Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Knabenstreich

Der Vater war mit seiner gesamten Nachbarschaft in der kleinen Landhaussiedlung zerstritten. Viel Feind, viel Ehr, dachte er wohl, wenn er in dieser etwas unheimlichen Lage niemanden grüßte und von niemandem gegrüßt wurde. Desto stärker widmete er sich seiner Familie. Aber er widmete ihr leider auch seinen Zorn.

Wie konnte er bei so vereinsamter Stellung noch einen Zwist mit dem fünfzehnjährigen Sohne wagen? Georg war ein gutartiger Junge, aber in diesem Alter hat jeder etwas bedrohliches. Außerdem zwingt man die Rache geradezu vom Himmel herab, wenn man einen Kuß mit einer häßlichen Strafe belegt. Georg hatte Cora geküßt. Sollte er vielleicht seinen Vater, der ihn dabei überraschte, vorher fragen? Es war eine Angelegenheit seiner Generation.

Der Vater konnte in seiner unruhigen Verfassung diesen liebenswürdigen Vorgang nicht ertragen und verurteilte den Jungen zu Stubenarrest, auf unbestimmte Zeit. Aber es gab in dem kleinen Hause, aus Nachlässigkeit oder aus gegenseitiger Vertrauensseligkeit, kein geeignetes verschließbares Zimmer. So kam das Häßliche in die Sache: Der Vater sperrte den Sohn in die Toilette.

Da geschah etwas Unerwartetes. Es war ganz einfach und ging in seiner Bedeutung doch weit über den engen Bezirk 38 hinaus. Kaum hatte der Vater den Schlüssel außen herumgedreht, als er hörte, wie Georg innen den Riegel vorschob.

Nach einer Weile wurde die Haft für beendet erklärt, zumal da ein anderes Mitglied der Familie, ein ganz schuldloses, eben diese Zelle besuchen wollte. Der Vater schloß auf. Aber die Tür ging nicht auf. Der Vater drückte die Klinke herab und sagte, Georg könne herausgehen. Man vernahm nur ein gelassenes Schnauben des Gefangenen. Es ist aufgeschlossen, wiederholte der Herr des Hauses. Aber es blieb zugeriegelt. Niemand kam heraus, und das unschuldige und schon sehr ungeduldige Familienmitglied kam nicht hinein.

Jetzt erkannten Alle, daß der junge Mensch da drinnen zum Rebellen gegen eine Ungerechtigkeit geworden war. Er hatte den Spruch wie einen Spieß umgedreht. Ja, der verwegene Mensch hatte seinerseits die ganze Familie verurteilt und die Lage verhängnisvoll in ihr Gegenteil gewandt. Indem er die Tür für die Außenwelt abriegelte, als man ihn in der Innenwelt einschloß, machte er sich, wenn auch in einem winzigen Ausschnitt, zum Herrn beider Welten. Da half der donnernde Zorn des Vaters ebensowenig wie die erklärte Sehnsucht der übrigen Angehörigen, die ihn nunmehr gern wiedergesehen hätten. Selbstverständlich konnte es der Vater mit seiner Ehre nicht vereinbaren, daß einer der Seinen etwa ein Haus der verfeindeten Nachbarn aufsuchte. Auch ein Angriff des jüngeren Bruders, der mit indianischer Lautlosigkeit vom Hofe zu dem kleinen Fenster emporklomm, scheiterte an der furchtbaren borstigen Waffe, die der Belagerte schwang. Er war der Belagerer geworden. Seine Tat reichte weit hinaus über Raum und Zeit.

So konnte die Familie die Lösung nicht herbeiführen, die nur aus der Ferne kommen konnte. Der Vater sah seine 39 Lebensauffassung besiegt, er mußte an einen rettenden Engel telefonieren. Als Georg Coras Stimme draußen erklingen hörte, blieb er nicht länger an Ort und Stelle. Eine Lehre hatte er den Seinen und den Menschen überhaupt erteilt: Wenn man eine Tür verschließt, steht es nicht ohne weiteres fest, wer dadurch gestraft wird. Mit zufriedenem Nicken trat er in die Freiheit hinaus, und er gab sie auch den anderen wieder. 40

 


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