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Am Bette eines Kranken saß ein junger Mensch. Soeben hatte der Arzt den dumpfen Raum des großen Landhauses verlassen, um zu anderen zu gehen, denen noch zu helfen war. Die alte Porzellanuhr, bleich wie ein Mond über all dem Weißen des Sterbebettes, tickte dünn. Jeder ihrer Laute hatte jetzt eine unheimliche Bedeutung, wie ein Schritt dem Tode näher.
Kann man die Zeiger der Zeit verstellen? dachte Georg. Er erschrak über diesen sehr bestimmten Gedanken. In dieser Nacht nämlich, mit dem Schlage zwölf Uhr, sollte ein neues Gesetz in Kraft treten: Es schloß die entfernten Verwandten eines Toten von jeder Erbfolge aus. Mit diesem Sterbenden war er nur in geringem Grade verwandt, und dennoch wurde er Herr eines großen Vermögens, wenn der einsame arme Reiche vor Mitternacht verschied. Aber eine Minute danach, und Georg blieb so dürftig wie bisher.
Er wartete, während das Dorf rings um das stille Haus in der Dämmerung schon einschlief. In der fernen Großstadt, aus der er gekommen war, flammten jetzt gewaltige Lichtgebäude auf. Hier dunkelte das Lager, schwarz vom Tod. Doch in seiner ungewissen Unruhe, noch verstärkt durch den Frieden der ländlichen Umgebung, blendeten Träume von einer prächtigen Zukunft auf. Manchmal neigte er sich über das blasse Gesicht und faßte nach dem Puls. Wie durch einen 22 elektrischen Draht, von der Stirn bis zu den Fingern, durchlief ihn die furchtbare Spannung, die Frage des Lebenden an den Sterbenden: Wie lange noch?
Nein – das konnte nicht sein, daß er einem Menschen den Tod, auch nur einen beschleunigten Tod aus solchem Grunde wünschte, dachte er empört. Er stand auf und dehnte die Glieder. Lebe nur! – Aber der Zufall? Wenn dieser Mann doch sterben mußte, soll der sinnlose Zufall entscheiden, ob Georg ein herrliches oder ein trauriges Leben führen würde? Ein übermenschlicher Wille durchzuckte ihn, das sinnlose Abrollen der Zeit zu unterbrechen, etwas gegen die Zeit zu tun – was wollte er tun? Er schämte sich wegen seiner Überlegungen und er mißachtete zugleich diesen Tod, der nicht die erhabenen Züge der Statue mit der gesenkten Fackel trug sondern wie ein Spieler aussah, zweideutig grinsend über die Macht des Zufalls. Ja, dieses Sterben war wie eine Wette. Er starrte ins Dunkel –: ein Tanz von Gespenstern verschlang sich zu einem bläulich glänzenden Zeichen, zu einem geschlängelten Paragraphen. Er stand über dieser Nacht!
Und zu ihm aufblickend wartete Georg – in teuflischer Hoffnung – und gleichzeitig fuhr es wie aus der Kindheit durch seinen Sinn, daß er so gern ein Engel gewesen wäre! Sind die Menschen nicht wie Engel, die sich mitten im Leben immer wieder die Flügel herunterreißen und diese Flügel in ihren Händen wie scharfe gefährliche Waffen gegen einander schwingen?
Georg schloß die Augen und ging hin und her. Der Pendel der Uhr ging mit ihm hin und her. Aber die Zeit schreitet weiter, ins Unendliche hinaus, über die Mitternacht hinaus. Regungslos stand nur das Bett auf seinen harten Beinen da und ließ sich Stunde für Stunde von der Zeit überrunden. Ein 23 ungleiches Wettrennen, dachte der junge Mensch. Vom Dorfturm schlug es mit breitem Baß elf Uhr. Jetzt blieb nur eine einzige Stunde.
Er trat an das Bett. Der Kranke rührte sich kaum. Georg entschloß sich. Wenn hier nur der Zufall galt, dieses Spiel wollte er gewinnen. Er hob die Hand und griff langsam über den grauen, kaum atmenden Hals des Kranken hinweg nach der Porzellanuhr an der Wand. Er hielt sie an.
