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Der Halbfastenmarkt auf dem Karlsplatz war im Gang. Eigentlich hätte es schon Frühling werden müssen, aber die Zelttücher der Buden wehten noch wild im Sturm. Am Hammerdeich, auf dessen Rasenhang sich sonst längst erste Veilchen sonnten, stand das Rheinwasser hoch, und im Hofgarten duckten sich Bäume und Büsche vorm rasenden Märzwind.
In der Kaserne feierten die neununddreißiger Füsiliere mit Kling und Klang den siebzigsten Geburtstag König Wilhelms. Rinkes Fina, wie die Bewohner der Kasernenstraße die Witwe Conradi nannten, hatte unzählige weiße Wildlederhandschuhe dafür zu waschen gehabt – ein schöner Nebenerwerb. Jede Parade, jede Besichtigung gaben ihr zu tun; selbst die Herren Offiziere wandten ihr ihre Kundschaft zu. Der Zahlmeister, eine wichtige Persönlichkeit und Witwer, hatte die hübsche Frau unter seine ganz besondere Protektion genommen. Er brachte seine Handschuhe immer selber, und dann zögerte er länger im Lädchen als nötig. Er war sehr entgegenkommend. Josefine ging schon mit dem Gedanken um, ob sie ihn einmal bitten sollte, ihr den Eintritt in die Kaserne zu ermöglichen. Bis jetzt hatte sie nur immer durchs Tor einen Blick erhascht auf die Ahornbäume. Die waren noch da, nur größer geworden. Daß die Feldwebelwohnung in Hof I nicht mehr als solche diente, das hatten ihr der Gefreite Hucklenbruch von der vierten Kompanie und der Unteroffizier Schmidt erzählt.
Sie begriff gar nicht, was die immer über die alte Kaserne zu schimpfen hatten! Die Stuben wären zu klein und zu niedrig, die Türen Nasenquetschen – ach, und ihr war doch alles so groß und weit und schön in der Erinnerung! Daß Düsseldorf freilich eine nette Garnison wäre, das mußten Schmidt und Hucklenbruch zugeben.
Ja, es war besser geworden zwischen Militär und Bürgerschaft. Königs Geburtstag feierte die Stadt freundschaftlichst mit. Der Kartätschenprinz war ja nun König, ein alter schon und ein siegreicher dazu! Alle Ohren hatten sich gespitzt beim Klang der großen Reveille, der Paradeplatz war von Tausenden umdrängt, die Schulen hatten frei. Als am Abend der große Zapfenstreich durch die Straßen quinkelierte und Bürger in Scharen folgten, da hatte auch Josefine ihre Söhne untergefaßt, und war mitgezogen im gleichen Schritt und Tritt.
»Mutter, kannst du aber marschieren!« sagten die Jungen und lachten. Ja, das konnte sie auch noch – eins, zwei – eins, zwei – hatte sie es denn nicht gelernt? Vertraulich nickte sie zur alten Kaserne hinüber.
Zu Hause beim Ferdinand, der unterdes das Lädchen bewachte, hatte sie dann den Gefreiten Hucklenbruch gefunden.
»Och, Herr Hucklenbruch, wat sind Sie verdrießlich!«
Sie tat verwundert darüber, aber eine Röte stieg ihr verräterisch ins Gesicht. Wußte sie doch ganz genau, der junge Mensch kränkte sich, daß sie es ihm abgeschlagen hatte, morgen mit ihm zum Königsgeburtstagsball zu gehen. Nicht, daß sie nicht noch einmal in ihrem Leben gern getanzt hätte – als er die Einladung so dringend gemacht, da war ihr wohl für ein paar Augenblicke die Lust angekommen, aber nein, was würde der junge Mensch sich dann einbilden?!
Er sah sie schon immer so glühend wie möglich an mit seinen wasserhellen Augen und drehte an seinem schüchternen Schnurrbärtchen.
»Sie wollen also sicher und chewiß nich, Madam Conradi? Und es wär' doch so schön!« Er sah sie an, als hinge seine ganze Seligkeit von ihrer Antwort ab.
»No, so geh doch, Finchen«, sagte der Invalide. »Wenn mer so lang Trübsal geblasen hat wie du, kann mer sich wahrhaftig mal en klein Pläsier gönnen.«
»Ich hab nit Trübsal geblasen«, entgegnete sie rasch und zeigte mit einem vollen Lachen ihre weißen Zähne.
