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Hungrig trat ich aus dem kalten Herbstabend in ein Automatenrestaurant. Es war wie immer sehr voll; aber die graue Menschenmenge zwischen den bunt gemalten Wänden zeigte nur heitere Gesichter. Die gläserne Decke des langen Raumes war ein einziges, blendend weißes Licht, das die Fülle dieser paradiesischen Büffets vollkommen beleuchtete. Ich lächelte unwillkürlich wie die anderen, als sei ich in ein Schlaraffenland getreten. Dieser Eindruck wurde auch durch den unscheinbaren Zettel genährt, der mir am Eingang aufgenötigt wurde: Mit dem Zettel sollte ich an jedem Tische ohne Zahlung jede Speise erhalten, und wenn auch die Ziffern dieses Paradies-Schecks mit einer rohen Zange geknipst wurden, hatte man nicht das Gefühl, daß es etwas kosten sollte. Überall aßen Menschen, mit der gemütlichen Hast, die für diese bequemen und gewissermaßen freiheitlichen Lokale die rechte Art ist. Nur Wenige saßen, aber auch wer stand, machte keine Miene, in den regnerischen kahlen Herbst hinauszugehen, obwohl es auch drinnen neblig war, doch vom warmen Dampf der Nahrungsmittel.
Ich fühlte mich wie geborgen. Hier hatte man die märchenhaften drei Wünsche frei. Die Automaten drehten sich für eine kleine Münze wie Karusselle mit farbenprächtig beladenen Broten, und nicht weniger rasch und billig bedienten die jungen Mädchen, hinter den kochenden Töpfen voll Suppe, 51 Fleisch und Gemüse, den gewaltigen Schüsseln voll kalter Salate und anderer Speisenphantasien, den seltsamsten Spezialitäten von Schnitten, Würsten, Pasteten. Daneben stand wie die Sonne in einem Himmel von Kuchen die strahlende Kaffee-Espresso-Maschine. Überall bekam man, was man wollte, gegen ein paar Löcher im Scheck.
Aber während man diese freigebige Illusion wie im Theater auskostet, verlangt man schließlich bescheiden nur einen Teller Suppe und ein Paar Würstchen mit Kartoffelsalat und zwei Brötchen, wenn man gerade nicht viel mehr Geld hat. Die beiden Teller jonglierend suchte ich dann nach einem Platz. Obwohl das Gedränge willig vor mir auswich, da das Messer und die Gabel in meiner Hand selbst in ihrer Papierserviettenhülle als eine allgemeine Gefahr erkannt wurden, konnte ich an den engumstandenen Tischen keine Lücke entdecken. So setzte ich meine Sachen auf einem Fensterbrett ab; es war schön breit und wie die Wände und Säulen mit den appetitanregenden Farben Rot und Blau angestrichen. Dann mußte ich sogleich noch einmal zurückgehen, ich hatte den Löffel vergessen.
Als ich wiederkam, saß jemand auf dem Fensterbrett neben meinen Tellern und verzehrte meine Würstchen. Es war nicht etwa ein Freund; es war ein Unbekannter; und er tat es nicht zum Scherz. Da die Suppe sehr heiß war, und da er nach seinem Aussehen gewiß nicht viel auf die Reihenfolge, der Tafel gab, hatte er mit den Würstchen begonnen. Es war ein einfacher, schlecht gekleideter Mensch, mit ziemlich scheuem Gesicht; er betrachtete mich keinen Augenblick, nur sein Essen. Vielleicht war er noch hungriger als ich, deshalb bezwang ich meinen Zorn und sagte noch nichts. Ich erwartete, daß er mir wenigstens die Suppe anbieten würde. Aber er schlang mit 52 unheimlicher Gier, und ich fürchtete, ich würde die richtige Sekunde verpassen und außer dem Besteck bliebe nichts übrig. Im gleichen Maße, wie ich an seiner Kameradschaftlichkeit zu zweifeln begann, sank auch die meine, und das schärfste Rechtsbewußtsein nahm in mir den Platz des Mitgefühls ein. Ich bin aus dem Lande des Ewigen Michael Kohlhaas. Noch war die Suppe vorhanden; der Direktor des Automatenbüffets ging gerade nach allen Seiten grüßend vorbei; ich winkte ihn heran. Zugleich suchte ich nach meinem geknipsten Speisescheck, um bei der beabsichtigten Beschwerde doch irgendein Dokument vorzulegen.