Nach einer Weile begab er sich ins Vorzimmer, holte die Krankenschwester und schärfte auch dem Diener ein, in seiner Abwesenheit sorgfältig achtzugeben. Dann trat er in den Garten und ging leise auf den rückwärtigen Wegen ins Dorf. Kein Haus hatte mehr Licht. Als er vor dem Kirchturm ankam, standen die beiden blinkenden Zeiger auf wenige Minuten vor Zwölf. Durch die enge Turmtür stieg er über die Wendeltreppe bis zu der inneren Wand des Uhrgehäuses. Er zwängte den Kopf und die Arme durch die Luke hinaus:
Wie ein Schwert und ein kleinerer Dolch ragten die Zeiger gerade unter seiner Kehle auf, und die Stunde wollte im nächsten Augenblick voll werden. Da griff er zu. Er umklammerte die dicke Stange des Minutenzeigers. Die eiskalten Zacken bohrten sich in seine Finger. Er hielt fest. Er fühlte, wie es im Innern seiner Faust anzog, ein starkes hartes Tier, das sich befreien wollte. Aber alle seine Muskeln eilten zur Hilfeleistung hinaus, er würgte die Uhr, es bewahrte ihn ja vor einem Mord. Wenn er das kurze, immer wieder anspringende Zucken und Stöhnen in dem Holzkasten unter seinem Leibe spürte, wie von einem niedergehaltenen Ringer – so war es doch kein Mord an einem Menschen. Nun drang kein einziger Glockenton hinab in das zeitlos schlafende Dorf. Diese Pause in der Mitternacht verlängerte die Frist. Sie war lang genug, um darin 24 sterben zu können. Wie ein Riegel lag sein Arm vor der Zeit und ließ durch ihre Tür nur noch den nahen Tod hindurch.
Endlich löste er die blutenden Hände ab, und sogleich keuchten die zwölf gefesselten Stundenschläge hervor. Zitternd stieg Georg hinab, auch der Turm um ihn bebte von dem zornigen Donnerton bis zum Fuße. Nun schlich er durch das widerhallende Dorf zurück. Er wußte ganz sicher, was ihn erwartete: ein Haus, das ihm allein gehörte, die reichsten Dinge, die schönsten Frauen. Er dehnte sich im seidenen Bett oder fuhr im luxuriösen Wagen durch die Welt – oder regte er sich nicht, wie unter einem Albtraum –? Das kam von dem weißen Gesicht, von dem Leichenleib, der sich quer durch all die Wunderträume hindurch streckte und alles erstarren machte. Georg stockte und lief doch wieder rascher durch das summende Dorf. Das Gesicht des Toten erwartete ihn. Er sah es wie einen Mond, unausweichlich. Und dies Leichenantlitz, das ihm gar nicht ähnlich gewesen war, obwohl er doch alles von ihm erbte, wurde ihm jetzt in Gedanken verwandt, seine Leere begann sich schauerlich zu füllen: Die Augen des Toten wurden zwei starr glänzende Goldstücke, die Nase eine Rolle und der Mund zwei Rollen Goldstücke, das ganze verstorbene Antlitz eine Schale voll Geld.
Georg stand still. In den kleinen Häusern neben ihm richteten sich schlafende Menschen in ihren Betten auf und blickten ihn durch die gardinenlosen Fenster mit geschlossenen Lidern an. Sie flüsterten wie letzter Glockenhall: »Das neue Gesetz! Der Zufall! Gewonnenes Spiel mit dem Zufall! Aber spiele nicht mit dem Gesetz! Es ist für Alle! Laß das Gut sterben und auferstehn, auferstehn für Alle! Das ist das neue, fälsche es nicht, das ist das neue Gesetz!«
Plötzlich lief der junge Mensch durch die mondhelle Straße 25 so rasch wie ein Rennpferd vor dem Ziel. Er stürmte durch die Tür. Der Diener und die Schwester erhoben sich erschrocken, legten den Finger auf den Mund und führten ihn zu dem Toten. Leise berichteten sie, daß der Herr vor einer halben Stunde, kurz vor dem Schlagen der Mitternacht, verschieden sei. Georg sah einen Augenblick hinab. Wie in einem spiegelnden Abgrund erschien dort in der leblosen Tiefe noch ein Mal sein eigenes Gesicht. Dann griff er nach der porzellanen Uhr an der Wand, stellte sie richtig und stieß den Pendel an, während draußen der Kirchturm gerade wieder dröhnend anschlug. »Ihr hört«, sagte er, »es ist schon Eins. Die Uhren sind vorhin stehen geblieben, und so ist der Herr in Wahrheit erst nach Mitternacht gestorben, unter dem neuen Gesetz.« Er fühlte bei seinen Worten, wie seine Hände leer wurden, aber sie wurden leicht und frei, zur Arbeit. 26