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Sechstes Kapitel

Eigentlich war es schon Winter. Und doch war es noch nicht Winter, denn der November ließ sich an wie ein Oktober. Die Kastanien in der Königsallee waren noch nicht gänzlich entlaubt, im Hofgarten blühten noch Dahlien und Georginen; Allerheiligen war lange vorbei, und doch dufteten noch Rosen auf den Gräbern. Vom Rhein kam ein lindfeuchtes Wehen, kein Wind. Die niederen Wiesen jenseits des Flusses schimmerten noch frischgrün, die Weidenbüsche standen wie im Saft.

Gut Wetter zum Martinsabend.

Josefine Rinke freute sich: heut abend würden sie alle mit dem Laternchen gehen; nur die arme Mutter durfte nicht mit, der Vater fand das für Große zu lächerlich.

»Zint Mäten, Zint Mäten« – Sankt Martin!

Sie machte einen kleinen Hops, aber dann besann sie sich und steckte die Nase wieder ins Buch, das sie aufgeschlagen vor sich her trug. Sie lernte noch auf dem Schulweg.

Jetzt war sie keine so gute Schülerin mehr, wie damals bei den Ursulinerinnen. Seit anderthalb Jahren ging sie in die evangelische höhere Töchterschule, die unter dem Protektorat der Prinzessin Luise, der erlauchten Gemahlin Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich von Preußen stand, der im Jägerhofschlößchen am Hofgarten residierte.

Der Feldwebel war nicht wenig stolz darauf und auch seinem früheren Hauptmann nicht wenig dankbar, der ihn dem früheren Garnisonprediger und jetzigen Regierungsschulrat empfohlen hatte. Der leutselige Beamte hatte ein Einsehen gehabt, durch eine Ermäßigung des Schulgeldes wurde es dem bewährten, langgedienten Soldaten ermöglicht, seiner Tochter eine höhere Bildung teilhaftig werden zu lassen. Von der Zeit an hatte sich der Feldwebel die einzige abendliche Pfeife abgewöhnt – das Schulgeld war für seine Verhältnisse noch immer hoch genug. –

Josefine schlenderte langsam, ihre Schulsachen in einem Lederriemen unter den Arm gepreßt. Gut, daß die Straße noch still war, um halb acht in der Frühe. Nur ein Gemüsekarren rumpelte, und eine Milchfrau trug ihren Rahm aus. Josefine mußte nachholen, was sie gestern versäumte; das große Bataillonsexerzieren hatte all ihre Zeit in Anspruch genommen, und die deutsche Orthographie wollte ihr sowieso schwer in den Kopf.

Ein schwarzlockiges Mädchen kam hinter ihr drein gerannt: »Fina! Finchen!«

Sie hörte nicht.

Nun zupfte sie die Schwarzlockige leicht am Jackenschoß: »Hörst du denn gar nicht?«

»Och, Cilli, du! Ich lern noch, ich kann noch nix!«

Schon wieder vertiefte sich Josefine in ihr Buch, aber Cäcilie von Clermont zog es ihr weg.

»Ach, laß doch jetzt! Ich sag dir vor, wenn du dran kommst, wahrhaftig!« Und dann wendete sie sich zu dem Burschen um, der, in eine Livree gesteckt, ihr den Bücherpacken nachtrug: »Buschmann, Sie können jetzt nach Haus gehen – so – ich trag's mir schon allein. Aber nicht dem Herrn Major sagen, Buschmann, auch nicht der Frau Major!«

Der Bursche grinste und machte kehrt.

»So, Fina, nu faß mich unter«, sagte Cäcilie. »Erzähl mir was. War gestern das Bataillonsexerzieren schön? Ich wäre schrecklich gern zu euch in die Kaserne gekommen zum Zugucken, aber Mama sagte, das schickte sich nicht mehr für mich. Auch mit der Laterne soll ich heut nicht gehen. Scheußlich! Und es ist doch Martinsabend!« Sie schmollte. »Ich wünschte, der Viktor wär nicht gerad jetzt auf Urlaub gekommen, der ist so – so – weißte, der bestärkt Mama noch in so was. Der wird nu bald Fähnrich, aber er tut mindestens schon so, als ob er Major wäre, wie Papa. Du mußt ihn bloß mal sehen – schneidig, sag ich dir!«

