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Sechzehntes Kapitel

Im Düsseldorfer Kreisblatt spukte die Freiheit:

»Sie sind längst dahingegangen, die vom deutschen Frühling sangen,
Und der Lenz der deutschen Freiheit, endlich hat er angefangen.
Seht, es knospet eine Rose aus der blutgetränkten Erde!
Eine Rose, nicht ein Veilchen, zeiget, daß es Frühling werde.«

In schwarzer Umrahmung stand fettgedruckt:

 

»Berlins großen Toten!

Selig, die in Gott sterben! –

Opfernd euer rotes Blut, gingt ihr in den schwarzen Tod für die goldene Freiheit!«

 

Dem Theaterdirektor am Markt wurde öffentlich von vielen deutschen Brüdern gedankt, daß er Schillers Wilhelm Tell zur Aufführung gebracht hatte.

Die Bürgerwehr bezog fleißig ihre Standquartiere in den besten Wirtschaften der Stadt.

Auch der »Bunte Vogel« war von einer Kompanie zum Sammelplatz ausersehen; ihr Hauptmann war ein Maler.

Die Bürgerwehr hielt sich tüchtig dran, das mußte man ihr nachrühmen. Der Chef des Sankt Sebastian-Schützenvereins war zum obersten Befehlshaber gewählt, und er ließ marschieren und exerzieren, drüben auf der anderen Rheinseite in der Scheibenbahn schießen, hielt Paraden ab und veranstaltete Sammlungen, um ärmere Mitglieder ordentlich auszurüsten. Die Stadt war in guter Hut.

Daß die Bürgergarde nicht anwesend war, als eine Rotte Pöbel vorm Hotel zum »Prinz von Preußen« johlte und die Fenster einwarf, war eben nur ein unglücklicher Zufall. Die resolute Hotelbesitzerin hatte sich aber auch ohne Bürgerwehr zu helfen gewußt: sie hieß den Hausknecht eine Leiter anlegen, und unter Beifallsjubel wurde das Schild, das den Namen des verhaßten »Kartätschenprinzen« zeigte, heruntergeholt.

Alles trug die schwarz-rot-goldene Kokarde. Schwarz-rot-goldenes Band war rar geworden; die Damen trugen es auf den Hüten, als Schleifen am Busen, die jungen Mädchen knüpften es um die Taille. Selbst die Kinder trugen etwas Schwarz-rot-goldenes.

Der Feldwebel fühlte jedesmal ein Jucken in der Hand, wenn er solchen Rangen auf dem Schulweg begegnete. Seine eignen Buben hatten sich auch Kokarden gekleistert aus buntem Glanzpapier, aber als er die an ihren Mützen entdeckte, hatte er die Bengels verwichst, daß sie drei Tage nicht sitzen konnten. –

Der Frühling war mit Macht gekommen, schöner denn je blühten die Kastanien drüben in der Allee. Sonst hatte sich Rinke gefreut, wenn die erste Lerche am grünen Kanalrand aufstieg und hoch überm Exerzierplatz schmetterte – heuer nicht. Und er hätte doch froh sein können, seine Josefine war Conradis verlobte Braut; im Sommer sollte die Hochzeit sein. Seiner Tochter glanzlose Augen kümmerten ihn wenig. Ach was, die würde sich schon schicken! Das machte ihm keine Sorge. Aber etwas andres lastete auf ihm, quälte ihn: es war der stete Arger über das, was er in den Zeitungen las. Und doch konnte er es nicht lassen, sie durchzustöbern. Er hielt sich sogar, neben dem Düsseldorfer Blättchen, auch noch das Kreisblatt, obgleich ihm die Gedichte, die ein gewisser Ferdinand Freiligrath darin veröffentlichte, anstößig waren. Außerdem bat er, beim Leutnant von Clermont ab und zu einen Blick in die Kreuzzeitung werfen zu dürfen.

