Alfred Wolfenstein
Die gefährlichen Engel
Alfred Wolfenstein

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Mörderische Reklame

Als Ted Corbett, ein junger Ingenieur, den man im Staate Utah wegen Ermordung seiner Geliebten zum Tode verurteilt hatte, am letzten Abend die Nachricht von der Ablehnung seines Gnadengesuchs erhielt, blieb ihm nur noch der einzige kühle Gedanke: wie er über die letzten zehn Stunden dieser Nacht hinwegkommen sollte.

Besuch hatte er kaum zu erwarten; mit dem einzigen, der sich noch einstellen würde, mit seinem Vater, hatte er durchaus nichts mehr zu reden. Schon erlosch in der vergitterten Milchglasscheibe der Zelle die matte Sonne, das Gefängnis wurde still. Die kurze Zeit, die noch vor ihm lag, war so lang wie sein Leben. Er ging hin und her durch die paar Meter Raum, die waren für ihn so groß wie die Erde. Auf jeder Seite traf ihn die harte Faust der Mauer, und wie ein angeschlagener Boxer lehnte er sich an die Tür, als sie sich plötzlich bewegte und aufging.

Er runzelte die Stirn. Aber es war nicht sein Vater. Dann erschrak er vor dem fremden Gesicht. Aber es war auch noch nicht der Scharfrichter. Ein Gentleman mit indianisch gebogener Nase und schrägen, von vielen Falten umstrahlten Augen trat herein. Er zog die Hände aus den Taschen und übergab dem Verurteilten unter erstaunlichen Erklärungen zwei dicke Bücher. Zum Schluß bemerkte er, hier seien die Verträge. 79 Er überreichte ihm mehrere Blätter und seine Füllfeder zur Unterschrift.

Als nach einiger Zeit Teds Vater kam, fand er den Sohn in ein Buch vertieft. Der junge Mann sah keinen Augenblick mehr auf, und man hörte in der stummen Zelle nur das Geräusch der dünnen Seiten, die der angespannt Lesende in raschen Abständen umschlug. Gegen Mitternacht war er mit dem ersten Bande fertig und griff nach dem anderen, ohne den Blick zu heben.

Der Alte verhielt sich ruhig, wie eine Mutter am Bett ihres Kindes, zufrieden, wenn es zu schlummern scheint. Als auch der zweite Band zur Neige ging, begann das Fenster sich grau und bald mit schwacher Röte zu färben. Die Uhr schlug. Leute traten herein. Einer schritt auf den Vater zu und sagte: »Ich bin der Verleger Prosper Arrground. Habe mit Ihrem Sohn über diesen Roman einen Vertrag gemacht. Er hat ihn pünktlich zu Ende gelesen. Für unterwegs ist auch gesorgt.«

Mit fiebrigen Augen hatte Corbett die letzten Seiten verschlungen. Das Buch zuklappend ließ er sich hinaus auf den Wagen führen. Kaum aber setzte sich der Zug zum Schafott in Bewegung, als sich den zahllosen Zuschauern ein unerwartetes Bild darbot. Man sah den Verurteilten zwei rot eingebundene Bücher nach allen Seiten durch die Luft schwenken. Dazu rief er im Fahren mit schallender Stimme:

»Lest Kyrills Glück! Zu kaufen bei Arrground, Dittanderstreet, heute Filialen in allen Straßen, durch die der Zug geht! Kyrills Glück! Zweimal vierhundert Seiten! Habe mir damit vollkommen die Zeit vertrieben!«

Einen Augenblick lang war die Menge wie erstarrt. Aber schon tauchte der erste Verkaufsstand auf und alles stürzte hin. »Muß ein mächtig spannender Roman sein! Hat einen 80 Verurteilten getröstet! Kyrills Glück!« verlangte man und erhielt es für drei Dollar. Der Wagen bog in die nächste Straße ein, durch das Schallrohr tönte es immer wieder von den hinrollenden Rädern herab: »Lest Kyrills Glück!« Ein neuer größerer Laden breitete mit gefälliger Eintönigkeit tausend Exemplare des Buches wie eine Wiese von roten Blumen bis über den Bürgersteig aus. Schon stand eine lange Menschenreihe vom Armesünderkarren bis zu den Bücherregalen an. Der mustergültig vorbereitete Verkauf befriedigte blitzschnell die gewaltige Nachfrage. Es machten sich auch fliegende Händler bemerkbar, die aus Körben verkauften, ganz nahe dem seltsamen Ausrufer. Manche Leute brauchten sich infolgedessen keine Sekunde lang von dem Zuge zu trennen, sie lasen im Gehen und machten beides mit. Und über ihren Köpfen hörten sie die heiser werdende Stimme dem Richtplatz entgegen rufen: »Auch für Schlaflose, Kranke und Kummervolle! Lenkt ab, spannt und tröstet!«

Er tutete seinen Text noch oben vom Gerüst in die Menge: »Habe mir damit vollkommen die Zeit vertrieben!« Und so füllte dies Geschäft sein Leben mit wohltätiger Betäubung fast bis zuletzt aus. Um dieser Betäubung willen hatte er die Sache übernommen. Aber hoch oben auf dem Gerüst durchschoß ihn jetzt Sekunden lang eine Bitterkeit: Der große Erfolg gehörte nicht ihm – diese Tantiemen konnte er höchstens vererben – dieses Buch verkaufte er nicht für sich selbst –

Doch er konnte das ungeheure Geschäft nicht einstellen: es war geschehen: er steigerte die Reklame bis zum äußersten: sein Kopf war gefallen.

Das Buch aber wurde wohl von jedem Einwohner erstanden. Am Abend waren die gesamten beträchtlichen Vorräte am Ort abgesetzt. 81

 


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