Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vierzehn Tage später, an einem Augustsonntag 1830, wurde Josefine Rinke getauft.
Der Feldwebel hätte seine Erstgeborene gern Luise genannt, nach Preußens geliebtester Königin, aber es schien hier ganz selbstverständlich, das Kind mußte einen Namen von Großmutter Zillges führen; und er wollte seinem erst eben genesenen Weib diesen Kummer nicht auch noch antun. War es Trina doch Kummer genug, daß sie die Taufe nicht mit einem Fest feiern sollte, wie sie es gewohnt gewesen war bei weit geringeren Anlässen. Im »Bunten Vogel« hatte man gern gefeiert; soviel Heiligentage, soviel fröhliche Gelegenheiten.
Und nun sollte nicht einmal die Taufe der kleinen Josefine mit einem Essen begangen werden, zu dem man Gevattern und Freunde einlud! Ein größerer Gefangenentransport war nach der Festung Wesel zu eskortieren; statt des plötzlich erkrankten Offiziers hatte man Rinke das Kommando angeboten, und er hatte es angenommen. Hätte er's nicht ebensogut ablehnen können, die Taufe des Kindes war doch Grund genug? Aber nein, annehmen mußte er's, aus purer Eitelkeit! Man hätte ja auch die Taufe verschieben können, aber nein, auch das nicht; weil der Garnisonspfarrer am Sonntag nach der evangelischen Kirche ein halb Dutzend Soldatenkinder zusammen taufte, mußte das Finchen auch 'ran. Das arme Finchen, das kriegte ja gar keine richtige Tauf!
»Wenigstens en Tass' Kaffee mit Rodong«, hatte Trina schluchzend ihren Mann gebeten, »un nachher en Gläsche Wein! Un nur en paar gute Bekannte dazu! Dat können wir doch auch ohne dich, da brauchst du ja gar nit bei zu sein!«
»Ob ich bei bin oder nit«, hatte er gesagt, ärgerlich ihre Sprechweise nachahmend, »ich will den Sums nich. Schlicht getauft, weiter was ist nich nötig!« Die Feldwebelin hatte sich bitter bei ihrer Mutter beklagt.
Schmerzlich bewegt schritt Frau Zillges heute mit der Tochter und der getreuen Dauwenspeck, die den Täufling trug, zur Kirche.
Es fing an zu regnen, ein kühler Gewitternachregen war's; das Pflaster der Kasernenstraße trat sich unangenehm schlüpfrig. Die junge Frau trippelte blaß und fröstelnd, ihre, blauen Augen irrten verdrossen die Straße auf und ab; ach, gar nichts zu sehen! Die Dauwenspeck schlug einen Zipfel ihrer Mantille über den Täufling.
Mutter Zillges schien des Regens nicht zu achten, der ihre Haube näßte; sie ging in Gedanken. Für eine, die schon einige Jahre die Fünfzig hinter sich hatte, war ihr Gesicht merkwürdig glatt geblieben, ein freundliches, behagliches Gesicht, heute aber sah man doch, daß es schon Runzeln hatte. War's denn nicht auch zu traurig? Der Vater nicht zugegen, der Großvater nicht zugegen – was sollten die Leute wohl denken, daß der Zillges nicht mitgekommen war? Frau Josefine Cordula fühlte sich heut wirklich unglücklich, sie konnte sich nicht erinnern, je in ihrem Leben unglücklicher gewesen zu sein, nicht einmal, als ihre Eltern starben. Da hatte der Weihrauch das Haus durchweht wie ein sanft tröstender Hauch des Himmels. Heute aber, hier auf der regenfeuchten Straße, angesichts einer Taufe, die eigentlich gar keine war, versagte ihre Fassung. Hatte ihr doch Zillges heute morgen erklärt, sie solle nur allein zu der »Ketzerei« laufen, er ginge nicht mit. Sie hatte ihn »bequem« gescholten, sogar mit ihm gebrummt, was selten vorkam, aber der sonst so gemütliche Peter blieb dickköpfig, überdies hätte er Leibschmerzen, sagte er.