Viktor von Clermont hatte jetzt keine Langeweile mehr. Er lag nicht mehr auf dem Sofa und ließ die Beine über die Lehne hängen, er lauerte auch nicht mehr im Gang aus die Schritte Josefines, beobachtete nicht mehr ihr Fenster – weit, weit, wie ein Frühlingstraum in rauhen Tagen, lag jene goldene Zeit. All sein Denken gehörte der Politik.

Mit seinem Schwager hatte er ein paarmal schon heftige Auseinandersetzungen gehabt. Herr vom Werth war ein blinder Bewunderer des Königs. Er nannte dessen Nachgiebigkeit Seelengröße, die der nicht nur erst jetzt, sondern auch schon früher gegen Andersgläubige bewiesen habe. Viktor ärgerte sich: aha, der Rheinländer! Und ein Rheinländer, immer ein verkappter Katholik!

Viktor betrat kaum mehr das Haus seiner Schwester. Abgesehen von dem Schwager, langweilte er sich auch mit ihr: Weiber haben absolut kein Verständnis für Politik. Selbst Josefine hatte keine Ahnung gehabt. Und doch, wenn er in freien Momenten an die dachte, verlangte ihn nach ihr.

Das arme Ding! Wie mochte sie geweint haben, als sie ihm, wohl auf Befehl des Vaters, geschrieben hatte: »Aus muß es sein!« Sie hatte so unbeholfen geschrieben und doch so rührend; Tränen waren aufs Papier geflossen, man sah die Spuren. Auch seine wenigen Geschenke hatte sie zurückgeschickt: ein Armband von Rosenholzperlen, ein Muschelkästchen, ein kleines Bild von »Paul et Virginie«. Nur das rote Büchelchen mit den goldenen Passionsblumen bat sie, behalten zu dürfen: sie würde darin lesen und seiner gedenken.

Fatal, daß der Alte dahintergekommen war, höchst fatal! Selbstverständlich mußte nun alles aus sein. Aber daß der, als Vater, sich nicht persönlich in die Sache gemischt hatte, war einfach riesig schneidig; der Kerl, der Feldwebel, hatte wahrhaftig Takt, wußte, was ihm, einem Vorgesetzten gegenüber, zukam. Mit keinem Blick ließ er ahnen, daß er um die Sache wußte, in respektvollster Haltung wie immer stand er da.

Viktor begann eine Art dankbarer Zuneigung für den Untergebenen zu empfinden, der ihm eine Beschämung ersparte. Früher hatte er sich mit dem Vater der Geliebten nie in eine Unterhaltung eingelassen, jetzt sah man ihn öfter mit dem Feldwebel über den Kasernenhof pendeln. Da war so vieles, was sie ähnlich empfanden. ›Noch einer vom alten Schrot und Korn‹, dachte der Leutnant, und in des Feldwebels trübes Auge kam ein Hoffnungsstrahl: ›in dem würde Preußen auferstehn!‹ –

Keine Melodie wehte mehr aus dem offenen Küchenfenster in die neu grünenden Ahornbäume. Der Frühling war geboren, aber das Lied war tot.

Drinnen in der Stube saß Josefine auf dem Fenstertritt hinter den Geraniumstöcken und nähte an ihrer Aussteuer. Selten, daß sie den Blick erhob und die Augen hinausschweifen ließ über den Platz, auf dem die Mannschaften für die Frühjahrsbesichtigung übten. Wohl hatte das Exerzieren seinen Reiz für sie noch nicht ganz verloren, aber sie fürchtete, ihn vor der Front stehen zu sehen; mit Scheu wendete sie rasch den Blick ab. Blaß wurde sie, denn ihr Fleiß bannte sie immer in die Stube; die Mutter hatte ihr gern eine Hilfe nehmen wollen, aber Josefine wollte keine Hilfe. Alles allein sticheln, das bringt Glück.

Ach, Glück –?! Sie hoffte doch darauf. Der Conradi war ja so gut, das sagte sie sich alle Tage. Wenn sie nur erst fort wäre, weit fort!