»No, ich mein – no, du bis ja doch nu als zwei Jahr Witwe!«
»Ach so, du meinst wegen Conradi? Ne!« Sie schüttelte den Kopf, ihr Lachen wurde zu einem wehmütigen Lächeln. »Ne, wegen dem könnt ich ruhig auf den Ball gehn, der würd sich nur drüber freuen.«
»O, dann kommen Sie doch hin«, bat der junge Westfale, und sein helles Gesicht, mit dem Sattel von Sommersprossen über der Nase, strahlte. »Chewiß und wahrhaftig, Sie riskieren nix!« Er hob ernsthaft die Hände. »Bei mir sind Sie wie in Abrahams S-chößchen. Chehn Sie doch mit, chehn Sie doch mit! Es wird ganz wunderschön!« Im Eifer tat er, was er sich noch nie getraut hatte, und legte kühn den Arm um ihre Taille.
Da machte sie sich lachend frei; dem nahm sie das nicht übel, der war nicht frech, der war ja noch so jung! Sie lächelte ihn freundlich an, aber sie blieb bei ihrer Absage.
»Danke sehr, Hucklenbruch, aber ne, dat wär ja wohl lächerlich, wann ich mit Ihnen wollt auf den Ball gehn. Ich hab ja schon so en großen Jung!«
Der junge Mensch wurde dunkelrot: nicht zum erstenmal ließ sie es ihn fühlen, daß sie ihn nicht recht für voll erachtete, daß er noch zu jung war. Nein, er wollte auch gar nicht mehr an sie denken; es gab hübsche Mädchen genug, die gern mit ihm auf den Ball gingen. Er pfiff auf ihre Freundlichkeit! Sie brauchte ihn auch gar nicht mehr zu fragen, was denn seine Mutter geschrieben hatte, und ob das Exerzieren »gut gegangen war«. Und doch fuhr es ihm wie ein Stich durch die Seele, als jetzt die Ladenschelle bimmelte und der Unteroffizier Schmidt über die Schwelle trat.
»'n Abend«, sagte Schmidt recht forsch und legte, die Hacken zusammenklappend, den Finger an die Mütze. »Wie steht das Befinden? Alles wohl? Freut mir unjemein!«
Wie der den militärischen Gruß und das Schwadronieren weg hatte, der Kerl! Natürlich, ein Berliner! Die lagen ja schon neunmal klug in den Windeln! Der kleine Hucklenbruch warf einen bitterbösen Blick nach dem für einen neununddreißiger Füsilier auffallend großen Menschen.
Schmidt lehnte jetzt über den Ladentisch, den rechten Ellbogen aufgestützt, und redete auf Frau Fina ein. Was er sagte, konnte der Eifersüchtige nicht verstehen. Aber er sah, wie die blonde Frau mit gesenktem Blick zuhörte. Das Blut sauste ihm in den Ohren: ob sie am Ende mit dem hinging? Der sah natürlich älter aus, hatte dunkles Haar und ein entschlossenes Gesicht – ein freches Gesicht! Der war ihr nicht zu jung.
Aber nun durchrieselte ihn ein freudiger Schreck, denn sie sagte: »Ne, danke, Herr Unteroffizier, wat Sie da auch alles sagen, ich geh nit mit.«
»Nanu, da brat mir doch eener 'n Storch!«
Der Westfale triumphierte: das war recht, das war recht, daß der Berliner einen Korb kriegte!
»Und dann«, sagte Josefine und sah sich lächelnd nach Hucklenbruch um, »und dann hab ich et ja auch dem Herrn Gefreiten schon abgeschlagen.«
»So, – na denn!« Ein rascher Blick des Unteroffiziers streifte den flachsblonden Gefreiten. Dieser empfand es deutlich: das war Geringschätzung, mit der der unverschämte Berliner ihn maß. Er hätte sich auf ihn stürzen mögen, ihn mit den Bauernfäusten zerbläuen.
Aber Schmidt drehte sich schon mit einer gewandten Schwenkung zur Tür: »Na, denn nich, schöne Frau!«
Noch einen schnellen Blick tauschten die beiden Rivalen, dann klappte die Tür; man hörte Schmidts Pfeifen draußen auf dem Trottoir.
Der freche Kerl! Was sollte das heißen, dieses verächtliche: »Na, denn nich!«? Hucklenbruch grübelte; eigentlich hätte er dem Verhaßten nachgehen müssen und ihn zur Rede stellen – »na denn nich! na, denn nich!« – aber es hielt ihn hier im Lädchen wie mit Banden. Er war sehr glücklich darüber, daß sie den Schmidt hatte ablaufen lassen; sein Herz klopfte, nun war er auf einmal gar nicht mehr so unglücklich, daß sie morgen nicht mitkam. Sie ging eben überhaupt nicht zu einem Ball; denn wäre sie gegangen, wäre er, er der Bevorzugte gewesen! Das machte ihn stolz. Es war ein seliger Abend. Wäre nur nicht noch kurz vor Zapfenstreich der Herr Zahlmeister erschienen! Der brachte ein Paar Handschuhe, die er schnellstens gewaschen wünschte.