Wenn Frau Zillges es recht bedachte, verdenken konnte sie ihrem Peter sein Fernbleiben eigentlich nicht, der Rinke hatte ihn zu sehr geärgert. Freilich hatte die dumme Trina in der ersten Verliebtheit jedes Zugeständnis gemacht, aber nun hätte Rinke doch ein bißchen mit sich reden lassen können: wenigstens halb und halb – die Mädchens nach der Mutter, die Jungens nach dem Vater! Mutter Zillges hatte die ganzen vierzehn Tage seit der Geburt der Kleinen gehofft, der Feldwebel werde sich besinnen und das Kind durch eine heilige Taufe den wahren Gläubigen zugesellen. Sie hatte ihre Tochter, die ja immer ein bißchen lässig war und gern Unangenehmem aus dem Weg ging, beschworen, ihrem Mann ernstliche Vorstellungen zu machen. Trina behauptete auch, das getan zu haben: aber »er is doch nu mal so«, hatte sie gejammert, »ich krieg ihn nit dazu. Wat soll ich dabei machen? Laßt mich zufrieden!«
Ach, ach, es war aber auch alles zu ärgerlich! Frau Zillges biß sich auf die Lippen.
Während der ganzen ersten Hälfte der Ansprache, die der Pastor hielt, dachte sie darüber nach, warum sie eigentlich für einen so betrüblichen Tag einen so großen Zwetschgenkuchen gebacken hatte und einen so leckeren Blatz mit Korinthen. Wie konnte man denn essen, wenn man so traurig war?! Aber sie wußte selbst nicht, wie ihr geschah, war es der Anblick des Kindchens, das, so rund und blond, brav schlummerte, die kleinen Hände zu Fäustchen geballt? Das nicht einmal aufzuckte, als die kalten Wassertropfen den zarten Flaum seines Köpfchens besprengten? Sie bekam freundlichere Gedanken.
Und hier der Hochaltar von Marmorstein, den man von den frommen Cölestinerinnen hergebracht – und da der heilige Johannes Nepomuk und dort in der Nische die heilige Anna! Nein, noch war nicht alles verloren! Ihre Stirn glättete sich; sie sah nieder: ei, so ein klein lecker Stümpchen! Akkurat so hatte ihr einst das eigne Kind, die kleine Trina, im Arm gelegen, wie hatte da ihr Herz vor Freuden geklopft! Und nun war sie Großmutter! Ihr Herz klopfte wieder, gerade so innig, nein, fast noch mehr. Warm fühlte sie's in sich aufwallen. Ja, sie wollte es liebhaben, und was an ihr lag, das wollte sie tun, der Preuße sollte nicht die Oberhand kriegen: am Rhein war es geboren, ein rheinisch Kind sollte das Finchen bleiben!
Sie mußte an sich halten, um dem Enkelkind nicht einen schallenden Kuß aufzudrücken.
Der Geistliche sprach den Segen über die Täuflinge; es beruhigte die Großmutter, daß er dabei wenigstens das Kreuz machte. Durch das Glas der Kirchenfenster fielen bunte Strahlen. Draußen schien die Sonne wieder – ei, das war gut, da sah sich alles noch einmal so freundlich an!
Als sie dem Ausgang der Kirche zuschritten, hatte Frau Zillges wieder ihr gewohntes behagliches Gesicht. »Et hat noch gut gegangen«, flüsterte sie und nickte der Tochter zu.
Frau Trina gähnte, war abgespannt und hatte Lust auf ein Gläschen Wein; aber sie hatte keinen Viertelschoppen zu Hause, das fiel ihr ein, und darum seufzte sie. Plötzlich fuhr sie zusammen, die Mutter hatte einen Laut der Überraschung ausgestoßen.
Hinter dem letzten Pfeiler trat Vater Zillges auf sie zu. Er schmunzelte übers ganze Gesicht, zugleich ein bißchen pfiffig und ein bißchen verlegen; da hatte er die ganze Zeit über versteckt gestanden und zugesehen.
»No, Zillges«, flüsterte Frau Josefine Cordula und gab ihrem Mann einen kleinen Puff in die Seite, »du bis aber einer! Warum biste dann nit wenigstens vornehin gekommen?«
Er faßte sie unter den Arm und flüsterte zurück unter noch stärkerem Schmunzeln: »Dat war mir nit mögelich, wahrhaftigens Gott nit – du weißt doch – dat Bauchweh!« Und dabei knibbelte er mit dem Auge.
