen sollen! Es war gar nicht auszudenken, was ihnen passiert wäre.

Der General lächelte wehmütig. »Setzen Sie sich wieder, mein lieber Castelin, es geht nicht mehr in den Kampf. Die große Zeit ist vorüber. Aber es gibt schwerere Aufgaben, als sein Blut für Frankreich zu verspritzen.«

Der Adjutant nickte und fiel in den Sessel zurück. Er war erst gegen sechs Uhr morgens nach Hause gekommen, jetzt war es zehn, und seit einer Stunde war er schon im Dienst. Der General hatte recht, recht wie immer, ihre Aufgabe war sehr schwer. »Diese Verantwortung, diese Last der Geschäfte! Und dabei fern der süßen Heimat, unter fremden Menschen, in einem unbekannten Land.« Castelin hatte gestern sehr viel getrunken, er wurde sentimental.

Sein Chef kannte solche Anwandlungen von Schwäche nicht. »Wir müssen es tragen, wir sind es dem Vaterlande schuldig.« Unruhig lief er in dem Zimmer hin und her, bis er vor dem Adjutanten stehen blieb. »Und dazu diese unangenehme Geschichte mit dem Oberstleutnant Abraham. Von Paris verlangt man telegraphisch seine Abberufung; einer meiner tüchtigsten Offiziere. Was ist denn eigentlich los?«

»Er machte eine Dienstreise nach … nach … wer kann diese entsetzlichen deutschen Namen behalten? … um die dortige Fabrik auf Waffen zu untersuchen.«

»Das war seine Pflicht.«

»Abrahams Bruder arbeitet in denselben Artikeln. Natürlich hatte er ein besonderes Interesse für die deutsche Konkurrenz, und da hat er sich einige Aufzeichnungen über die Fabrikationsmethoden und die Patente der Deutschen gemacht.«

»Und deshalb ruft man ihn ab? Mein Gott, finden Sie das so schlimm?«

Der Adjutant zuckte die Achseln. »Ich nein. Dafür sind wir doch Sieger, daß wir von den Deutschen alles verlangen können. Aber Abraham hat seine Aufzeichnungen im Kupee liegen lassen und dummerweise selbst auf dem Fragebogen bemerkt: Sehr wichtig, aber nach dem Friedensvertrag unzulässig.«

Der General spielte wieder mit dem Klemmer. »Dumm, dumm, dumm. Eine dumme Geschichte.«

»Die Sache kam in die deutsche Presse. Die Engländer griffen sie natürlich auf, und in Paris bekam man Angst.«

»Wie immer. Mein Gott, wann wird sich das Ministerium zu größerer Energie aufraffen? Glauben die Herren, daß ich Deutschland entwaffnen kann, wenn sie mir keinen Rückhalt bieten und mich an die Engländer verraten? Wegen dem bißchen Handelsspionage muß ich einen meiner besten Offiziere hergeben?«

»Mein General, ich habe ihm niemals getraut.«

»Dem Oberstleutnant Abraham? Er haßte die Deutschen wie der beste französische Patriot. Noch vorige Woche sagte er mir, daß ihm beim Anblick eines Deutschen ein körperlicher Ekel überlaufe. Er ist ein guter Franzose.«

»Mein General, er verstand Deutsch.«

»Deutsch? Die Sprache unserer Feinde?« Der General mußte sich setzen. Der Schrecken fuhr ihm in die Glieder.

»Er las und sprach es fließend, nicht so, wie wir es auf der Kriegsschule lernen. Ich hab' es mit eigenen Ohren gehört. Ich glaube, er hatte sogar Verwandte in Berlin.«

»Das sagen Sie mir jetzt erst?« Der Adjutant stammelte etwas von Kameradschaft. »Keine Kameradschaft der Welt durfte Sie abhalten, mir so gravierende Umstände zu melden. Jeder, der Deutsch kann, ist verdächtig. Der Verrat lauert in dieser Sprache. Kein guter Franzose wird sie je erlernen. Jetzt durchschaue ich ihn, er war nur hergekommen, um Handelsspionage zu treiben, wenn nicht gar, um Frankreich zu verraten. Lassen wir ihn fallen, reden wir nicht mehr von diesem Unwürdigen. Wer soll an seine Stelle treten?«

»Der Kommandant Tartarin.«

Der große Name war ausgesprochen, eine Weile herrschte feierliche Stille. Dann schüttelte der General den Kopf. »Ich kenne den Kommandanten Tartarin. Er ist einer der besten Männer Frankreichs, wir könnten keinen Würdigeren finden, aber es geht nicht.«

»Mein General, ich versichere auf Ehre und Gewissen, Tartarin kann kein Wort Deutsch, und er wird niemals eins lernen. Er hat nie ein deutsches Buch gelesen, ja er liest überhaupt nicht, sondern er handelt. Er hat sich in Drachenheim unsterblichen Ruhm erworben, die Deutschen zittern vor ihm, er ist der Mann, den wir brauchen.«

»Ich glaube es, lieber Castelin. Sie vergessen nur das eine. Die Stelle war mit einem Oberstleutnant besetzt; wenn wir dafür einen Major nehmen, sparen wir den Deutschen 12 000 Mark im Monat. Das ist unmöglich.«

Der Adjutant sah es ein, aber er fand einen Ausweg. »Mein General, der Kommandant Tartarin hat solche Verdienste und steht auch in der Altersklasse so hoch, daß er außer der Reihe zum Oberstleutnant ernannt werden kann.«

Der General lächelte. »Sie sind noch jung. Sie kennen das Kriegsministerium nicht. Man hat dort wenig Verständnis für das wahre Verdienst.«

»Aber Tartarin besitzt einen Gönner in Paris.«

Der General spitzte die Ohren, der jüngere Offizier flüsterte ihm einen Namen zu, und dieser Name hatte eine erstaunliche Wirkung, wo er auch ausgesprochen wurde. Der General kniff die Lippen zusammen, bis ihnen ein pfeifender Ton entfuhr.

»Ist das so? Nun dann telegraphieren Sie, lieber Castelin, an das Kriegsministerium, an den Mann, dessen Namen Sie soeben genannt haben, an das Kommando der Besatzungstruppen und an unsern Tartarin. Wir wollen und müssen ihn haben. Telegraphieren Sie dringend. Sie können auch einen Kurier nach Paris schicken. Sparen Sie nichts, es geht ja auf Kosten der Deutschen. Ich danke Ihnen, lieber Castelin.«

Der Adjutant erhob sich und griff nach seinem Kepi. Des Tages Arbeit war vollbracht, der Dienst war für heute erledigt. Er atmete auf. Er wollte schon vergnügt das Zimmer verlassen, als der Vorgesetzte ihn zurückrief. »Wir haben mit dem Abraham schlimme Erfahrungen gemacht, sind Sie auch sicher, daß Tartarin keine Verwandte in Deutschland besitzt?«

»Mein General, ein Mann wie Tartarin würde das als die schlimmste Schmach betrachten.«

Der Vorgesetzte machte eine begütigende Handbewegung. »Nein, mein General, es gibt keine Tartarins außerhalb Frankreichs. Dieses illustre Geschlecht gedeiht nur auf französischem Boden. Auch andere Völker mögen einzelne berühmte Männer besitzen … ich kenne sie nicht, und kein guter Franzose will sie kennen lernen, aber einen Tartarin gibt es nur in Frankreich.«

Der General drückte seinem Untergebenen voll Rührung die Hand, eine Träne schimmerte in seinem Kriegerauge. Er brauchte sich ihrer nicht zu schämen, denn sie galt Frankreich.


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