Achtung, der kam doch nicht bloß wegen der Handschuhe! Der Dicke mußte viel getrunken haben, denn er kollerte wie ein Truthahn vor der Henne.
Auch er fragte, ob Frau Conradi nicht dem Fest morgen in der Kaserne beiwohnen wolle, »unter seiner speziellen Führung«, wie er galant versicherte. »In unsern Jahren liebt man zwar das Tanzen nicht mehr so sehr«, sagte er und beugte sich über den Ladentisch, »desto mehr aber die Gemütlichkeit. Leider Gottes hat man die ja im verwitweten Stande nicht immer« – er seufzte – »aber man sucht sie doch!«
Hucklenbruch wurde es bang. Die Witwe hörte sich das alles so still an und sah nachdenklich drein. Sie würde doch am Ende nicht mit dem Zahlmeister auf den Ball gehen? Ungestüm fuhr er von seinem Sitz auf. Da sah ihn der Zahlmeister recht von oben herab an: »Was machen Sie denn noch hier, Gefreiter? Es wird gleich blasen!«
Hucklenbruch stand stramm: »Jawohl, Herr Zahlmeister!« Aber Wut kochte in ihm.
Draußen erklang das verwünschte: »Zu Bett, zu Bett!« Da schlich er zur Tür und schluckte an den Tränen, die ihm brennend in die Kehle quollen.
Wenn die Witwe Conradi gewollt hätte, den Zahlmeister hätte sie kriegen können; nur einmal hätte sie die fleischige Hand mit dem breiten Daumen fester zu drücken brauchen. Aber sie drückte nicht. Die Spatzen pfiffen's von den Dächern der Kasernenstraße, in den Blocks wurde es bespöttelt: der dicke Zahlmeister stieg Rinkes Fina nach. Nicht bloß Hucklenbruch und Schmidt, manch andrer noch, der ins Lädchen kam, schnüffelte neugierig: wie weit mochte die Sache gediehen sein?
Der kleine Hucklenbruch, der wacker von Hause geschickt bekam – sein Vater hatte einen schönen Hof unweit Bielefeld – machte sich an den Invaliden. Dieser war nie abgeneigt, sich nebenan in der Wirtschaft traktieren zu lassen; wenn er erst zwei, drei Gläser getrunken hatte, wurde er sehr gesprächig. Einige Schwierigkeiten machte es freilich immer, ihn von der Erzählung seiner Kriegsgeschichten abzubringen, aber Hucklenbruch hatte nun schon Geschicklichkeit, beim vierten Glas die Unterhaltung auf die Witwe hinüberzuspielen. Dann schimpfte der Invalide. Die Fina paßte ihm gar zu sehr auf. Den Schlüssel kriegte er nie; nie, daß er mal abends heimlich ins Haus konnte. Ein dummes Frauenzimmer, daß sie den Zahlmeister nicht nehmen wollte! Was war über den zu lachen? Geld hatte der Mann – und dann die Stellung! Zahlmeister – Offiziersrang. Vielleicht ging's einem auf die alten Tage dann noch mal ebensogut, wie der Mutter, der reichen Frau Schnakenberg von der Königsallee.
Seit Ferdinand gelernt hatte, mit dem Bein des Stiefvaters zu gehen, sang er dessen Lob. Ein spendabler Mann! Ein für allemal, sonn- und feiertags, konnte er sich da mit zu Tisch setzen und lecker speisen. Und nach dem Essen verteilten sie drei sich auf drei bequeme Kanapees, und abends steckte ihm der Schnakenberg alle Taschen voll Zigarren.
Beim fünften Glase aber wurde der Invalid weich. Er beklagte dann seine Schwester. So ein hübsches, kreuzbraves Weib! War's nicht ein Jammer, daß die schon Witwe war und sich so plagen mußte? Abends als letzte zu Bett, morgens als erste auf.
»Bekucken Se sich mal der Fina ihre Fingeren, wie die verarbeit' sind«, sagte er dann wohl und sah so gerührt aus, daß auch der junge Mann weichmütig wurde. »Un alles für den Jung, den Peter, der nix tun möcht, als dem lieben Gott den Tag abstehlen un der Mutter auf der Tasch liegen!«
Insofern hatte das Humpelbein nicht ganz unrecht: Josefine hatte Sorgen um ihren Peter. Mit Händen und Füßen hatte der sich gesträubt, den Platz als Lehrling einzunehmen, den ihm Onkel Friedrich in der Fabrik auf der Grafenberger Chaussee, wo man die schönen schmiedeeisernen Gitter machte, besorgt hatte. Der Junge war krank darüber geworden: nur nicht in die Fabrik, die Fabrik! Er schlich umher und war blaß wie Wachs.
