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Viertes Kapitel

Zum fünften- und sechstenmal war der Storch über den Exerzierplatz geflogen und hatte vor des Feldwebels Fenstern geklappert.

Nun ließen fünf lebendige Kinder ihre Stimmen in der engen Feldwebelwohnung erschallen; diese war zwar um eine Kammer vergrößert, aber immerhin noch bedrängt genug. Die Großeltern Zillges hatten deshalb der Tochter den Vorschlag gemacht, ihnen ein Kind zu überlassen, es ihnen »zum Verwahren« zu übergeben. Die Wahl war auf Wilhelm gefallen. Die Kleinsten konnten die Mutter noch nicht entbehren, Josefine war schon als Hilfe zu gebrauchen, auch hätte der Vater die nicht hergegeben; bei Wilhelm hatte er weniger dawider, dem würden die guten Brühen der Großmutter zustatten kommen.

So hatten die alten Zillges auf einmal wieder ein Kind. Sein Bettchen stand neben dem Ehebett mit dem Kattunhimmel, und oft in der Nacht, wenn Frau Josefine Cordula den ruhigen Kinderatem hörte, glaubte sie, wieder ein junges Weib zu sein. All die Zärtlichkeit, die in dem alten Herzen nie erstorben war, brach wieder vor und strömte wie eine quellende Flut über das Haupt des Kindes. –

Nun ging der Bube schon ins achte Jahr, aber er besuchte noch immer keine öffentliche Schule. Für die Freischule war er zu schade, die rohen Jungen würden ihn verprügeln; so ließ ihn der Großvater privatim unterrichten, wie er selbst auch in seiner Jugend privatim gelernt hatte: lesen, schreiben und rechnen für fünfzehn Stüber monatlich. Der Lehrer, der nicht gern die gute Bürgerkundschaft verlieren wollte, lobte den Wilhelm, wenn er auch nicht immer zu loben war.

Sonst hatte sich der Wilhelm gut herausgemacht; freilich, zart war er geblieben. Der Maler Deger, ein ganz berühmter, malte ihn als kleinen Sankt Johannes mit Kreuzchen und Lämmchen auf ein Altarbild, und auch andere Maler sprachen im »Bunten Vogel« vor und baten um das hübsche Modell. Großmutter Zillges weinte verstohlene Tränen gerührter Freude. Sie hätte nicht mehr das Herz gehabt, ihrem kleinen Sankt Johannes etwas zu versagen; von nun an ließ sie ihm auch das schöne Haar lang wachsen und wickelte ihm abends die Locken ein.

Josefine war schon das vierte Jahr bei den Ursulinerinnen; die Großmutter hatte es durchgesetzt, daß sie dahin in die Schule kam. Das Geld war knapp im Feldwebelhaus – Rinke machte sich keinerlei Nebenverdienst bei den Herren Freiwilligen oder der Kammer und der Menage – so kam es, daß er seiner Frau, vielmehr deren Eltern, die Sorge für Josefines Schulgeld, zugleich hiermit aber auch die Wahl der Schule, überlassen hatte. Und die Wahl war nicht groß für die Mutter Zillges und Frau Trina, hatten sie beide doch bei den Ursulinerinnen die ersten schönen Gebetchen gelernt. Solange sie denken konnten, wurden da die Töchter guter Bürgersleute erzogen.

Rinke war sich über »Schule« nicht ganz klar; in nebelhaften Umrissen erhob sich ihm ein Bild von Stillesitzen, von pünktlichem Gehorsam und besonderer Reinlichkeit. So war's wenigstens im Militärwaisenhaus gewesen: kam da einer nicht blitzblank zum Unterricht, gleich hieß es: Hemd 'runter! Unter der Pumpe wurden ihm die Ohren mit einem Strohwisch gescheuert, und wären's zwanzig Grad Kälte gewesen. Er machte ein erfreutes Gesicht, als ihm Josefine den ersten Zeugniszettel nach Hause brachte:

Fleiß und Aufmerksamkeit: sehr lobenswert.

Betragen: sehr gut.

