Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nicht so rasch wie man gedacht, rückten die beliebten Neununddreißiger wieder in ihre Garnison ein. Sie wurden noch immer erwartet, obgleich der Frühling schon mit Macht über Deutschland gekommen war und des Rheines sonnbeglänzte Wellen, ruhig zwischen blühenden Ufern dahinflossen.
Im Düsseldorfer Hofgarten waren die Veilchen vorbei, reichere Blumen drängten zur Entfaltung. Schon zeigten die Kastanien die Ansätze erster Früchte, da hieß es erst: sie kommen, Anfang Juni, vielleicht auch ein paar Tage später. Aber sie kommen doch endlich, sie kommen!
So war noch nie zu einem Empfang gerüstet worden: geliebte Kinder kehrten ja heim, die Heldensöhne der Stadt. Wie sollte man sie nur würdig genug begrüßen? Kanonendonner und Glockengeläut waren selbstverständlich. Und Flaggen sollten wehen von jedem Haus und lustige Wimpel auf der Rheinbrücke winken, Ehrenpforten sich wölben, das alte Zolltor selbst sollte sein düsteres Grau unter grünen Gewinden verbergen. Die Buchbinder kleisterten Inschriftenschilder, die Maler pinselten darauf: »Herzlich willkommen!« Die Schreiner hämmerten an den Ehrenpforten, die Schneiderinnen nähten die Nächte durch an festlichem Weiß für die jungen Mädchen und Kinder, die Violinisten spannten neue Saiten, die Posaunisten probierten den Jubelchor, die Trommler übten die schönsten Wirbel, und die Dichter dichteten. –
In der Kaserne hatte das Lazarett nun ein Ende. Wieder wurde dort geweißt und getüncht, gekehrt und gescheuert. Bald haftete kein Hauch der Wunden, des Leidens den Wänden mehr an; der frühere Knaster- und Schimmelduft, der alte Kasernengeruch, würde wieder einziehen, zusammen mit den wackeren Füsilieren.
Das Scheiden aus der Kaserne wurde Josefine schwer. Die letzten Genesenen hatten ihr die Hand geschüttelt und waren in die Heimat abgereist; da hatte sie noch lange einsam in der ehemaligen Feldwebelwohnung gestanden und durchs Fenster auf den sonnigen Exerzierplatz hinausgestarrt. So viele Soldaten, so viele Soldaten würden dort bald exerzieren, aber von denen, die sie liebte, war keiner mehr darunter!
Sie hielt sich mit der Hand am Fensterbrett, für einen Augenblick wurde ihr schwach. Hier an dieser Stelle, hier hatte sie oft als Kind und oft als Mädchen Auslug gehalten, hier hatte ihr der Vater das Märchen von Anno dreizehn erzählt – wie hatte er doch gesagt?
›Und die keine goldenen Broschen und Armbänder hatten, ließen sich ihr schönes Haar abschneiden und opferten es fürs Vaterland.‹
»Ach!«
Es war ein zitternder Seufzer, der jetzt ihrer Brust entfloh, beide Hände drückte sie gegen das hämmernde Herz – sie hatte mehr geopfert.
»Vater!« Sie wußte nicht, ob sie es laut gerufen, sie wußte auch nicht, ob ihr Antwort ward, aber es hallte etwas durch die leeren Räume. Und ein Schauer überlief sie, kein Schauer der Furcht, ein Schauer heiliger Scheu.
Leise, auf den Zehenspitzen schlich sie hinab.
Nun rüstete auch sie zum Empfang. Kamen die Neununddreißiger wirklich jetzt bald, so sollten die guten Jungen auch alles finden, wie sie es liebten. Und wie sie's liebten, das wußte sie ganz genau: kurze Pfeifen mit Porzellanköpfen und dem bunten Kaiser Wilhelm darauf, Knotenstöcke, recht derb in der Faust, stark, ums Bündel dranzuhängen beim Wandern in die Heimat. Und Taschentücher, rot und gelb, groß wie Windeln, mit Schlachtenbildern und Pulverdampf und Kanonen und Franzosen und Preußen. Sie schaffte emsig in der Frühsommerwärme, ihre Wangen glühten dabei; sie dekorierte ihr Fensterchen, stieg auf einen Stuhl und ließ sich vom Bruder einen Hammer reichen, um die Nägel einzuschlagen, dran die Girlande hängen sollte. Grün, Grün in Menge wollte der Fritz aus dem Busch holen. Auch über die Tür sollte ein Kranz kommen, darin die Inschrift: ›Herzlich willkommen!‹ O Gott, wie schön hätte der Peter das gemacht! Bitterliche Tränen schütteten ihr plötzlich über die heißen Wangen – ihr Peter, der kam nicht mit zurück!
Am letzten Sonntag, bevor die Truppen eintrafen, erschien auf einmal Bruder Friedrich früh am Morgen. Er kam, in feierliches Schwarz gekleidet; einen Zylinder hatte er auf und seine Glacés an. Er trug einen Kranz aus Lorbeer gewunden, die ersten roten Rosen des Jahres darin.