In guter Laune traten sie aus dem Portal. Es war wunderschönes Wetter geworden; Damen mit Parasols und blumengeschmückten Kiepenhüten bauschten ihre sommerlich hellen Gewänder.
»Wohin dann?« fragte Zillges, als sich Trina jetzt nach links wendete. Die Infanteriekaserne dehnte sich lang, nahm die ganze eine Seite der Straße ein, und die Feldwebelwohnung lag im Hof I, am äußersten linken Flügel. »No, wat dann, wohin gehste?«
»Nach Haus«, murmelte Frau Trina mit zuckenden Lippen; es wurde ihr doch gar zu schwer, daß sie an dem schönen Sonntag, der noch dazu der Tauftag ihres Kindes war, so mutterseelenallein in der öden Kaserne sitzen sollte. Die Eltern würden ja nicht zu ihr kommen, die hatten in dem ganzen Jahr kaum einmal die Feldwebelwohnung betreten; und wenn auch der Rinke nicht da war, das taten sie doch nicht. »Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie; sie fühlte sich doch noch recht schwach.
Als hätte der Vater ihre Gedanken erraten, so sagte er jetzt: »Nach Haus?! Biste geck? Du wirst doch nit trübselig allein sitzen?! Komm du nur bei uns, Trina!«
»Un dat Finchen kömmt auch mit bei sein Großmamma«, rief Mutter Zillges und lächelte zärtlich ihr Enkelkind an.
Die junge Frau war zögernd stehengeblieben und wurde abwechselnd rot und blaß. Ach ja, sie wollte sehr gern mitgehen, aber hatte ihr Mann ihr nicht befohlen, sich ruhig zu Haus zu halten? Unschlüssig sah sie vom Vater zur Mutter, sie wußte sich keinen Rat; ihr grauste vor den getünchten Kasernenwänden und der Einsamkeit. Wie viel besser war's in der getäfelten Wirtsstube des »Bunten Vogel«, und nebenan im kleinen Kontörchen, wo der große Lederstuhl am Fenster zum Ruhen einlud und das erst kürzlich angebrachte Spiönchen die Straße aufwärts und abwärts in seinem Glase spiegelte. Oh, da war's gut sein! Aber hatte Rinke nicht gesagt: »Du bist noch schwach, leg' dich lieber ein paar Stunden hin, schon wegen der Josefine!« Schwach, schwach? Nein, sie war ganz kräftig!
Die Dauwenspeck gab den Ausschlag. »Ei, Madam Rinke«, mahnte sie, »steht hier nit so lang herum, dat is Euch nit gut. Zeit für 't Mittagessen is et auch als. Un dat Finchen hat auch als Appetit. Madam Zillges, seid so freundlich, tragt dat Finchen e Stückche, et is mich als ganz schwer.«
Und nun schwenkte die kleine Karawane, als sei es ganz selbstverständlich, statt nach links, nach rechts ab, in die der Feldwebelwohnung entgegengesetzten Richtung. – –
Wer hätte gedacht, daß das heute noch so ein vergnügter Tag werden würde! Mutter Zillges hatte ein gutes Mittagessen vorbereitet, und alle taten ihrer Kochkunst Ehre an. Die Dauwenspeck versicherte, sie könne sich tot essen an den gestowten Saubohnen und dem frischgekochten, durchwachsenen Speck; einen leckreren Zwetschgenkuchen verstand überhaupt keiner zu backen, er schmeckte so »herzlich«. Auch dem Düsseldorfer Obergärigen wurde wacker zugesprochen, und zuletzt stieß man mit einem Gläschen Rheinwein auf das Wohl des Täuflings an.
Es herrschte ein ungemeines Behagen in der um diese Zeit noch leeren Wirtsstube, an deren altertümlichen Wänden, zwischen ausgestopften Vögeln und Schmetterlingskästen, verschiedene Lithographien des Kaisers Napoleon hingen. Auf der einen stand er einsam, im kleinen Hütchen, die Hand im Busen; auf der andern lag er zu Sankt Helena auf dem Sterbebett.