Flüchtig klopfte er seinem Kinde die Wange: »Hm, gut abgeschnitten, mach mir weiter Ehre!«

Josefine ging gern zu den Ursulinerinnen; still saß sie da, ihre munteren, großen Augen hingen andächtig an den sanften Nonnenlippen. Das war etwas anderes als die rauhen Töne, die über den Kasernenhof schallten. Auch geprügelt wurde hier nicht. Sie hörte die Legenden der lieben Heiligen, die waren schöner als alle Märchen; sie lernte die Lieder zum Preis der holdseligen Jungfrau Maria. Die Augen strahlend erhoben, die Hände fromm gefaltet, sang sie mit heller Stimme die Hymnen; ihre Seele war ganz dabei. Freilich, war die Schule aus, und kam sie von den Nönnchen heim in die Kaserne, atmete den eigentümlichen Schimmel- und Knasterduft, der diesen Wänden untilgbar anhaftete, sah die Bajonette auf dem Exerzierplatz blinken und hörte den Gesang der Mannschaft beim Stiefelwichsen und Knöpfeputzen, dann brach etwas in ihr los, was bei den Ursulinerinnen geschlafen.

Frau Trina schalt viel über Finas tolle Ausgelassenheit; in ihrer hartumdrängten Mutterschaft vergaß sie jetzt manchmal, daß auch sie einst vor lauter Lust am Leben gar nicht gewußt: wohin. Hier eine kleine Hand, dort eine kleine Hand! Hier ein Klagen, dort ein Kreischen! Es konnte einem wahrhastig die »pläsierliche« Laune abhanden kommen.

»Nicht tot zu kriegen«, sagte aber der Vater, wenn er seine Josefine ansah, und ein Freudenschein flog über sein hartes Gesicht.

Rinke hatte gealtert; trotz seiner Vierzig mischten sich ihm schon graue Fäden ins dunkle Kopfhaar und den rötlichen Schnauzbart. Von den Augenwinkeln nach den Schläfen zogen sich viele feine Fältchen, und um die Mundwinkel hatte sich ein verbissener Zug festgesetzt. Jahraus jahrein Kommiß macht müde; und das Sitzen im Büro, vorm Nationale und dem Löhnungsbuch, auch. Die Parole den Herren Offizieren zustellen, den Kompanierapport anfertigen, genau Erkrankungen und Beurlaubungen berichten, das Strafverzeichnis, das Schießbuch, die Rangierrolle, die Abrechnungen führen und Gott weiß was sonst noch, auch. Und täglich drei Stunden neben dem Herrn Hauptmann über den Kasernenhof pendeln, immer hin-her, her-hin, mit geschlossenen Augen wissen, wo der rechtsum wendet, wo linksum, auch.

Heraus aus dem einförmigen Trott!

Ach, in den Zeitungen stand wohl zu lesen: der gallische Hahn krähe wieder frech, Anno dreizehn sei ihm nicht genug geschehen, es sei an der Zeit, ihm vollends den Garaus zu machen. Zu den Waffen!

Krieg, Krieg, wann kam der?!

Der Feldwebel wartete schon lange.

Heute hatte ihm seine Josefine ein Gedicht vorgelesen, auf einem Zeitungsausschnitt stand es, der schon die Runde durch viele Hände gemacht:

»Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gierige Raben
Sich heiser danach schrein.«

Das Kind las laut und langsam, jede Silbe deutlich artikulierend; erwartungsvoll sah es beim Schluß zum Vater hin. Der saß am Fenster, den Kopf in die Hand gestützt und schaute unter zusammengezogenen Brauen in das Abendrot, das überm Exerzierplatz verglomm.

»Nochmal! Josefine, lies noch mal«, sagte er jetzt seltsam gepreßt.

Und sie las noch einmal:

»Sie sol-len ihn nicht ha-ben
Den frei-en deut-schen Rhein.«

Auch Frau Trina war nähergekommen und spitzte die Ohren: was lasen sie da vom Rhein?

»Bis sei-ne Flut begra-ben,
Des letz-ten Manns Ge-bein!«

»Nein, das sollen sie auch nicht!« So heftig stieß der Feldwebel seine Pfeife aufs Fenster, daß sie zerbrach. »Heiliges Kanonenrohr! Haben sie am Ende doch recht, die da sagen: man rüstet in Preußen? I, das wäre! Na, gebt den Rothosen man eins drauf, daß sie alle werden für jetzt und ewige Zeiten! Haha« – er lachte laut vor innerem Entzücken – »Preußen immer vorneweg! Nu geht's los!« Aber gleich darauf verfinsterte sich sein Gesicht wieder. »Ich glaub's nicht, wir haben noch keine Order. Zeit wär's, Kerle werden täglich fauler, 'ne Affenschande, muß ich hier sitzen auf dem verlorenen Posten, statt da mittenmank!« Unwirsch fuhr er sich durch die kurzgeschnittenen Haare. »Verfluchtes Lausenest!«

»Düsseldorf is 'ne prachtvoll schöne Stadt«, sagte Frau Trina beleidigt.