Sie, die noch nie für einen ganzen Tag die Kaserne verlassen hatte, begann zu träumen von einer neuen Heimat – unbestimmte Träume, von denen sie nicht wußte, ob sie angenehm waren oder traurig.

Fernab vom Leben des Tages lebte sie so in ihren Träumen; sie hörte nicht die Glocken hallen, die die Totenfeier für die im März zu Berlin Gefallenen einläuteten. Bis in die Kaserne hatten sich die Klänge des Trauermarsches verirrt, den die Musik dem Bürgerzug aufspielte, der nach der Kirche wallte, um die für die Freiheit gefallenen Helden nachträglich noch einmal zu ehren. Josefine hatte keinen Ton vernommen – was ging sie das alles an? Sie kümmerte nur das eigene Geschick.

Alle paar Wochen kam jetzt Conradi zu Besuch, oft einen ganzen Sonntag; er hatte nun wieder freiere Zeit. Aber er war kein lästiger Bräutigam; ein Mensch von vielen Worten war er sowieso nicht. In seiner Heimat, dem fernen Ostpreußen, waren die Leute an Kargheit gewöhnt – kümmerliche Frühjahre und lange, schneevergrabene Winter – er war zufrieden, wenn Josefine ihn freundlich ansah und ihm beim jedesmaligen Abschied einen Kuß schenkte.

»Dumm is er«, behauptete die Mutter, aber die Tochter schüttelte den Kopf: nein, dumm war er nicht, hatte einen ganz guten Verstand. Freilich, so wie der Viktor – ach, wie der Viktor! – so war er nicht.

Der Sommer war gekommen. Die Hochzeit rückte immer näher. Am letzten heißen Julisonntag hielt der Garnisonprediger das erste Aufgebot.

Der Leutnant von Clermont hörte es, er war gerade zur Kirche kommandiert. Von der Predigt hatte er nicht viel vernommen, seine Gedanken waren abgeschweift; nun aber, da der bekannte Name fiel – Josefine – zuckte er zusammen. So bald schon heiratete sie?!

Und sie stieg vor ihm auf in ihrer ganzen blonden Frische. Er hörte wieder ihre volle Stimme, ihr heiteres Lachen. Am Fenster stand sie und sang und schaute nach ihm aus, Liebe im Blick. Ja, sie hatte ihm den Rhein lieb gemacht, vertraut die rheinische Stadt – warm quoll es wieder in ihm auf – er würde sie doch nie vergessen. Unlöslich verknüpft blieb sie ihm mit Kindheitsfreuden, mit Jugendlust; sie war eins mit dem Rhein, mit dem Rhein. – – –

 

Großmutter Zillges hatte es sich ausgebeten, im »Bunten Vogel« sollte die Hochzeit sein. Der Feldwebel hatte zwar erst protestiert, aber war es nicht kleinlich, wegen so etwas zu streiten, während draußen so viel auf dem Spiele stand?!

In Schleswig-Holstein wurden die Dänen besiegt; mit Neid und Hohn zugleich waren Rinkes Blicke zur Zeit der kleinen Freischar Düsseldorfer gefolgt, die, ihren Karnevalspräsidenten an der Spitze, mit glühendem Enthusiasmus den »deutschen Brüdern« zu Hilfe eilte. Ach, viel schlimmer als die Dänen waren andre Feinde, aber gegen die zog niemand aus!

Wo war der Prinz von Preußen? Weit in England – »geflohen«, sagten welche. Verleumdung elende! Nein, der wartete nur, bis seine Zeit kam. Aber wann kam die, wann?!

Eine fieberhafte Sehnsucht glühte dem Soldaten im Blut; noch war er nicht alt, und doch fühlte er sich schon müde. Sollte er denn ins Grab steigen, ohne jemals gekämpft zu haben? Liegen und verwesen, ohne einmal gesiegt zu haben? Wenn's dem König, der jetzt in Düsseldorf erwartet wurde auf seiner Reise zum Kölner Dombaufest, doch nur einer sagen wollte, daß mit der Langmut nichts ausgerichtet ist!