»Ich will ihn gar nit sehen!« Josefine warf den Kopf zurück. »Wenn du nit mehr zu uns kommen darfst, komm ich auch nit mehr zu euch. Un den Viktor, bäh« – sie schnitt eine Grimasse – »den kenn ich gar nit mehr, dazumal war ich ja noch ganz klein!«

Seit Josefine in die Töchterschule ging, war sie wieder mit Cäcilie von Clermont befreundet, besser sogar, als sie es in der Kinderzeit gewesen. Da war nur der kleine Soldat das Bindeglied gewesen, und als der fort war, zeigte Josefine keine Neigung mehr für das Clermontsche Haus; der Verkehr war eingeschlafen. Der Zufall hatte nun die beiden Gleichaltrigen nicht nur in derselben Klasse, nein, auf derselben Bank zusammengeführt.

Es war ein großes Ereignis für den Feldwebel, wenn die Tochter seines früheren Hauptmanns seine Josefine besuchte. War Josefine auch keine besonders gute Schülerin, es umschwebte sie doch ein eigner Nimbus: sie kam ja aus der Kaserne! Endlos zog sich der einstöckige Bau längs der Straße; hinter seinen mit Blechkästen versperrten Luken schmachteten Soldaten im Arrest, schöne Offiziere klirrten über die Höfe, auf dem Exerzierplatz spielte die Regimentsmusik, – und auf den vielen Treppen, den zahllosen Gängen, in all den Stuben und Kammern, was mochte da nicht alles vor sich gehen?! Die andern Mädchen beneideten Cäcilie von Clermont um ihre Freundschaft mit der Feldwebeltochter. –

Als heute die Nachmittagsschule aus war, schlenderten die beiden wieder Arm in Arm, aber sie trennten sich nicht wie sonst an der Ecke, sie kamen heute gar nicht voneinander los.

»Du«, sagte Cäcilie und schlug die langbewimperten Augen gen Himmel, »herrlich, daß ich nun doch mit der Laterne gehen darf! Ich habe aber über Mittag auch gequält! Am Jan Willem auf dem Markt treffen wir uns also. Du – ha, findst du nicht, es riecht schon aus jedem Haus so lecker nach Puffern? Ach, wenn wir doch auch welche backten!«

»Sei still«, tröstete Josefine, »ich bring dir morgen welche mit in die Schule. Meine Großmutter backt se so lecker! Aus Buchweizenmehl mit Korinthen, in Leinöl. Un dann in Sirup gestippt – ha!« Sie klopfte sich mit einem strahlenden Gesicht auf den Magen. »Ich kann en Dutzend essen. Wenn 's nur schon Abend wär!« Trällernd machte sie einen Freudensprung: »Zintmäten, Zintmäten, die Kälber –«

»Gott, Fina!« Erschrocken hielt ihr Cäcilie den Mund zu. »Was sollen die Leute von uns denken?«

Ein paar Jünglinge drehten sich eben nach ihnen um. Cäcilie wurde rot und schlug verschämt die Augen nieder, Josefine aber schnitt eine Fratze: »Dumme Jungens! Zintmäten, Zintmäten! Adjüs, Cilli!« Kräftig schlug sie der Freundin auf den Rücken.

»Vergiß nicht – um sieben Uhr – am Jan Willem«, rief ihr Cäcilie nach.

Fina hörte schon nicht mehr. Da rannte sie hin, daß ihr halblanger Rock flatterte und man ihre weißbestrumpften Beine bis zum Knie sah. –

Peter Zillges war nicht für die neumodischen Papierlaternen; er hatte seinen Enkeln Kürbisse ausgehöhlt, ihre Namen und allerhand andres hineingeritzt: Gesichter, und Sonne, Mond und Sterne. Die Zeichnungen waren unvollkommen – Großvaters Hand hatte schon sehr gezittert – aber schimmerte ein Lichtchen von innen durch, machte sich solch ein Kürbis doch wunderbar schön.

Vom »Bunten Vogel« zogen die Geschwister am Abend aus. Josefine trug ihren Kürbis, groß und gelb wie ein Holländer Käse, auf einem Stock; die Brüder schwenkten ihre kleineren an Bindfadenschnüren. Die Kinder sangen; hell klangen ihre Stimmen in den lauen Abend hinaus.