Peter Zillges bildete sich etwas darauf ein, daß er den Napoleon gut gekannt. Anno elf bei dem Einzug in Düsseldorf hatte er dem Kaiser so nah gestanden, daß er ihn hätte am Rockschoß greifen können. Auf dem Hügel am neuen Hafen war's gewesen, da hatte Napoleon einen Augenblick verweilt. Die Bürgergarde bildete Spalier, Tücher wurden geschwenkt, Kinder und Jungfrauen streuten Blumen, Musik spielte, Trommeln wirbelten, vom »Boulevard Napoleon« und der »Rue l'Empereur« her wehten Fahnen, eine Ehrenpforte war gebaut am Ratinger Tor, eine schaulustige Menge drängte sich, es gab ihrer genug, die da schrien: »Vive l'empereur!« Aber finster hatte Er gestanden, die Arme über der Brust gekreuzt, und hinausgestarrt auf den Rhein, der unruhig seine herbstgrauen Wogen vorbeirollte. Der arme Kaiser, dem ahnte wohl schon Unheil!
Zilliges erzählte das gern; er konnte sich nie eines gewissen Bedauerns dabei erwehren. Man kannte den Napoleon doch von Angesicht zu Angesicht, man war lange genug französisch gewesen, und die Kurpfälzer und Österreicher, die vordem in der Stadt gelegen, hatten übermütiger gehaust als die Truppen der Division Lefebvre. Und wem hatte die Stadt denn den neuen Hafen und die schönen Anlagen des Hofgartens und den Ananasberg und den Napoleonsberg und die breite Alleestraße zu verdanken? Nur dem Napoleon! Ja, der Napoleon, das war einer gewesen – Gott hab ihn selig!
Ganz bescheiden nahm sich der Preußenkönig, Friedrich Wilhelm III., zwischen den beiden großen Lithographien aus.
Man saß noch hinterm Tisch, als ein paar Gäste im »Bunten Vogel« erschienen, gute Bekannte, die Mutter Zillges gleich zum Kaffee einlud.
Trina saß da mit hochgeröteten Wangen; sie hatte ihr Kind an der Brust und ließ sich's selber auch wohl sein. Ihre Augen glänzten; die Freunde bewunderten das »staatse« Kind – und dann war soviel zu hören und zu erzählen! Sie hatte sich lange nicht so ausgesprochen. Gedankenlos aß und trank sie in sich hinein; der Nachmittag verfloß im Umsehen.
Es kamen der Gäste noch mehr, heut schenkte Peter Zillges gratis ein – das erste Enkelkind, da wollte er sich doch nicht lumpen lassen. Die Fröhlichkeit wurde laut, durch die offenen Fenster schallten die Stimmen weit hinab die Ratingerstraße. Mancher Bürger, der vorüberging, trat, angelockt durch das lustige Getön, in den »Bunten Vogel« ein und blieb drinnen. Der Kreis vergrößerte sich bedeutend; auch junge Leute waren da, die mit der Trina einst »Dopp« auf der Straße geschlagen und um den alten Jan Willem auf dem Markt Nachlaufen gespielt hatten. Sie neckten sie alle mit ihrem Preuß'; aber die Neckerei war gutmütig, und so lachte sie mit, daß sie sich schüttelte.
Es war heiß geworden, die Luft in der Wirtsstube stickig, von Pfeifenqualm erfüllt. Die kleine Josefine quäkte unruhig. Frau Dauwenspeck hatte sie der jungen Mutter abgenommen, schaukelte sie hin und her und gab ab und zu ein beruhigendes Kläpschen auf die Rückseite des fest zugebündelten Steckkissens.
Einer der jungen Männer, der Schnakenbergs Hendrich aus der »Windmühl«, pfiff der Kleinen freundlich etwas vor, ein Rheinländer war's – hei, fuhr der allen in die Beine! Man stand auf und fing an zu schleifen. Der Zillges war ein rechter Schalk, ehe seine Josefine Cordula sich dessen versah, hatte er sie um die Taille gefaßt: vier Schritt nach links, vier nach rechts, schwenkt euch rund, immer rund! Weiß Gott, der tanzte seine rheinische Polka noch wie ein Junger.
Trina war auch von der Bank aufgesprungen, sie stellte sich auf die Zehen und reckte sich hinterm Tisch, um Großvater und Großmutter tanzen zu sehen, und lachte unbändig. Rosig und hübsch sah sie aus. Wie lange nicht, so vertieften sich die Lachgrübchen in ihren Wangen, ihre Augen glitzerten vor Vergnügen. Sie hatte einen ganz kleinen Schwips.
