Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Die Schuld

An seinem siebzehnten Geburtstage ging Georg gedankenvoll durch die Straßen seiner kleinen Stadt zu dem herbstlich angeschwollenen Flusse. Seine dunklen Augen funkelten unruhig wie die eines Eichhörnchens durch das verworrene Gestänge der hölzernen alten Brücke. Heute hätte er gern irgendein Abenteuer erlebt, ehe der Geburtstag vorüber war.

Da sah er einen der Balken in der abendlichen Dämmerung sich bewegen, – es war ein Mann, der langsam über das Geländer der Brücke stieg.

Er rannte hin und faßte ihn im letzten Augenblick. Der Mensch wehrte sich wütend und hängte sich weit über das Wasser hinaus. Der Anzug drohte zu zerreißen. Mit einem geschickten Jiu-Jitsu-Griff brachte der Junge den Selbstmörder endlich auf den Boden zurück.

Dort brüllte der Mann wie ein Tier. Georg streichelte ihn, ganz glücklich über seine Tat. Mit großer Anstrengung schleppte er ihn von der Brücke herunter, bis zur nächsten Polizeiwache.

Er setzte ihn auf die Bank und erklärte, er habe ihn gerettet. Der Herr Kommissar möge nur gleich feststellen, wer es sei. Vielleicht könne er noch mehr für ihn tun, als sein Schutzengel.

Die Beamten, denen einige sonderbare Bewegungen des Mannes auffielen, leuchteten ihm ins Gesicht. Sie stellten fest, es war ein Blinder. 13

Sie sahen den Jungen an und zuckten die Achseln. Eine Weile stand er da, aber man erwartete ihn zu Haus. Bei Tisch konnte er nicht essen, mit den Eltern konnte er nicht sprechen. Er konnte in der Nacht nicht schlafen.

Ihm war, als ob auf seine Schultern mit einem Male eine furchtbar schwere Last gelegt worden sei. Gestern war er noch frei und unbeschwert, und heute liefen seine Gedanken entsetzt durcheinander wie ein Ameisenhaufen, in den ein riesiger Ast hineingestürzt ist. In fieberhafter Betäubung lag er da und zum ersten Male war ihm, als sei er nicht allein – aber er konnte es sich nicht erklären, wer bei ihm war und was er getan hatte. Wenn es schlecht gewesen war, so wollte er es wieder gut machen – es wieder ungeschehen machen, dachte er und stand auf.

Als er in die trübe beleuchtete Wachstube eintrat, lag der Blinde auf der Bank. Der Junge nickte dem Beamten zu: Er hat es hier nicht gut! Er hob ihn unter den Achselhöhlen auf und schleppte ihn leise hinaus. Zwischen den totenstillen Häusern hörte er den Menschen flüstern: Ich wußte, daß du kommst, du kannst gar nicht mehr nach Hause gehen, du kannst nicht mehr zur Schule gehen, du mußt nun immer neben mir gehen . . . Ja, ja, antwortete der Junge fieberhaft. Zu mir gehörst du, flüsterte der Mann, du bist nun mein Blindenführer geworden, du bist mein Blindenhund . . . Ich weiß es, sagte der Junge. Wohin führst du mich? schrie der Mann, ja, führen mußt du mich mein Leben lang, ich bin blind mein Leben lang . . . Aber ich bin noch so jung, antwortete Georg.

Jetzt begann es nahe und immer näher zu rauschen und Georg sagte: Höre, der Fluß ist noch da, er ist wieder da, wir sind wieder auf der Brücke –

Er ließ ihn los. Der Mann stöhnte und kletterte langsam tastend auf das Geländer. Diesmal wandte er den Kopf nach Georg um – ob er noch zurückgerufen würde. Aber diesmal rührte sich nichts. Da ließ er sich hinabfallen.

Georg schlich durch die totenstillen Straßen nach Haus. Mitternacht war vorüber und der Geburtstag. Als er zitternd wieder im Bett lag, war ihm, als sei eine Kette von seinen Händen abgefallen und lege sich nun klirrend um sein Herz, und er weinte bis zum Morgen. 15

 


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