Und von nah und fern, vom anderen Ende der Ratinger-, von der Ritter- und der Mühlenstraße, vom Hunsrück und der Mertensgasse, von allen Seiten fielen Kinderstimmen ein, hoch und tief, rein und falsch, durchdringend wie Pfeifenton, jubelnd wie Trompetenfanfaren: »Zintmäten, Zintmäten!«

Wie Glühwürmchen funkelt es auf in den dunkeln Straßen, an den Häusern zieht es vorbei in bunten Reihen, über den Köpfen wogen und wirren Lichter in Weiß und Gelb, in Rot und Grün. Licht, Licht – ein Meer von schwankenden Lichtern! Ganze Kinderscharen haben sich zusammengefunden beim Klang einer Schelle; und wo sich Knaben und Mädchen begegnen, pusten sie sich in die Laternen, und die Buben singen grob:

»Zintmäte, Zintmäte.
Die Kälver hant lang Stäte,
Die Jongens sin Rabaue,
Die Mädches wolle mer haue!«

Und die Mädchen zirpen dagegen:

»Die Mädches sin Rabaue,
Die Jongens wolle mer haue,
Die Mädches trinke rode Wein,
Die Jongens schmeiße mer in den Rhein!«

»Zintmäte, Zintmäte!«

Josefine hielt ihren Kürbis krampfhaft hoch, ein paar große Jungen hatten es darauf abgesehen, ihr das Lichtchen zu löschen; sorgsam trug sie es vor sich her, wie etwas Heiliges bei der Prozession, schier andächtig die Blicke darauf heftend.

Je näher dem Rhein, desto größer das Getriebe, desto lauter das »Zintmäten«.

An den Bürgerhäusern klingelt es, helle Kinderstimmen erheben den Bittgesang:

»Hier wohnt ein reicher Mann,
Der uns wohl was geben kann.
Selig soll er leben,
Selig soll er sterben,
Das Himmelreich ererben.«

Um den alten Jan Willem am Markt dreht sich ein wirbelnder Gnomenreigen. Auf den Treppen des Rathauses und des Theaters halten Eltern ihre Kleinsten in die Höhe, und wo die winzige Kinderhand das Laternchen nicht schwenken kann, tut es die kräftige Faust des Vaters.

Zintmäten, Zintmäten! – Da ist keiner zu alt.

Josefine hatte viel Anfechtung, die großen Jungen von der Ratingerstraße waren ihr bis hierher gefolgt. Hilfesuchend sah sie sich um, aber die Brüder waren im Gedränge abhanden gekommen; nun setzte sie sich allein zur Wehr. Mit dem Rücken an das Gitter, das den Jan Willem vorm Marktgetriebe schützt, gelehnt, reckte sie ihren Stock, so hoch sie konnte.

Gleich neckenden Teufeln hüpften die Buben vor ihr herum:

»Zintmäte, Zintmäte!
Die Mädches lecke de Plate,
Die Jongens esse de Tate,
Die Jongens esse gebackene Fisch.
Die Mädches schmeiße mer unner den Disch.«

Josefines Augen funkelten, das Mützchen war ihr längst in den Nacken geglitten, die blonden Haare ringelten sich halb gelöst – jetzt stieß sie einen hellen Hilferuf aus, und ein anderer Ruf antwortete: »Fina!«

Hurra, da war Cäcilie! Mit einem heftigen Anlauf ihre Bedränger zur Seite stoßend, stürmte Josefine durch, im Schwung warf sie sich der Freundin an den Hals.

»Mein Stern, mein Stern!« Ängstlich hielt Cäcilie ihren roten Papierstern in die Höhe, der einen rosigen Schimmer auf ihr zartes Gesichtchen unter der weißen Schwanenkapuze warf. »Viktor, o die frechen Jungens!«

»Unverschämte Bande«, sagte das junge Herrchen an ihrer Seite und zuckte die Achseln. Die Jungen ohne Hut, in Kittel und Holzklumpen, wagten keinen neuen Angriff, sondern zogen nur noch ein Weilchen hinterdrein.

