Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Über den Dächern

Als der Einbrecher Hubert in dem schönen Heim der verreisten Herrschaften durch Lärm im Treppenhaus gestört wurde, ging er auf den Balkon. Von dort stieg er auf den nachbarlichen Erker und kletterte an einer Traufe, durch die er das Wasser hinab fließen hörte, hinauf zum Dach.

Droben war gute Luft, es wehte ein frischer Wind, wie in dem Matrosenliede, das er heiter summte. Er hatte nicht das geringste gekapert, ebendeshalb konnte er hier unbeschwert noch etwas Morgengymnastik treiben, einige Atemübungen unter den Wolken, Kniebeugen mit wagrechten Armen zwischen den senkrechten Schloten. Die Schlote begannen schon zu rauchen, auch er zündete sich eine Zigarette an und wollte gehen. Da trat hinter dem nächsten Kamin ein Polizist hervor.

Hubert machte kehrt, rannte zum Nebendach, sprang hinab, es war etwas geneigt, er lief darüber hin wie über einen Stadionhang, aufs nächste Dach, wo er viele Schornsteine traf, hinderlich wie eine Herde Schafe, immerhin auch für den Verfolger –: Bei den Windungen um die Schornsteine herum sah er zurück.

Es war ein junger Beamter, also nicht weniger flink, jetzt schrie er Halt! hob den Revolver, und noch zweimal Halt! Auf dem Nachbarhaus war die Bahn frei, leider auch für den Schuß, schon knallte der erste Schuß. Einige Sprünge im Zickzack, dann kam ein Neubau, mit großartiger Freifläche für die 41 Angestellten, Hubert fegte durch den Dachgarten und im gleichen Schwung zum nächsten Giebel hinauf, keuchend hörte er auch den Verfolger heraufkeuchen und starrte entsetzt auf das Dach vor sich: – Es blinkte spitz und steil wie ein Gletscher von glasierten Ziegeln, kein Schlot, kein Blitzableiter, keine Telegrafenstange, keine Wolke mehr am strahlenden Himmel, nichts, daran man sich halten konnte.

Da hörte er einen Schrei, fuhr herum und sah den Polizisten versinken. Er war in die gläserne Decke eines Lichtschachtes eingebrochen.

Hubert lief hin. Der Mann hing noch an den Querstangen im Glas. Im letzten Augenblick, als sie platzten, packte ihn Hubert und zog ihn an Land. Gerettet. Der Schacht war tödlich tief. Der Beamte setzte sich auf. Es war ihm nichts geschehen. Sie sahen sich an, und schon hob Hubert wieder die Beine und rannte.

Er rannte den Weg zurück, über alle schon bekannten Dächer. Aber verdammt, er hatte Schmerzen im Fuß, er hatte sich an dem zerbrochenen Glas geschnitten, vielleicht war es die Sehne. Er konnte nicht mehr springen, es ging immer langsamer. Was war zu tun? Immer langsamer. Hätte er sich nur eine Minute hinsetzen können. Immer langsamer –

Aber wo blieb der Verfolger? Wieso hatte der ihn nicht längst eingeholt? Er drehte sich um. Da sah er den anderen weit zurück, ja, er schien zu kriechen, wie eine Schildkröte, sein Helm bewegte sich kaum über das Dach. Vielleicht war er selbst verletzt? Aber nein, es war Absicht – dieser Polizist hob die Beine so zögernd vom Dach allmählich durch die Luft, als wollte er sie am liebsten gar nicht bewegen. Wie mit der Zeitlupe aufgenommen löste sich in schleichendem Tempo ein Fuß nach dem andern vom Boden. Das Knie winkelte sich 42 behutsam empor, und es dauerte bei jedem Schritt eine Weile, bis sich das ganze Bein endlich in gemessenen Stufen durch die Luft bis zum Boden wieder herabsenkte.

Hubert setzte sich. Dies schien den Verfolger mit besonderem Schmerz zu erfüllen. Er verrenkte sich den Körper mit Bewegungen, die ihn überhaupt kaum noch weiterbrachten, ohne daß er vor seiner Pflicht zurückwich. Aber was dachte er sich dabei? Verlangte er, daß Hubert in den Wolken verschwand oder sich auf die Straße stürzte? Jedenfalls mußte man schließlich doch aufstehen, mußte weiterhumpeln, und die Jagd über die Dächer wurde ein Schneckentanz. Mühsam, unter Seufzern, immer langsamer tänzelte einer hinter dem andern her, nach einer unhörbaren, doch recht gefühlvollen Melodie, die immer langsamer wurde. Und sie hätten sich nicht gewundert, wenn ein Gott sie in einen der starr zuschauenden Schornsteine verwandelt hätte.

Aber auf den Dächern ringsum standen schon die Hausmeister der angrenzenden Straßen nebst einigen Bürgern, mit Operngläsern bewaffnet. Und es war klar, daß auch der langsamste Polizist einen verwundeten Dieb einmal erreichen muß. So streckte denn der Beamte seine Hand aus. Obwohl die Hand immer noch eine kleine Entfernung bis zu der Schulter, auf die sie sich zu legen hatte, offen ließ, verringerte sich der Abstand von Zentimeter zu Zentimeter. Es geschah kein Wunder, das man in solchen Fällen und so dicht unter dem Himmel leicht erwartet, sondern es kam der Augenblick, da die Hand es nicht mehr vermeiden konnte, sich auf die Schulter zu legen, zum Zwecke der Festnahme.

Als dies eintrat, genau auf dem gleichen Dache, zu dem er zuerst an der Rinne emporgeklettert war, drehte sich der Verfolgte um und sah in das Gesicht seines Verfolgers. Dort aber 43 begegnete er einem so verwirrten Kopfschütteln, daß den Hubert und zugleich uns selbst eine Ahnung erfaßt, dieser Polizist werde dem Richter noch viel rührsamer als wir schildern: wie der Einbrecher den Eingebrochenen rettete. 44

 


 << zurück weiter >>