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Vor der Auslage eines Vogelhändlers stand der Zeitungskioskangestellte Michael Wendland, ein kleiner dünner Mann (sonst hätte er nicht in seinen engen Beruf gepaßt). Er hielt ein Stückchen, das er unruhig immer aus einer Hand in die andere nahm. Auch wenn man nur seinen Rücken sah, konnte man fühlen, wie sehr ihn das Schauspiel vor seinen Augen ergriff. Seine Schultern zuckten und er schüttelte den Kopf, wenn das Zwitschern, Kreischen und Singen der Vögel besonders laut durch die Scheibe drang. Er legte aber ganz verwirrt den Kopf auf die Seite, als das siegreiche runde Rollen des Kanarienvogels den traurigen Lärm der anderen einen Augenblick lang fast zum Schweigen brachte. Danach klang das Gezeter der Zeisige und Stieglitze in ihren dichtmaschigen Käfigen desto trübseliger. Die grünen Wellensittiche, die auf ihrer Stange eng aneinander rückten, schienen zu weinen, wie ein eingekerkertes Ehepaar. Der blaugelbweiße Papagei nagte an der Kette um seinen Fuß; seine unverständlich schnalzenden Bemerkungen sprachen von der gleichen Niedergeschlagenheit, die der kleine Mann sehr wohl verstand. Langsam richtete er sich mit der Hand über die Scheibe fahrend auf und ging in den Laden. Auf die begrüßende Frage des langen und trotz seiner Beflissenheit etwas kalt blickenden Vogelhändlers antwortete er, leise vor Verlegenheit: er brauche Vogelfutter. Von welcher Art? Der kleine Zeisig dort 59 in der Ecke habe es ihm angetan. Also wolle er nicht nur das Futter, sondern den Zeisig dazukaufen? Nein, leider habe er fast gar kein Geld in der Tasche. Also wolle er vielleicht doch nur Futter haben, für einen anderen eigenen Zeisig, daheim? Nein, er halte keine Vögel gefangen, und er wolle überhaupt kein Futter für diese, sondern die Freiheit. Der Vogelhändler grinste über den scherzhaften Kunden, der noch hinzufügte: Dann würde der Zeisig selbst für sein Futter sorgen, jetzt aber sei es gar nicht auszuhalten, wie elend er hier in dem winzigen Drahtkäfig herumflattere. Wenn es wenigstens eine Voliere, ein Flugbauer, wäre, auch Vogelstube genannt, aber das sei ja auch nichts gegen den Wald. Die Papageien, Kolibris und japanischen Schwalben müßten draußen leider umkommen, fern der Heimat. Doch die Meisen, Stieglitze und Zaunkönige, die Buchfinken und Prachtfinken und das schlichte Tierchen dort, die Grasmücke, die dächte er sich zu gern wieder im Grünen. Was es wohl kosten würde, wenn er die Türen aufmachte? Genau soviel, wie die Vögel wert seien, – oder Gefängnis! grinste der Inhaber. Kaum hatte er dies gesagt, als der kleine Mann in Tollheit zu verfallen schien. Er drückte den Händler mit starkem Arm beiseite, nahm einen steinernen Adlerkopf vom Tisch und schlug damit auf alle Käfige ein. Große Löcher schlug er in die Käfige, und dann riß er die Ladentür auf. Ein Schreien und Schwirren erhob sich, der ganze Raum flatterte, die ausgeflogenen Vögel stießen an die Decke, an die Wände und noch einmal an das Drahtgeflecht ihrer Käfige, von außen. Doch rasch hatten sie die Tür ins Freie gefunden und waren wie der Wind davon. Mit einem tiefen Seufzer, mit glücklichem Gesicht sah der kleine Mann hinter ihnen her, in die strahlende blaue Luft. Gleich darauf packte man ihn. Der Wachmann packte ihn. Michael Wendland wanderte ins 60 Gefängnis. Als er in der winzigen Zelle saß, flogen viele kleine Vögel vor seinem Fensterloch vorbei. 61