Also, das war der Viktor, wirklich der Viktor? Der kleine Soldat?! Josefine war enttäuscht: heut trug er keine Uniform. Aber groß war er geworden, und wie stramm er sich hielt! Fähnrich wurde er, hatte die Cilli gesagt; dann war er auch bald Offizier – oh! Es war doch wieder etwas von der alten Bewunderung in dem Blick, mit dem sie ihn neugierig von der Seite betrachtete.

Er fühlte das und begann an der Oberlippe zu zupfen. Noch war da erst ein kaum sichtbarer Flaum, aber er zupfte doch. Komisch, daß es ihm eigentlich Spaß machte, mit den kleinen Mädchen zu gehen – was würden wohl die Kameraden dazu sagen?!

»O wie gut, daß du mitgegangen bist, daß wir nicht allein sind«, seufzte Cäcilie in einem wonnigen Grausen nach überstandener Gefahr.

»Sie sollen sich nur unterstehen«, sagte er und warf einen stolzen Blick zurück.

Josefine wunderte sich im stillen, daß der Viktor gar nichts von früher zu ihr sagte. Ob er nicht mehr wußte, daß sie vor Jahren so schön miteinander spielten? Hatte er denn das vergessen? Sie wußte es doch noch. Auch daß er sie »Sie« nannte, das war so fremd! Ein Fräulein war sie doch noch nicht – Gott sei Dank! Mit einem strahlenden Blick sah sie auf ihre Füße hinunter. Die Cäcilie konnte den Rock immer nicht lang genug kriegen – oh, so dumm!

»Zintmäten, Zintmäten!« Sie machte einen kecken Hopser über den breiten Rinnstein, und dann fing sie an, mit ihrer lustigen Stimme zu singen:

»Zintmäte sein Vögelche
Mit dem roten Krägelche –«

Viktor, der angehende Fähnrich, betrachtete sie wohlgefällig von der Seite. Nett war die geworden – ganz famos! Soviel er sich erinnerte, war sie immer niedlich gewesen – aber so niedlich? Er fing an, Josefine zu necken: mit ihrem Düsseldorfisch, mit ihrem Kürbis. Frischweg ging sie darauf ein, nur als er ihr das Lichtchen ausblasen wollte, sagte sie drohend: »Mach!« und hob die Hand.

Er machte es nicht im geringsten besser als die Jungens in den Holzklumpen; wie vorhin die, so umhuschte er sie jetzt, bald von rechts, bald von links. Das war ein Jagen übers Trottoir, ein Schäkern und Lachen, ein ausgelassener Kampf um das Lichtchen. Zintmäten, Zintmäten – sie vergaßen ganz das »Sie«.

So schön war's heut! Der Mond am Himmel schämte sich und versteckte sich vor all dem Glanz. Vom Rhein grüßte ein lindes Wehen und strich sanft kühlend über die glühenden Wangen, die erhitzten Stirnen.

»Zintmäten, Zintmäten!« Jauchzend sprang Josefine dahin, wie getragen von Windesflügeln, die roten Lippen zu schallendem Gesang geöffnet.

Und der Abend flog auch dahin – zu rasch.

»Nach Hause«, sagte Viktor plötzlich und faßte die Hände seiner Schutzbefohlenen. Es behagte ihm auf einmal nicht mehr, allerhand Pöbel füllte die Straßen: Rheinkadetten, Burschen und Mädchen aus den Fabriken. In langer Reihe, Arm in Arm, sperrten sie den Weg. Schon mischten sich andre Lieder ins Martinsliedchen der Kinder. Hier und dort wurde recht wüst gegrölt:

»Kommt de Lehrer in de Schul',
Setzt hä sich op seine Stuhl –«

und wo die Bürgerhäuser ihre Türen nicht mehr öffneten beim ungeduldigen Pochen der Fäuste:

»Dat Huus, dat steht up eene Penn,
De Geizhals, de wohnt metten drenn –
Geizhals, brich den Hals,
Dat de morje sterbe kanns!« – – –

»Och, wie schad«, seufzte Josefine, als ihr letztes niedergebranntes Lichtchen vor der Tür des »Bunten Vogels« verlöschte. Drinnen roch es nach den leckeren Puffertkuchen der Großmutter, und doch zögerte sie noch: »Wie schad!«

Viktor schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich abschiednehmend. Aber dann nahm er die kleine, warme Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und sagte: »Ich bleibe ja noch vier Wochen hier!« und dann mit einem bedeutsam-festen Druck: »Bis morgen!«

Vier Wochen, lange vier Wochen, – waren sie wirklich schon vorbei?

