Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Die Frau

Nächtliche Flieger sangen im Mondlicht. Von den aufwärts dröhnenden Stimmen der Maschinen erzitterten die Scheiben.

Michael sah nicht hin, in den toten Körper seines Kindes versunken. Bläulich schimmernd, gekrümmt wie eine Eisblume lag es auf der Leinwand des Bettes. Jetzt, von den Fliegern verlassen, verstummte das Haus wie der Himmel. Alles schien in einem Sarg in die Erdtiefe zu fallen.

Dann ließ ihn ein Gedanke auffahren, sodaß die Staubkörnchen der Mondlichtsäule wirbelten. Diese regungslose Nacht, diese stille Welt log. Denn dort gegen Süden, in der Ferne, in der Stadt, begann jetzt ein Fest, in der Friedhofsstille, ein Ball –

Und seine Frau wird dort tanzen. Sie weiß nicht, daß ihr Kind gestorben ist, und sie wird es nicht ahnen. Es kam schnell wie ein Blitz. Aber sie muß es wissen. Sonst wird das traurige Bett hier bald im Takt ihrer schlenkernden Füße tanzen. Alle Gespenster werden sich rühren, wenn sie in dieser Nacht ein Fest feiert.

Und seine Jagd begann, Jagd auf die Nacht, auf ihr Fest, auf ihr Herz. Er schellte. Die falsche Stille hörte auf, mit dem Gellen der Glocke, mit dem Getrappel der Leute. Bringt diesen Brief hin, durch Auto und Flugzeug!

Hinab sank der Bote im Lift und stieg in den Wagen vor der Tür, während Michael zugleich den schnelleren Motor 89 der Stimme nahm, Telefon. Durchs Fenster sah er die Abfahrt des Wagens, der hallend zum Flugplatz davonstob, wo der dröhnende Vogel sich sogleich emporschrauben wird, während er selbst schon mit der Stadt sprach. Mit den unsichtbar sich meldenden Beamtinnen suchte er Lissys Stimme, rief die Nummer aller ihrer Freunde an und Schneiderin, Friseur, Maskengeschäft, und fand sie auch nicht mehr in den abendlichen Speiseräumen. Schattenhaft kamen und schwanden in stammelnden Scharen nur unbekannte Stimmen, die sagten überall: Sie ist fortgegangen. Dann ertönte in den Drähten nichts mehr als ein hohles Sausen, durchkreuzt von einem gellenden Pfeifen.

Hinter ihm lag der stumme kleine Mund, geschlossen wie die Augen. Das hüpfende Herz starrte hart wie ein Stein aus der Brust, während durch die tanzende Tür in nacktem und buntem Kleide wippend zwischen den pudrigen Lichtsäulen die schöne Frau jetzt den Ballsaal betritt. Immerhin, die Wahrheit ist auf dem Wege zu ihr. Die Boten des toten Kindes kommen mit ausgespannten Flügeln, um ihr die Warnung noch zuzuschreien. Sie wollen das Heil ihrer Seele retten, sonst würde wohl Scham und Ekel ihr Leben lang sie bedrücken.

Wirklich? dachte er. Ist das die Wahrheit? Ist das – Lissy? Nein! antwortete er. Du wünschst sie so! Wenigstens durch die Todesstunde eures Kindes möchtest du mit ihr noch verbunden sein!

Aber warum haßt du sie, wenn sie jetzt tanzt? Tut sie es nicht unwissend und muß sie sich schämen, weil sie zufällig tanzt? Ja! Für alle Ewigkeit wird sie zur Hexe verzerrt sein, als lustig quirlende Steperin des Charleston in ihres Kindes Todesstunde!

Aber denkst du es nur um eures Kindes willen? Nein! Zu 90 deiner eigenen Qual tanzte sie längst! In vielen schmerzlichen Stunden ließ sie dich so zurück. Auch in dieser Woche, zum Feste fahrend, trennte sie sich von dir nach dem qualvollsten Gespräch. Weshalb Tränen von ihr verlangen, wenn sie zufällig wieder tanzt? Weshalb soll sie dir trauern helfen, indessen ihre Freunde bei ihr sind? Du wünschest es um deinetwillen! Du benutzest den Tod deines Kindes! Deine Todesboten sind Liebesboten an die Frau, deren Liebe zu dir tot ist. Zündet ein aufgestörtes Fest die erloschene Liebe wieder an? Liebst du in wahnsinniger Treue die Vergangenheit – willst immer wieder die Leichenlippen der Vergangenheit mit deinen treuen Küssen beleben?

Er stand auf, von seinem Platz in der Nacht, in der Mondlichtsäule zwischen dem leeren Himmel und des Kindes ausgebrannten Augen. Er ging an den Hörer zurück, in dem das Geläut der kommenden Gespräche wartete. Und er meldete sie alle ab. Und er ließ hinter dem Flugzeug her funken und den Wagen vom Flughafen in die Garage fahren. Zurück rief er alle seine Boten, daß sie in jähen Kurven umwandten. In dunklen Kreisen wie eine Trauermusik umzog der Widerruf sein Herz. Gern wäre er hinauf geflogen, zum Herrn der Welt, um zu fragen, warum er ihm alles gegeben und alles genommen hatte. Aber er war kein Gottesflieger, er blieb stumm, er saß wie ein Gespenst in der Mitte des nächtlich von ihm erregten Wirbels. Und wie die Sterne einander in unwandelbarer Entfernung halten, fühlte er zwischen der tanzenden Frau und dem geliebten Kinde seine Einsamkeit flimmern, den Fixstern, dessen einziges Fest der Tod ist. 91

 


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