Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Einen Griff verfehlt

Rasche Schicksale gibt es, unter deren Blitz sich die Worte wie eine Herde zusammendrängen – zu einer ebenso kurzen Geschichte.

Wenn der Zug der Untergrundbahn von der Station abrollt, schwingt sich der Begleitschaffner des Führerwagens im letzten Augenblick hinein. Er tut es mit einer so selbstverständlichen Gebärde, seine Miene ist so ruhig, ja heiter, daß man nicht auf den Gedanken kommt, der Wagen könne jemals ohne ihn davon fahren. Aber da war ein junger Schaffner, der eines Morgens diese gemächliche Selbstsicherheit übertrieb, gerade weil er den Dienst noch nicht lange versah. Als er nach dem blinkenden Griff neben der Wagentür faßte, – es lag an einer Kleinigkeit, es geschah um einen Sekundenteil zu spät, um eine Muskelspannung zu schwach –: er verfehlte die messingene Klammer.

Blaß vor Erregung über den beschämenden Unfall und mit verlegenem Lächeln sah er sich um. Aber die Kollegen vom Stationsdienst hatten die Sache im Gewimmel des Publikums, das schon auf den nächsten Zug wartete, nicht bemerkt und zogen sich in ihre Amtszelle zurück. Er sah in den Tunnel: noch einmal winkte das rote Licht seines Zuges aus dem Dunkel zurück und verschwand.

Wie im Traum schossen ihm irgendwo gehörte Worte durch den Kopf: ». . . aus der Bahn geschleudert . . . !« Er hätte 76 hier vielleicht auf die Rückkunft seines Zuges warten können, aber etwas stachelte ihn, als müßte er sofort das Schicksal wieder einholen. Mit einigen Sprüngen über die nahen Treppenstufen war er an der Oberwelt. Neben dem Ausgang standen Autodroschken. Er warf sich in die erste: Zur nächsten Station! Im selben Augenblick ging das Ampellicht vor ihnen auf Rot. In ohnmächtiger Aufregung rutschte er auf dem Polster hin und her. Der Wagen stand und verlor die Sekunden, auf die es ankam. Endlich fuhren sie los, mit einem Ruck half er dem Motor gewissermaßen vorwärts. Aber bei der Station hörte er bereits zwei Züge abrollen, einer davon war der seine. Weiter, zum nächsten Bahnhof! Er muß in sein Amt, er muß hinunter an seine Beobachterscheibe, ins Dunkel. Hier im Auto der Oberwelt, im Sonnenlicht, erschien er sich wie ein Fremder. Und während der Wagen um die Ecken hetzte, vor roten Farben sich bäumte, durch die grünen hindurch flog, vorbei an einem ganzen Karussell sich drehender Verkehrspolizistenarme, durch das Gewühl der Menge, über dem leeren, unsichtbaren, durch den Asphalt leise herauf donnernden Untergrund: – dachte der Schaffner schwindlig an einen dicken älteren Herrn, der vorhin an der Tür des Abteils gestanden hatte. Der war schuld. Der hatte die Tür versperrt. Der hatte ihn aus dem gleichmäßigen Ablauf seines Dienstes geworfen. Hoffentlich würde man Den noch unten im Abteil erwischen! Er feuerte seinen Chauffeur an und versprach ihm eine Belohnung. Dabei fiel ihm ein, daß er nicht einmal das bloße Fahrgeld bei sich hatte. Aber angelangt, sprang er hinaus, rannte auf den Eingang zu, wurde von dem Chauffeur, der schreiend folgte, auf der Treppe gepackt, hörte voller Verzweiflung die Züge unten wieder davon rollen, riß sich los, lief zur Autodroschke zurück. Er warf sich ans Steuer, während der 77 Chauffeur ihm nachkeuchte, und fuhr ab, in der Richtung des letzten Bahnhofs.

Doch schon an der nächsten Straßenecke stieß er gegen eine Plakatsäule. Während man den jungen Schaffner sterbend in den Trümmern des Wagens fand, wurde sein Zug drunten an der Endstation von einem neuen Begleiter bestiegen. 78

 


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