»Finchen«, sagte er, zog den Handschuh ab und wischte sich mit der schwieligen Rechten gleichsam verlegen über die ernste Stirn, »nu is't Friede, un ich hab en neue Stellung, wie ich se in meinem frechsten Traum mir nie hätt träumen lassen! Was unser Vater wohl dazu gesagt hätt?! Heut is mein erster Feiertag. Komm, mach dich fertig, lassen wir all zusammen nach'm Kirchhof gehen!«
Sie machten sich auf den Weg. Schon war in vielen Straßen geflaggt. Die Bürger konnten es nicht mehr erwarten – bald, bald kamen sie ja! Es war heute milde, sanfte Luft, noch schien die Sonne nicht, aber sie würde bald scheinen. Grüner schimmerte das Grün der Bäume, erfrischt von einem köstlichen Getröpfel in der Frühe; die Kastanienbäume warfen schon breite Schatten, die Lindenbäume strömten süßen Duft aus.
In der Buchhandlung am Alleeplätzchen lauter Kriegsbilder und -bücher: ›Dreißig schöne alte Lieder wider den Franzmann‹ – ›Va banque Louis Napoleon‹ – ›Enthüllungen aus den Tuilerien‹ – ›Welche sollen des Deutschen Reiches Farben sein?‹ – ›Alldeutschland in Frankreich hinein.‹ Hier ein kleines rotes Büchlein in leuchtender Farbe mit dem Eisernen Kreuz: ›Kriegsdepeschen‹ – und dort: ›Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 von Th. Fontane‹.
Schmetterlinge, die bis hierher geflogen, streiften mit ihren zarten Flügeln das Schaufenster. Bienen summten, angelockt von den Blumendüften der Häuser; überall Sträuße in den Fenstern: Rotdorn und Goldregen, Iris und Pfingstblumen, letzter Flieder und erste Rosen. Heitere Mädchengesichter blickten darüber weg; manch einer Jungen klopften die Pulse: er kam wieder, nun war er bald da! Einen Strauß wollte sie dem Geliebten werfen, einen Rosenstrauß, und einen Kranz, einen Kranz von lauter Lorbeer. Sie konnte es nicht erwarten.
Die Kinder spielten vor den Türen: der Vater kommt. Ob er was mitbrachte? Eine Puppe im Tournister oder ein kleines Chassepot? Sie konnten es nicht erwarten.
Und Eltern fragten sich: wie wird er aussehen, der Junge? Er hat gewiß einen Bart. Sie konnten es nicht erwarten.
Die ganze Stadt konnte es nicht erwarten. Man fühlte es ihr an, es lag in der Luft, es vibrierte im unruhigen Gebimmel der Sonntagsglocken, die über dem Gewirr der alten Gassen von der Bolkerstraße und Ratingerstraße her ertönten. Auch sie konnten es nicht erwarten, sich auszuhallen im Freudengeläut. –
Die Geschwister gingen still, Josefine zwischen den Brüdern. Der Invalide war in voller Uniform, und den Fritz hatte er neben sich, dann brauchte er ja kaum seinen Stock.
Im Hofgarten tirilierten die Vögel, stark dufteten der Jasmin und all die andern blühenden Büsche; jedes Unkraut am Wegrand blühte, jedes Ding, noch so bescheiden, trug heute sein bestes Kleid.
Der Rhein rauschte hinterm Napoleonsberg, und das Rauschen der Wellen mischte sich mit dem Wind, der die Wasser kräuselte, zur Melodie.
Selbst hier draußen am fernen Friedhof merkte man die Erwartung der Stadt. Die Wege waren geharkt, das Unkraut ausgejätet, die Gräber geschmückt.
Die Geschwister wandelten erst den breiten Mittelweg bis zum großen Kreuz. Das war eine Pracht von Rosen rechts und links, ein berauschender Duft! Man ging wie zwischen lauter Gartenbeeten.
Josefine war lange nicht hier gewesen, nun blickte sie erstaunt – was war das dort für ein herrliches Monument? Auf dunklem Sockel, ganz aus weißem Marmor, leuchtete es hinter schmiedeeisernem Gitter und hob sich blendend aus einem Flor von Blumen. Unwillkürlich hemmte sie den Schritt – dort waren Leidtragende.
Vor dem weißen Monument kniete eine ganz mit langen Trauerschleiern verhüllte Frauengestalt. Jetzt erhob sie sich; den Kopf tief gesenkt, ganz gebrochen, ging sie davon am Arm eines Offiziers.
Der Invalide machte Front; ernst aber freundlich dankte der Offizier. Ei, war das mal ein jugendlicher Oberst! Noch ein schlanker, schöner Mann mit blitzenden Augen.