Der schwarze Hendrich, der früher schon immer ein Auge auf sie gehabt, voltigierte hinter den Tisch und zog sie vor. Ob sie sich auch sträubte, er drehte sie ein paarmal herum, nur ein paarmal, sie waren noch kaum vom Tisch weggekommen, da stockte ihr der Atem – jemand war eingetreten, ein strammer Langer, in Uniform – da – da – der Feldwebel!
Mitten in der Stube stand er und sah sie an mit einem bösen Gesicht.
Es war eine unangenehme Überraschung für beide Teile. Frau Trina wurde noch glühender rot, des Feldwebels gebräuntes Gesicht wurde fahl.
Aha, da war er ja gerade zur rechten Zeit gekommen! Also darum hatte es ihn innerlich so getrieben, daß er sich in Wesel, nachdem er in später Nacht seine Gefangenen eingebracht, nur wenige Stunden Rast gegönnt! In Kaiserswerth hatte er seine Mannschaft hinter sich gelassen und war auf einem ausgespannten Gaul heimgeritten, so rasch der müde Klepper laufen konnte.
Nur nach Haus! Eine Sehnsucht hatte ihn plötzlich ergriffen, noch heimzukommen am Tauftag seines Kindes. Ganz wollte er doch nicht fehlen; auch die Käthe würde sich freuen, wenn er noch kam.
Er hatte von seinem Vater einen Siegestaler von Anno dreizehn ererbt – eine Öse war schon daran – da sollte die Käthe gleich ein Schnürchen durchziehen, und er wollte ihn seiner Tochter heute um den Hals hängen als einen Talisman. Er war ganz glücklich in dieser Idee. Was der alte Wachtmeister Rinke wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sich sein Enkelkind an seinem Siegestaler einmal die Zähnchen durchbeißen könnte?! Freuen würde der sich.
Lebhaft gedachte der Feldwebel in dieser Stunde seiner Eltern. Nun er selbst Vater war, fühlte er sich ihnen näher, obgleich er die Stelle, wo sein Vater in der Erde ruhte, nicht kannte. Der Alte lag wohl in irgendeinem Massengrab bei Waterloo. Und die Mutter? Die war schon begraben worden Anno dreizehn, als der Vater noch unterm Blücher im Kriege focht. Die Mutter! Ach ja, die hatte bitter Not gelitten in ihrer Todkrankheit; die Nachbarn im armen märkischen Nest hatten auch nichts, er, der Zwölfjährige, war ihre einzige Stütze. Rinke erinnerte sich deutlich der kalten Winternacht, in der er, ohne Strümpfe, die nackten, mit Lappen umwickelten Beine in die zerrissenen Schuhe gesteckt, zum Flüßchen hinabgelaufen war, um Eis zu hacken, damit sie ihren Durst löschen konnte. Die Axt war ihm abgeglitten und hatte seinen Fuß getroffen, er hatte dessen nicht geachtet und war in fliegendem Lauf zu der Fiebernden zurückgeeilt. Da hatte er gelernt, die Zähne zusammenzubeißen. Es gehörte Mut dazu, die einsame, lange Winternacht hinzubringen in der kalten Kammer, an deren klapperndem Fenster der Wind rüttelte. Die Sterbende suchte bei ihm Wärme in ihrer Todeskälte; selbst frierend, preßte er sie in seine Kinderarme. So hatten sie einander umklammert, der Sohn der Mutter Schutz gebend und doch zugleich noch Schutz bei ihr suchend.
Friedrich Rinke hatte kein Glück, wenn er seiner Frau von der Vergangenheit erzählen wollte. Das erstemal hatte sie zwar mitleidig geweint, aber als er noch einmal darauf zu sprechen kam, sagte sie: »Och, laß dat!« Es verdarb ihr die gute Laune. Aber seiner Tochter wollte er früh davon erzählen, das nahm er sich vor. –
Immer rascher hatte er sein Pferd angetrieben. Schaum stand dem Tier auf den Flanken, als er in den Kasernenhof sprengte. Mit steifen Beinen stolperte er die Holzstiege zu seiner Wohnung hinan; er lachte in sich hinein – ob die kleine Josefine wohl schlief? Es war drinnen ganz still. Die Hand auf die Klinke legend, drückte er sie behutsam nieder – was, verschlossen?! Donnerwetter, hatte die Käthe sich eingesperrt?