Viktor von Clermonts Urlaub neigte sich seinem Ende zu; das Weihnachtsfest würde er nicht mehr zu Hause verleben, nur noch den Nikolaustag. Der war heute.

Betrübt schlenderte er über die Kasernenstraße: wie sollte er's ermöglichen, ihr einen Weckmann zu schenken? Keiner in ganz Düsseldorf, der heute, an Sankt Nikola, seiner Angebeteten nicht einen Weckmann verehrt hätte.

In allen Konditor- und Bäckerläden prangten Weckmänner: große und kleine – mit Schokoladenknöpfen und ohne Knöpfe, mit Mandeln und Zitronat gespickt, und alle mit Korinthenaugen und einer Tonpfeife im Maul.

Sinnend blieb Viktor an einem Schaufenster stehen. Zweimal hatte er was spendiert: das erstemal eine Cremeschnitte, das andere Mal freilich nur eine Tüte gerösteter Kastanien. Zu Weiterem hatte es nie gelangt. Ach, wenn das Taschengeld doch nicht so knapp wäre! Es reichte nicht mal immer zu den notwendigsten Ausgaben. Und der Vater konnte beim besten Willen nicht mehr geben; wenn der jetzt auch Major war, er war doch auch immer knapp. Na, hoffentlich würde es anders werden, wenn man erst Seiner Majestät Leutnant war bei der Garde! Bald würde es wohl Krieg geben, da würde er sich nebst den Epauletten auch noch das eiserne Kreuz verdienen, auf der linken Brust zu tragen.

Zögernd klimperte er mit seinen letzten paar Groschen in der Hosentasche. Hier im Fenster lag so ein ganz kleiner Weckmann, der würde gewiß nicht mehr kosten als ein paar Groschen. Morgen mußte er ja ohnehin fort, und dem Mädel blieb nichts als diese Erinnerung.

»Ha, wie lecker«, würde sie sagen und lachend in den Weckmann ihre weißen Zähne vergraben. Und seine Hand würde sie fassen wie letzthin, als er mit ihr im Hofgarten promenierte und es anfing, schaurig dunkel zu werden unter den hohen Bäumen der Seufzerallee.

Entschlossen betrat er den Laden. Nach wenigen Augenblicken kam er wieder heraus, den kleinen Weckmann, in ein Papier eingeschlagen, sorgfältig in der Hand. Und nun ging er die Straße, auf der der Kaserne gegenüberliegenden Seite, immer auf und ab.

Ob sie noch nicht kam? Ein Glück, daß Cäcilie verschnupft war und sich nicht hatte anschlängeln können!

Wenn sie doch käme! Es war frostig heute.

Halt, knarrte jetzt nicht das Kasernentor? So öffnete sie's immer, ein wenig mühsam, sich stemmend gegen die schwere Wucht des Torflügels.

Sie war's. Schon lief sie über die Straße auf ihn zu; aber sie war nicht allein, ihr jüngstes Brüderchen führte sie an der Hand. »Tag, Viktor! Das Karlchen will auch den Rhein gucken gehen. Hochwasser. Und dann muß ich nach der Ratingerstraße. Hau, der ganze Keller is da voll Wasser gelaufen!«

Wie lästig, daß sie das kleine Kind mitbrachte! Viktor fühlte sich gekränkt. Und dann wollte sie gleich nach der Ratingerstraße laufen, um das Wasser im Keller zu sehen – also das war ihr die Hauptsache an seinem letzten Tag? Beleidigt steckte er den Weckmann in seine Rocktasche – wenn sie so war, dann kriegte sie den auch nicht!

Sie merkte nichts von seiner Verstimmung, lustig schwatzte sie. Nun hatte sie schon jedes Frühjahr, wenn das Eis trieb und der Schnee schmolz, das Grundwasser in den Keller steigen, sämtliche Gossen und Kanäle der Stadt übertreten und auf den Wiesen der anderen Seite die Weidenbüsche wie vereinzelte Haarschöpfe herausstehen sehen; aber so früh im Winter war noch nie Hochwasser gewesen. Jetzt waren sogar die Straßen überschwemmt, und – jubelnd klatschte sie in die Hände – am Zolltor und in der Rheinstraße fuhren sie mit Kähnen.

