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Der Fassadenkletterer Hubert Spandow stieg in einer dunklen Sommernacht zum Himmel empor. Er hatte schon das zweite Stockwerk des Hauses erreicht, da zerbröckelte irgendein Ornament in seiner kräftigen Faust. Er stürzte ab.
Nicht nur die Helden sondern leider auch die Verbrecher benehmen sich oft sehr mannhaft. Ganz still, ohne den gellenden Aufschrei, der die Romane schmückt, fiel Spandow auf die Steinplatten des Bürgersteigs. Aber die Polizei hörte ihn doch und hob ihn auf.
Sein Knie war zerbrochen, man schaffte ihn ins Gefängnislazarett. Die Wärter standen immerhin ein bißchen frohlockend um ihn herum, denn Spandow war ein berüchtigter Fassadenkletterer. Noch weniger gefiel ihm der Arzt, der stumm mit befehlenden Bewegungen von Bett zu Bett ging: bei dem Fall Spandow verweilte er auffallend lange. Es war ein großer, breiter, dicker Mann, mit gleichgültigem Gesicht. Bei dem Fall Spandow wurde seine Miene immer strenger, er betrachtete den Verband und den Mann mit sonderbaren Augen und ging zögernd weg.
Nachts erwachte Hubert. Der Herr Doktor stand wiederum da. Die Wärter waren beschäftigt, und der Arzt veränderte eigenhändig zu Huberts Erstaunen den Verband um sein Knie.
Denn inzwischen war dieser Arzt gedankenvoll heimgegangen, war ans Fenster getreten, hatte sich weit 45 hinausgelehnt, und zwar durchaus nicht wegen des schön gestirnten Himmels. Seine düsteren Blicke überflogen die Front des Hauses, das mit Balkonen, Gesimsen und Vorsprüngen reichlich ausgestattet war. Er runzelte die Stirn. Er konnte Verbrecher nicht leiden, am allerwenigsten die Fassadenkletterer, die so jäh wie kein anderer in bürgerliche Wohnungen eindringen. Ja, er hatte eigentlich Jurist werden sollen.
Das Fensterbrett knirschte unter dem Gewicht seiner zornigen Überlegungen: – Weshalb gelang es nicht, solche Leute auf die Dauer unschädlich zu machen? Aber ich bitte Sie, meine Herren Richter, Sie geben dem Spandow ein paar Jahre Gefängnis, danach setzt der Mann seine gefährliche Tätigkeit fort. Und ich, der Arzt? Ich heile ihn, ich helfe ihm, ich, der Arzt! So ist mein Platz an der Seite des Übeltäters? Welche Schmach! Gehöre ich nicht zum Stande der Gerechtigkeit? Stehe ich nicht am Kreuzweg des Richters?
Und hoch aufgerichtet empfing er, wie von den Sternen, ein Amt. Es war, als faltete sich aus der sammetdunklen Nacht eine schwarze feierliche Robe um seinen Leib.
Da wandte er sich, ging ins Lazarett zurück und trat an das Bett des Spandow, im Widerstreit seiner Pflichten. Er entschied sich. Er änderte den Verband um das verbrecherische Bein. So geschah es, daß der Fassadenkletterer ein steifes Knie behielt.
In der Zeit seiner Haft wurde es noch steifer. Wahrhaftig, vor seinen Künsten war die Gesellschaft nun sicher. Als man ihn entließ, hatte er sich nach einem anderen Erwerbszweig umzusehen.
Wohl versuchte er draußen, durch Bäder und Massagen mit seinen im Gefängnis verdienten paar Pfennigen das schadhafte Bein in Ordnung zu bringen. Er nahm sogar Übungsstunden 46 bei einer Gymnastikerin, deren Herz er gewann. Aber ach, er wäre nicht einmal mehr fähig gewesen, an einem Maibaum hinaufzuklettern, es war vorbei mit seinem Ruhm, mit dem Erfolg durchs Fenster!
Wieviel gewöhnlicher sind Türen! Wie häßlich, wie kleinlich sind Dietriche! Dennoch besorgte er sich in heller Wut dies neue Handwerkszeug. Auf jeden Fall verspürte er seit seinem ersten Schritt in die Freiheit das Bedürfnis, bei jenem Arzt einzubrechen, der ihn so sträflich behandelt hatte.
Es war in einer eisklaren Januarnacht, als der Arzt von einem verdächtigen Geräusch geweckt wurde: – Hinter dem stechenden Schein einer Lampe humpelte eine finstere, den Arm gegen ihn hebende Gestalt von der Tür auf ihn zu. Wuchtig sprang der große dicke Doktor aus dem Bett. Er packte den Kerl, der Revolver fiel hin, und der Verbrecher flog mit fürchterlichem Schwung durchs Fenster. Er fiel lautlos auf die Steinplatten des Bürgersteigs.
Aber es stieß ihm nichts anderes zu, als daß er das Knie brach. Es war das selbe Knie. Dies hätte unser Arzt nicht tun sollen: er hob seinen eignen Richterspruch wieder auf.
Denn siehe, im Gefängnislazarett hatte nun irgend ein anderer zuständiger Arzt das Bein zu verbinden, zu vergipsen und heilsam zu behandeln. So wird Hubert Spandow nach seiner neuen Entlassung aus dem Zuchthaus ganz wie früher wieder gehen und klettern können. 47