Er klopfte, erst mit dem Finger, dann mit der Faust; er rief: »Käthe, Käthe!« Und immer grollender: »Frau!« Keine Antwort. Sie war nicht da. Aber das Kind mußte doch drinnen sein? Er horchte: auch von dem kein Tönchen!
Was war denn das für eine Zucht?! Einen Fluch ausstoßend, polterte er die Stiege wieder hinunter. Wo steckten sie?
Ein paar Soldaten, die auf der Bank vor der Tür ihres Blocks rauchend den Sonntag verdruselten, standen stramm: die Frau Feldwebel war gegen Mittag mit dem Kind und dem alten Weibsbild fortgegangen; bis jetzt hatten sie sie nicht wiederkommen sehen.
Fort stürzte der Feldwebel. – – –
Also hier fand er sein Weib?! Auf Rinkes Stirn schwoll die Zornesader; mit einem Blick, der alles durchbohren zu wollen schien, maß er die lustige Gesellschaft.
Eine augenblickliche Verlegenheit entstand. Der schwarze Hendrich machte einen Kratzfuß und ließ die Frau Feldwebelin schleunigst auf der Bank niedersitzen. Trina wurde so blaß, wie sie vorher rot gewesen; der fröhliche Rausch verflog, sie war plötzlich ernüchtert, ihr Herzschlag stockte.
Nur Peter Zillges, in seiner glücklichen Harmlosigkeit, nahm des Feldwebels seltsame Miene nicht krumm. Am frohen Fest allen Groll vergessend, schlug er ihn freundschaftlich auf die Schulter: »No, Herr Schwiegersohn, wat is gefällig? Bier oder e Gläsche Wein? Ja, heut hat der Pittger Zillges die Spendierbuxen an. Dat Finchen soll leben, un seine Eltern daneben! Hoch, hoch, hoch!«
Sie riefen alle: »Hoch, hoch, hoch!« Aber der Preuße verzog keine Miene und blieb frostig. »Steif wie ein Zaunstecken«, mäkelten die Gäste hernach.
Auch als die Schwiegermutter, die einem etwaigen Ungewitter vorbeugen wollte, sich betulich um Rinke mühte, hatte sie kein Glück. Was sie auch anbot an Speise und Trank, schlug er aus; sie hatte Mühe genug, daß sie ihn zum Sitzen bekam. Ihre Erklärungen: die Trina habe sich ohne ihn so einsam gefühlt, darum hätten sie sie mitgenommen in den »Bunten Vogel« die Gäste seien nur ein paar Nachbarn, die sich zufällig eingefunden – bei der Taufe sei das Finchen sehr brav gewesen, es sei ein gar lecker Tierchen und seinem Vater schon ähnlich – all das beantwortete er mit keiner Silbe. Nach wenigen Minuten erhob er sich wieder: »Komm, Käthe!«
Auf solchen Ton gab's kein Widerstreben; Frau Trina stand sofort auf. Hastig band sie sich den Hut zu und warf die weite Mantille mit der Seidenfladrusche um; es fröstelte sie plötzlich. So sehr drängte er zum Aufbruch, daß sie kaum ein Nicken für die Freunde fand und ein kurzes: »Adjüs zusammen!«
Die Mutter war mit herausgelaufen; nun stand sie in der Haustür und schaute dem Paar nach. Trina hatte das Kind tragen wollen, er es ihr aber abgenommen. Jetzt machte er so große Schritte, daß die Frau kaum nachkonnte. Seufzend und mit bekümmertem Gesicht sah Mutter Zillges hinter den beiden drein – ach Gott, ach Gott, das gab ein böses Donnerwetter!