»Laß uns gucken gehn, laß uns gucken gehn!« Rasch riß sie ihn mit fort.

Und Menschen, Menschen hasteten dem Rhein zu. Alles lief. Immer schlüpfriger wurde das Pflaster, beschmutzt von unzähligen, nassen Tappen. Selbst aus den Steinen schien schlammige Feuchtigkeit zu quellen; es roch nach Moder. An der Ecke der Marktstraße, wo sonst die Obstfrau sitzt, war die Gosse ein See. Krämer standen auf ihren niedrigen Ladenschwellen, filzbeschuht, mit blauer Schürze, und schauten, ihr Pfeifchen paffend, nach dem Wasser aus.

Und halt – die Menge staute sich, Josefine stieß einen hellen Schrei aus –, nun geht's nicht weiter, das Wasser, das Wasser! Er plätschert dem alten Jan Willem um die Füße.

Noch sind Bretter über die Blöcke gelegt, schwankende Stege, die nur mit kühnem Balancieren zu überschreiten sind; aber dann breitet sich eine Flut, eine tiefe, stille, lautlose, dunkle Flut, die nichts mit dem schönen Grün des Rheins gemein hat. Die Rathaustreppen sind überspült, die Säulen des Theaters ragen wie Stümpfe aus dem Wasser; hinunter nach dem Zolltor fahren Kähne. Aus den Häusern der Zollstraße schauen vom Oberstock Weiber mit blassen Gesichtern; sie haben in der Nacht wenig Schlaf bekommen, da sie flüchten mußten, von unten nach oben, mit Kind und Wiege und Mann und Maus. Aber sie lachen. Und die Männer, denen aus den Kähnen Feuerung und Wasser und Brot und Kartoffeln in Eimern, an Stangen hängend, gereicht werden, lachen auch. Und die Rheinschürgen, die in ihren hohen Stiefeln und den geteerten Jacken geschäftig sind, lachen auch. Und die vorwitzigen Jungen, die, die Hosen aufgekrempelt, barfuß ins Nasse planschen, bis ihnen das Wasser plötzlich bis unter die Achseln steigt, lachen auch. Es klatscht und spritzt, es plätschert und sprüht – Neugierige werden bis aufs Hemd naß, kein Mensch hat einen trocknen Fuß, aber alles lacht, lacht, lacht.

Josefine war außer sich vor Entzücken; auch Viktor vergaß seinen Mißmut. Er fühlte sich als Beschützer: hier zwei Hilflose, und er Ritter und Retter. Sorgsam bot er dem Mädchen die Hand, an schwierigen Stellen nahm er das Karlchen Huckepack.

Vom Rhein wehte es stark – ach, wer den jetzt nur ganz übersehen könnte! Vom Kohlentor erhaschten sie endlich den Blick.

Oh, wie der floß und floß und sich dehnte, grau, grau, bis ins Unendliche, ein weites, unabsehbares, ein in alle Ewigkeit flutendes Meer! Drüben die grünen Wiesen verschwunden, nur Pappelkronen ragen noch auf und Dächer von Bauernhöfen. Kein Gras mehr, keine Büsche, kein weidendes Vieh; der Rhein hat sich breitgemacht und alles verschluckt. Hinauf nach Köln und hinunter nach Holland ist alles sein. Selbst der Himmel ist sein; er hält den umarmt im grauen Dunst. Wo sind Wolken, wo Wasser? Man weiß es nicht – alles eins im Duft, im schwimmenden Nebel. Grauend und brauend wogt es und wallt es, zieht und flieht, naht und drängt, weht und winkt – Schleier und Netze wirft der Rhein aus, die alles umstricken. –

Es war den beiden heiß, glühend heiß, als sie am »Bunten Vogel« anlangten. An jedem Haar hing ihnen ein Tröpfchen; das waren Perlen vom Rhein, der hatte sie in den Armen gehalten und auf die Stirnen geküßt. Sie hatten angekämpft gegen den sausenden Wind, der ihre Kleider gelüftet und ihnen Luft in die Herzen geblasen. Ihre Augen strahlten. Im Hausflur holte Viktor rasch seinen Weckmann hervor und drückte ihn Josefine in die Hand.