Der Herr Direktor stand schon vor mir, während ich noch in allen Taschen suchte. Wo war dieses dünne, aber so wichtige Papier? Sogar in meiner Hand sah ich nach, weil man zuweilen etwas festhält, ohne es zu wissen. Ich fand das Papier nicht. Der Mann neben mir war jetzt beim Salat und dem zweiten Stück Brot mit Senf. Mit verbindlichem Lächeln fragte der Geschäftsführer, ob ich meinen Scheck suchte. Es komme immerhin vor, daß jemand ihn verliere. Dann müsse man statt dessen fünfzig Kronen entrichten. Soweit gehe die Vermutung über die Eßlust eines durchschnittlichen Gastes. Es sei kein zu hohes Lösegeld, angesichts der verführerischen Macht, die von den zahllosen Büffets ausstrahlte.
Der Räuber hatte inzwischen den Löffel in die Hand genommen; er wartete noch und schien an dem heißen Dampf der Suppe zu riechen. Ich erwiderte dem Chef, und mein wirklich wachsender Hunger machte meine Stimme ungewöhnlich wütend: daß ich diese unerhörte Forderung nicht begleichen würde. Der Herr nebenan könne bestätigen, daß ich nur genau dasselbe wie er gehabt hätte. Wieso? war die liebenswürdige Antwort – vielleicht hätte ich an einem anderen Tisch alle 53 möglichen Hors d'œuvre in unserer berühmten Auswahl verzehrt, danach etwa einen Salm mit Remouladensauce, gefolgt von einem halben Brathuhn mit gemischtem Kompott, zuletzt einen Pudding à la Diplomate, dazu Wein, sowie einen Schwarzen, Liköre ungerechnet. Niemand könne es wissen; jeder könne hier frei schalten; eben deshalb müsse man dem Scheck zum Schluß unbedingte Geltung verschaffen. Und trotzdem wolle er mit Rücksicht auf mein ehrlich entsetztes Gesicht eine Ausnahme machen: Ich solle nur um eine Kleinigkeit mehr bezahlen als ich tatsächlich nach meiner Behauptung gegessen hätte.
Ich habe überhaupt nichts gegessen, sagte ich. Diese Antwort schien alles zu zerstören. Darum verbesserte ich sie lieber und fügte gefaßt hinzu: Ich nicht, aber man hat ein Paar Würstchen mit Kartoffelsalat und zwei Brötchen gegessen, und die Suppe ißt man jetzt; wer aber die von mir anzugebende weitere Kleinigkeit gegessen habe, das könne ich nicht wissen. Nach dieser meiner Erklärung sah der Direktor mich verhältnismäßig lange an. In einem so vielseitigen Automatenlokal verkehrten gewiß auch manche Mystiker. Dachte er bei dieser rätselhaften Ausdrucksweise an die Romantiker mit gespaltenem Ich, oder überlegte er sich nur den Umfang der mir zu gewährenden Amnestie, jedenfalls reichte er mir schließlich einen Zettel, auf dem neben meinen beiden Speisen eine dritte stand: ein illustriertes Brot. Er erkundigte sich, ob ich es zahlen könne; es genügte gerade; und er verließ mich mit einer verbindlichen Handbewegung nach der Kasse.
In meinem Magen war eine schmerzhafte Leere, in meiner Seele ein tolles Durcheinander. Nachdem ich nichts gegessen hatte, sollte ich nicht nur dieses Nichts bezahlen sondern obendrein etwas, das auch von keinem anderen gegessen 54 worden war. Für meinen Dieb einzutreten machte mir nun schon eine wahre Freude, er sah elender aus als ich und er hatte vor meinen Augen, an meinem Tisch, leibhaftig gegessen. Ich wandte mich zu ihm und wollte ihm sagen, ich sei mit ihm einig; mein eigner ehrlicher Hunger sträube sich nur gegen dies erfundene, gegen dies erpreßte belegte Brötchen, das wir beide nicht verzehrt hätten. Aber mein Nachbar ging in diesem Augenblick weg, ohne noch einmal aufzusehen. Widerspenstig blieb ich an unserem Fensterbrett stehen. Die hohle Ungerechtigkeit der Welt, etwas unverspeistes, unverdauliches und doch von mir gefordertes schien in meinem Magen zu spuken, es vermehrte noch meinen Hunger, es schmeckte schlecht wie ein Stück Papier. Ja, die Sinnlosigkeiten, für die wir täglich leiden sollen, drangen in dem kleinen Anlaß zusammengefaßt auf mich ein. Es war sinnvoll und liebevoll, für einen armen Menschen zu hungern und zu zahlen – dort verschwand er in der Menge – auf der anderen Seite aber sah ich, im Bunde mit den drangsalierenden Mächten der Welt, den Direktor mit seiner Forderung stehen, wie die Sinnlosigkeit an sich. Er beobachtete mich noch von der Kasse her. Ich sah zu Boden, wo aller mögliche Unrat lag, ich suchte mit meinem empörten Blick den verlorenen Scheck. Dann nahm ich meinen Zettel, wanderte am Brot und anderen herrlich illustrierten Speisen vorbei, zahlte und ging in den trostlosen Herbstregen hinaus. 55