Er hörte sie gar nicht. Den Blick starr auf den öden Exerzierplatz gerichtet, murmelte er: »Wenn's man losginge, wenn's man losginge!« Eine starke Röte war ihm ins Gesicht gestiegen; er schüttelte sich wie in einem Schauer und preßte die Zähne aufeinander: »Wenn's man!«

»Gehste jetzt im Krieg, Vater?« fragte das Kind.

Er kaute am Schnauzbart. »Vielleicht«, sagte er, sich beherrschend; aber man hörte doch die Freude heraus.

Josefine rief denn auch sofort: »Da haste aber en Freud, gelt, Vater?«

»Ja«, sprach er, alles vergessend. Und in einer tiefinneren Erregung sich aufrichtend, reckte er sich zu seiner ganzen Länge; die Arme streckte er über den Kopf, daß sie gegen die niedere Decke stießen. »Man ist ganz steif geworden – hah!« Wie ein Erlösungsseufzer klang sein tiefes Atemholen.

Frau Trina hatte die Augen weit aufgerissen, nun fing sie plötzlich an, bitterlich zu weinen. »Ach, nu – nu geht er wahrhaftig im Krieg! Ach, Jesusmarijosef, ne, hätt' ich dat gewußt!« Sie sah sich suchend nach ihren drei Jüngsten um, die beim Weinen der Mutter erschrocken zu brüllen anfingen. »Kinder, der Vater geht im Krieg! Ach, hätt' ich dat gewußt!« Fassungslos sank sie auf den nächsten Schemel, das Gesicht mit der Schürze bedeckend.

Fassungslos sah auch der Feldwebel drein – hätt' ich das gewußt! Ja, dann hätte sie ihn wohl nicht geheiratet. Und er?! – es zuckte für einen Augenblick um seinen Mund – nun, und er sie vielleicht auch nicht.

Finster, die Stirn zusammengezogen, betrachtete er die Weinende. Da saß sie nun und heulte, daß ihr ganzer übervoller Busen schütterte. War das noch dieselbe, die ihm einst im »Bunten Vogel« entgegengeschwänzelt war, so frisch und frank und frei, die Augen blank, der Mund lachend, so ein echtes, rheinisches Mädel? Ein rasches Wohlgefallen hatte ihn damals erfaßt, wie lauter Lust hatte es ihn angeblasen – hei, die würde immer fröhlich sein, würde eine kernige Mutter werden für stramme Soldatenkinder! Ihr Geld hatte ihn nicht gereizt, was sollte er damit? Aber es lohnte sich wohl, um sie einen Strauß auszufechten mit den protzigen Alten. Die Hindernisse reizten erst recht. Zur Attacke! Vorwärts, marsch, im Sturmschritt! Diese rheinischen Dickköpfe sollten doch sehen, mit dem Verachten des Preußen war's Essig, der war ihnen noch lange über, der wurde doch ihr Schwiegersohn – nun gerade! Und 's Mädel war verliebt bis über die Ohren, zeigte es ihm in jedem Blick – also warum denn nicht? Wenn einer nicht Vater, nicht Mutter mehr hat, nichts Zärtliches auf der Welt, da tut eine weiche Patsche ganz gut, die streichelt. Also: Los auf die Festung, sie ergibt sich! –

Und jetzt?

Schwer ruhte des Feldwebels Blick auf seiner Frau. Er seufzte. Arme Käthe, die hatte sich auch betrogen! Der Soldat muß allein sein, oder er muß ein Weib haben, das da spricht: Mit Gott für König und Vaterland!

»Josefine!« Unwillkürlich suchte sein Blick die Tochter. Sie sah ihn aufmerksam an. »Josefine, was tut der Soldat, wenn sein König ruft?«

»Gehorcht.«

»Ja, du kennst den Rummel«, sagte er weich.

Frau Trina war mit den heulenden Kleinen nach der Küche gegangen, Vater und Tochter saßen in der Stube allein. Josefine hockte auf einem Fußschemel und stemmte beide nackte Ellbogen auf des Vaters Knie. Das schöne Abendrot überm Exerzierplatz warf einen warmen Schimmer auf die Geranienstöcke im Fenster und von da einen noch durchglühteren auf das blonde Haar des Kindes.

Der Feldwebel hatte sich auf der Brust, da wo sonst immer das lederne Dienstbuch mit den Notizen zu stecken pflegte, die Knöpfe aufgerissen; der Rock war ihm auf einmal so eng. Krieg, Krieg!!