»Habt ihr dat Kreuz auf seiner Brust gesehn? Dat war 't Eiserne Kreuz erster Klass'«, tuschelte ganz aufgeregt der Invalide.
Josefine hatte es nicht gesehen; auch nicht den eleganten Herrn in Zivil, der dem Paar folgte, zwei schwarzgekleidete junge Mädchen neben sich. Sie hatte auch die Dame unter all den Schleiern nicht erkannt; wohl aber hatte ihr Blick, seltsam angezogen, während der kurzen Begegnung auf dem Gesicht des Obersten geruht.
Wer war das? Den mußte sie doch kennen! Und da – plötzlich durchfuhr es sie. Die Erinnerung kam rasch wie ein Pfeil – jetzt wußte sie's: das war der Viktor gewesen!
Sie trat auf das Monument zu. Unter dem jungen sterbenden Helden, den ein Engel zum Himmel weist, stand mit goldenen Buchstaben eingraviert:
Eugen Ernst August vom Werth
Sek.-Lt. im Niederrh. Füsilier-Regt. Nr. 39.
Ja, Viktor von Clermont hatte hier mit seiner Schwester das Grab des gefallenen Neffen besucht.
Arme Cilly, hatte sie noch immer keinen Trost gefunden? Wie sie dahinwankte!
Noch einmal sah sich Josefine um, aber von den Trauernden war nichts mehr zu erblicken; es war ihr nur, als sähe sie noch ein letztes Blinken der Epauletten zwischen den Büschen.
Der Viktor –! Ein zartes Lächeln spielte um ihre Lippen: wie stattlich noch – und schon Oberst! Aber sein liebes Gesicht hatte er noch wie früher, nur nicht mehr so strahlend heiter und so vergnügt. So viele Jahre lagen ja dazwischen. Sie seufzte leicht und nickte: ach ja, da war sie eben an ihrer Jugend vorbeigegangen.
Sie stand in Gedanken verloren – ja, ja, heute morgen, als sie vorm Spiegel ihr Haar kämmte, hatte sie die ersten grauen Fäden im noch vollen Blond gefunden.
Fritz zupfte sie am Ärmel und drängte voran, die Onkels waren schon weitergegangen. Da raffte sie sich auf und machte große Schritte.
Das Grab vom Feldwebel Rinke lag jetzt nicht mehr abseits und allein, mit wenigen ungepflegten Hügeln in der Nähe. Jetzt waren hier rundherum auch Blumen gepflanzt und die Hecke erweitert; es grünte Hügel bei Hügel, es ragte Kreuz bei Kreuz. Franzosen und Deutsche reihten sich dicht um das Grab des alten Preußen.
Friedrich legte seinen Lorbeerkranz darauf nieder. Josefine bückte sich, um hier und da zu ordnen und ein Unkräutchen auszurupfen; sie kniete dabei hin und blieb so kniend, eine lange Weile.
Um sie die große Stille. Kein Laut zwischen Himmel und Erde. Regungslos stehen die Büsche. Kein Säuseln in den Bäumen, die Wolken dicht. Doch jetzt ein starker Luftzug vom Rhein her, man hört die Wellen rauschen, der Wind ist umgesprungen. Und jetzt kommt er plötzlich daher und beugt die stolzen Kronen und bläst in die grauen, verhängenden Wolken, daß sie auseinanderfahren wie eilends geschobene Kulissen. Das geht mit Zauberschnelle, Hülle fällt auf Hülle – der letzte Vorhang weg – da steht sie, die Sonntagssonne, voll im Mittag, ohne Schleier, groß, blendend, leuchtend, und lachte hinunter auf die strahlende Erde.
›Jetzt scheint die Sonne, Vater, siehst du?‹ Es war Josefine fast, als müsse sie ihm das laut hinunterrufen in seine dunkle Kammer. Eine kindliche Liebe ergriff sie heiß zu dem Toten. Sie murmelte: »Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre – lieber Vater, ich danke dir!«
Langsam richtete sie sich auf. Aber dann stand sie wieder fest auf ihren Füßen und nahm ihren Knaben an die Hand. Der war nun ihr Einziger, ihr letztes Glück – nein, noch ein Glück hatte sie, ein schmerzliches freilich, dem sie auch noch Tränen schenken würde in stillen Stunden. Aber es war ein Glück. Sie hatte einmal etwas empfunden, eine Begeisterung, die sie über sich selbst erhob. Ihr Bestes hatte sie hingegeben fürs Vaterland, so wie der Vater sie gelehrt hatte.
Und wenn jetzt der König käme, wie damals in ihrem Traum, und seine Hand ausstreckte: ›Was gibst du mir?‹ dann konnte auch sie ihre Hand ausstrecken und, über das Grab ihres Sohnes weg, weg über die Gräber von Tausenden von Söhnen, ihm weite, schöne Länder zeigen: das ganze, große, geeinigte Deutschland im höchsten Mittagssonnenglanz – und stolz zu ihm sprechen: »Das gab ich dir!«
*