Wie selbstverständlich trat er mit ihr in die Stube.

Draußen spülte das Wasser schon bis an die Schwelle des »Bunten Vogels«, aber innen saß sich's gemütlich warm. Die Großmutter holte in gastlicher Freude Kaffee und Blatz. Der Großvater grämelte: das sei ja gar kein richtiges Hochwasser. »Kein Wunder, auch der Rhein kömmt aus der Reih. Der find't sich auch nit mehr zurecht in Düsseldorf – all die neuen Straßen und die Plätz, die Eisenbahn, die Fabriken! Und wat se noch alles am Planen sind! Ich les' in der Zeitung: en einig Deutschland. Dumm Zeug! Wat geht uns dat an? Dat der Bürger zufrieden is, das is die Hauptsach!«

»Komm«, flüsterte Josefine und stieß unter dem Tisch an Viktors Knie, »wir wollen in den Keller gehn! Da is en Bütt, da können wir drin fahren!«

Die beiden Alten merkten es nicht, daß die beiden Jungen zur Stube hinausschlüpften.

Im Keller des »Bunten Vogels« war alles auf Stellagen gerettet: die Flaschen und Krüge, die Fässer und die Kappestonne. Sorgsam zog Josefine die Kellertür hinter sich zu. Nun waren sie ganz im Dunkeln. Eine feuchtwarme, schwere, moderdurchschwängerte Luft hüllte sie ein. Viktor verging der Atem, tastend griff er um sich.

»Still«, flüsterte Josefine. Und nun flammte es auf, sie hatte ein Streichhölzchen angerieben; ein Kerzenstümpfchen holte sie aus der Tasche und steckte es an. Jetzt sahen sie: wenige glitschige Stufen hinunter, und da war schon das Wasser. Schwarz wie Tinte, regungslos stand's unter dem Gewölbe. Eine große, ovale Waschbütte schaukelte wie ein Nachen am Treppenpfosten.

Hand in Hand blieben sie auf der untersten, schon bespülten Stufe stehen; Josefine hatte das Lichtstümpfchen niedergestellt, nun warf es einen flackernden Schein auf die fahle Kellerwand gegenüber und zeigte ihnen ihre Schatten wunderlich groß. Sonst schien alles versunken in der dunkel gähnenden, geheimnisvollen Höhle.

»Fahr mich«, hauchte sie bittend.

Und so fuhren sie in der Bütte; sie mit den Händen im schwarzen Wasser plätschernd, er ein paar aufgefischte Holzscheite als Ruder benutzend. Langsam paddelten sie umher. Sie sprachen kein Wort – auch von außen kein Laut. Da war eine versunkene Stadt, und sie beide schwammen allein miteinander, mutterseelenallein, auf einem weiten, weiten Meer.

Ein immerwährendes, glückliches Lächeln lag auf Josefines Gesicht.

»Fahr mich noch mehr, fahr, fahr!« Mit auf die Seite geneigtem Kopf sah sie den Jüngling selig an.

Viktor machte eine ungeschickte Bewegung – da – die Bütte drehte sich, schwankte, heftig puffte sie gegen die unterste Treppenstufe; das Lichtstümpfchen erlosch.

Josefine stieß einen leisen Schrei aus, der Nachen legte sich auf die Seite; aber schon hatte Viktor sie umfaßt. Mit kräftigem Arm hob er sie auf die Stufe.

»Fina«, flüsterte er, sie noch umschlungen haltend, »Finchen, morgen muß ich ja fort!«

»Ach, wie schad!«

»Wirst du mich auch nicht vergessen?«

»Ne, ach ne!«

Da küßte er sie, und sie küßte ihn wieder. Ganz im Dunkeln. Er fühlte nicht, daß seine Füße im Wasser standen. Sie fühlte nicht, daß ihr halblanger Rock durchnäßt war; sie fühlte nur den heimlichen Schauer, der ihr leise, in mädchenhafter Scham, über den jungen Körper rann.


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