Er rieb sich die Hände; ein Frohlocken war in seinem Ton: »Nanu, die Franzosen wollen wieder krächzen?! Ich sage dir, das läßt sich unser neuer Herr und König nicht gefallen. Der hat was los. Sagt' er nicht letzthin zu Berlin: ›Gott erhalte unser preußisches Vaterland, sich selbst, Deutschland und der Welt zur Ehre!‹ Unser Preußen – ihm zur Ehre, ja! Dresche müssen kriegen, die ihm zuwider sind – alle Halunken! Aber warte man, warte!«

In freudiger Aufwallung legte er seine Hand auf Josefines Kopf: »Du sollst mal sehen, du wirst's erleben, wie ich's erlebt habe, Anno dreizehn. Da war ich nur wenige Jahre älter als du jetzt. Da liefen sie alle hin unter die Fahnen; die Männer wurden wieder zu Jünglingen und die Jünglinge zu Männern. Und die Weiber haben ihren Männern nicht das Herz schwer gemacht«, – unwillkürlich suchte sein Blick die Tür, hinter der Frau Trina verschwunden war – »und die Bräute haben sich ihren Liebsten nicht an den Rockzipfel gehängt. Ich weiß es noch wie heute, als Vater ausrückte. Wir standen vor der Tür, Mutter und ich, er saß schon auf dem Gaule.

›Adjö, Karline, auf Wiedersehen‹, sagte er. Sie sagte nur: ›Mit Gott.‹ Und dann gaben sie sich die Hände. Keine Träne hat Mutter geweint. Aber ihm kullerten ein paar dicke Tropfen über die Backen; 's war ihm wohl bange um sie, sie war verdammt schmächtig.

Als ich bei meinem Alten die Tränen sah, fing ich an loszuheulen, aber es war mehr darum, daß ich noch ein Knirps war, daß ich noch nicht mitkonnte in den großen Krieg. Vater bückte sich vom Gaul, lupfte mich ein wenig hoch und gab mir 'nen freundschaftlichen Klaps aus den Hintern: ›Hier wird nicht geflennt! Sei Muttern 'ne Stütze – mach mir Ehre!‹

Da verbiß ich mir das Heulen, und als der Gaul davongaloppierte, galoppierte ich hintennach bis auf den Marktplatz, wo sie sich sammelten, und schrie, bis mir der Atem ausging: ›Hurra, hurra, hurra!‹ Und das schrei ich noch heut!«

Der Feldwebel war aufgesprungen und breitete die Arme weit: »Hurra, hurra, hurra!«

Josefine hatte ihm ohne Laut zugehört, die Augen fest auf ihn gerichtet; jetzt umklammerte sie seinen Arm: »Vater, weiter, erzähl weiter!« Und als er nicht gleich fortfuhr, stampfte sie ungeduldig mit dem Fuß: »Weiter, erzähl doch!«

»Ja, das ist was für dich«, schmunzelte er, »das glaub' ich! – Und die Frauenzimmer brachten ihre goldenen Nadeln und Kämme und Ohrgehänge, was sie an Goldkram hatten, und das wurde eingeschmolzen und gab Geld fürs Vaterland. Sie trugen nun anstatt ihres Schmucks eiserne Anhänger und waren stolz darauf. Da waren Weiber, die gaben ihre Eheringe her, und welche, die gar nichts hatten, ließen ihr schönes Haar abschneiden und verkauften das, und –«

»Ich will auch mein Haar abschneiden lassen!« Josefine schrie plötzlich auf und faßte mit beiden Händen nach ihrem kurzen Schopf. Eine heiße Röte lag auf ihrem Gesicht, ihr Atem ging rasch, die Kinderbrust flog unter dem Schürzchen. »Schneid mir mein Haar ab, lieber Vater – da haste es – schneid et doch ab!«

Er lachte. »Das ist ja viel zu kurz. Na, na, laß man«, und er strich ihr liebkosend über die blonde Mähne.

Da ließ sie die Arme herunterhängen und den Kopf auch und kauerte sich ganz auf ihrem Schemel zusammen. Unter Schluchzen stieß sie heraus: »Ich will aber – was soll ich denn geben? Ich – ich hab' ja nix – gar nix!«

»Warte man«, tröstete der Feldwebel und legte ihr seine Hand auf die heiße Stirn. Aber er lachte nicht mehr, seine Stimme klang ernst: »Warte, Josefine, warte, deine Zeit, die kommt auch noch!« –

Das verklärende Abendrot überm Exerzierplatz war erloschen, plötzlich aller Glanz hin. Ein nüchterner, bleichherbstlicher Nachthimmel spannte seinen Bogen, und ein Windstoß fegte abständige Kastanienblätter der Königsallee wirbelnd in den Kanal. Matte Sterne zogen auf und standen, ohne zu leuchten, über der Kaserne.


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