So waren sie denn zuletzt übereingekommen – ganz den Willen konnte und wollte man dem Jungen doch nicht tun – ihn zu einem Anstreicher in die Lehre zu geben. In das Anstreichen hatte sich der Peter denn auch leidlich geschickt. Vorderhand durfte er freilich nur erst ›Pliesterer‹ sein und Hauswände und Hofmauern weißen. Aber bald sollte er ja zur Ölfarbe avancieren. –
Der Sommer stand auf der Höhe, die riesige Fronleichnamsprozession war längst vorbei, die Neununddreißiger hatten ihr Erinnerungsfest an die Schlacht bei Hammelburg hinter sich, als sich bereits der junge Peter einen Kalabreser auf den Lockenkopf drückte wie ein echter Kunstbeflissener.
Von dem Taler, den ihm Onkel Friedrich einst gutgelaunt in die Hand gesteckt, hatte er sich sofort in der permanenten Ausstellung bei Schulte abonniert: sehen wenigstens Bilder! Aber er malte auch endlich selber eins: seine Mutter.
Mit einer seltsamen Bewegung saß Josefine dem Sohn in den Sonntagsstunden, in denen das Lädchen geschlossen war. Heimlich tat sie's, wie eine Sünde; sie schämte sich vor den Nachbarn, vor den Brüdern, vor der Mutter. Die würden alle sagen, sie sei närrisch mit ihrem Peter.
Draußen brütete die Hochsommersonne auf dem Pflaster, oben in der versteckten Bodenkammer war's auch nicht kühl. Eine hohe Röte lag auf Josefines Wangen und verlieh ihren Augen gesteigerten Glanz. Sie saß auf einer alten Kiste und lächelte voll geheimen Entzückens den Sohn an, der ernsthaft und eifrig den Pinsel über die Leinwand führte. Eine stolze Freude überkam sie: das sollte sie sein, sie? Wahrhaftigens Gott, der Jung konnte malen!
Aber ein geheimes Grauen überlief sie, und sie wollte es ihm ausreden, daß dies ein Muttergottesbild werden sollte. Wie konnte das ihre Züge tragen?! Sie hatte ja nicht Krone, noch Mantel, noch ein sternbesticktes Gewand; auch Lilien ließ er nicht neben ihr sprießen.
»Dat tut auch nit nötig«, sagte er. »Ich denk mir dich hier als die Maria, wie sie noch glücklich war. Aber kuck – hier dat Fältchen zwischen den Augenbrauen – siehste, dat deut' schon drauf hin, dat se Leid kriegt. Mutter, aber du brauchst doch nit schon jetzt bang zu werden!«
Unwillkürlich hatte sich ihr Gesicht verfinstert; sie sah ihn an mit einem unruhigen Blick. Er lachte hell auf, und da lachte auch sie wieder.
Ferdinand war mit dem Jüngsten am Nachmittag ausgegangen – mit Fritz konnte man den Invaliden ruhig ziehen lassen, der paßte schon auf, daß der Onkel nicht des Guten zuviel tat – niemand störte die Sitzung. Stunden vergingen, sie merkten es nicht; er nicht in seinem Eifer, sie nicht in ihrem Glück.
Sie sprachen nicht. Josefine hielt den Atem an und wagte nicht, sich zu rühren. Unverwandt hing ihr Blick an Peter: wie seine Augen leuchteten! Und auf der hellen Stirn, unter den dichten Haarringeln, perlte ihm der Schweiß vor. Und wenn er dann und wann zurücktrat, um mit prüfendem Blick sein Werk zu betrachten, strahlte sein ganzes Gesicht. Tausend Sonnenfünkchen spielten auf seinem weißen Malerkittel; über die verstaubten Dachsparren tanzten goldene Lichter. Auf den grauen Wänden, auf all dem alten Gerümpel eine Flut von warmem, lebensvollem Sommerglanz.
Als endlich die Dämmerung kam, schlichen sie leise herab von ihrer Bodenkammer. Noch waren sie allein. Sie gingen über das enge Höfchen in das kleine Gärtchen. Beide atmeten tief. Und sie schritten um den kleinen Rasenfleck in der Mitte des Gärtchens, immer rundherum und Hand in Hand, bis daß es ganz dunkel war und nur am verwitterten Plankenzaun der alte Rosenstrauch mit seinen mattduftenden, hängenden Blüten noch gespenstisch schimmerte.