Nie war Trina der Weg von der Ratinger- bis zur Kasernenstraße so lang geworden; trotz des schnellen Rennens dauerte er heute ewig. Die Knie zitterten, die Füße versagten, ihr war schwindlig und schlecht zumut; aber sowie sie einen Augenblick stehenblieb, um nach Luft zu ringen, rief er: »Komm!« Sie wagte nicht, zurückzubleiben, sie hastete sich ab, daß ihr der Schweiß auf der Stirn perlte. Es war ihr nie geheuer, wenn er sie so stumm ansah, nur knapp ein Wort sagte; war er erst am Schimpfen, dann war's nicht mehr so schlimm, da kam sie ganz gut gegen an, ihr Züngelchen konnte sich flink rühren. Aber heute hätte sie sich kein Wort getraut.
Atemlos tappte sie die Stiege hinauf; er wartete längst oben. Als sie den Schlüssel mit zitternder Hand aus ihrer Tasche vorholte, entfiel er ihr; sie bückten sich beide zugleich danach und stießen die Köpfe gegeneinander. Da wagte sie, obgleich ihr der Schädel brummte, ein kleines Lachen; aber ihr Mann ging nicht darauf ein, sah sie gar nicht an, entriß ihr den Schlüssel und stieß ihn heftig ins Schloß.
Sie traten ein, und plötzlich, wie mit einer Riesenlast, fiel es der jungen Frau auf die Seele: wie dürftig, wie häßlich war's hier! Getünchte Wände ohne Schmuck, keine Bilder, nackte Dielen, unbequeme Holzschemel, nebenan in der Kammer die schmalen, eisernen Bettstellen mit den groben, härenen Decken und des Feldwebels tannener Kleiderkasten. Ach, und zu Haus alles so hübsch, so behaglich! Oh, daß sie nicht dagegen protestiert hatte, als der Bräutigam alles überflüssig fand. Ein Soldat, was weiß der von Behagen. Wenigstens ein Bett mit einem Himmel hätten sie doch haben müssen, ein Muttergötteschen und eine traulich glimmende ewige Lampe! Ganz verzweifelt fuhren ihre Blicke umher: noch nie hatte sie so den Unterschied zwischen dem »Bunten Vogel« und der Soldatenstube gesehen wie heut. Das Herz sank ihr, sie fing an zu weinen und setzte sich in einen Winkel.
Der Feldwebel brachte sein Kind selber zur Ruhe; kaum daß Trina sich traute, als er draußen in der Küche nach einem Stück Brot suchte, das Kleine aus der Wiege zu nehmen und an die Brust zu legen. Der Kopf war ihr schwer, der Magen tat ihr weh, sie weinte in einem fort. Weinend kroch sie ins Bett, noch weinend schlief sie ein.
In der Nacht erwachte sie jäh – das Kind schrie durchdringend. Ganz entsetzt sprang sie auf. Ihr Mann stand schon bei der Wiege; er hatte das Öllämpchen angezündet und leuchtete damit ins Bettchen nieder, in dem er das Kind aufgebündelt. Die kleine Josefine zog krampfhaft die Beinchen hoch an den Leib, jämmerliche Schmerzensschreie ausstoßend.
»Jesus, wat hat et nur, warum weint et denn?« fragte Trina erschrocken.
Er gab ihr keine Antwort; finster blickend raffte er die Decke von seinem Bett und wickelte das Kind hinein. So trug er's im Zimmer auf und ab, immer auf und ab, rastlos hin und wider. Sie wollte es ihm abnehmen.
»Zu Bett!« herrschte er sie an.
Ängstlich verkroch sie sich wieder unter ihre Decke und blinzelte nur verstohlen zu ihm hin.
Mitternacht war längst vorüber, schon dämmerte ein bleicher Schein überm Exerzierplatz. Noch immer wanderte Rinke auf und ab, hin und wider, und noch immer wimmerte das Kind. Sie konnte es nicht länger mehr aushalten, an Schlafen war doch nicht zu denken; die Decke abwerfend, lief sie zu ihm hin.
»Is et krank? Ach Gott, ach Gott!« rief sie angstvoll und rannte neben ihrem Mann her, bleich und fröstelnd. Sie klammerte sich an seinen Arm. »Ach, Jesus Maria, Rinke, sag doch, wat hat es dann?«
»Bauchweh!« stieß er kurz heraus. »Und du bist schuld dran!« Und als sie ihn betroffen, ganz verdutzt ansah mit ihren müden, verschwiemelten Augen, hob er zornig die Hand und gab ihr einen Backenstreich.