Die Stadt rüstete zum Empfang des königlichen Besuches. Aber längst nicht alle Bürgergardisten wollten sich einreihen lassen in das Spalier, das gebildet werden sollte. Mochten sich da servile Fürstenknechte drängen, sie waren freie Bürger! Und doch war die Neugier groß.

Aus den Dörfern und Fabrikorten der Umgegend, von diesseits und jenseits des Rheins, zogen Scharen am frühen Morgen des vierzehnten August in die Stadt. Die Schulen waren geschlossen, die Kontore und Kanzleien auch. Alles feierte.

Auch Frau Cordula im »Bunten Vogel« stellte heute für ein paar Stunden die Arbeit ein; sie war tüchtig am Schaffen für die morgende Hochzeit der Enkelin. Der Feldwebel hatte kurzerhand den fünfzehnten August dafür festgesetzt; viel Wahl war für den Zeitpunkt auch weiter nicht, Conradi hatte wieder strammen Dienst, konnte knapp für diesen einen Tag abkommen. Und Josefine hatte keine Einwendungen gegen die Bestimmung des Vaters gemacht, auch sie dachte: ›wozu noch zaudern? Ob heute, ob morgen, nur bald!‹

Es war der Großmutter gar nicht recht, daß die Hochzeit nur so kurz sein würde – daran war niemand wie der Rinke, der knappe Preuße, schuld! Eine richtige rheinische Hochzeit dauert doch mindestens ein paar Tage.

Wenn nur der Großvater frischer gewesen wäre! Der hatte eigentlich für nichts mehr auf der Welt Sinn. Stunden und Stunden verschlief er. Ungern ließ ihn sonst Frau Cordula nur für ein Stündchen allein, aber heute, wo alles schon seit dem frühen Vormittag nach dem Bahnhof und der Königsallee rannte, mußte sie doch auch gucken gehen. Sie hatte noch nie einen leibhaftigen preußischen König gesehen.

»Mutter, wohin gehste?« fragte Peter Zillges, der im Lehnstuhl im Kontörchen döste.

Als sie es ihm sagte, rief er ärgerlich, so laut er nur noch konnte: »Wat will de Mann hie? Wir sind Düsseldorfer Bürger!« Aber dann vermischte sich in seinen Gedanken plötzlich dieser königliche Besuch mit dem des großen Napoleon, und er fragte interessierter: »Dazumal bauten se Ehrenporten, han se jetzt auch en Port gebaut?«

»Ich geh mal 'schwind gucke«, sagte Frau Josefine Cordula und lief eilig fort.

Sie sah nicht mehr, wie ihr alter Mann mit ungeahnter Kraft im Lehnstuhl auffuhr und zornig die zitternde Faust ballte: »De soll uns gewähre lasse!« Unruhig rollten seine Augen umher, als suche er wo einen Schlupfwinkel: »Ich – ich geh 'm ja auch aus dem Weg!«

Am festlich geschmückten Bahnhof standen die Deputationen des Gemeinderates, der Militär- und Zivilbehörden. Soldaten waren aufgepflanzt; auch Feldwebel Rinke stand dort in Paradeuniform. Ehern erschien sein Gesicht wie immer, aber mit glühendem Blick suchte er seinen König.

Als die Hofequipage vorüberfuhr, zuckte er zusammen, stier wurde sein Blick – das, das war der König? In seinen Mantel gehüllt, lehnte der hohe Gast in einer Ecke des Wagens.

Dem Feldwebel wollte das Herz brechen. Wo war der Glanz des jugendlich schlanken Kronprinzen, dessen Augen von Geist und Leben gestrahlt hatten? Er konnte die Züge, denen er einst in der eignen Jugendzeit zugejubelt hatte, nicht wiederfinden, Er wollte »Hurra« schreien und brachte es nicht heraus.

Das Hurra um ihn her war auch matt – oder deuchte es ihn nur so? Viel Volks schwieg. Und die Sonne trübte ihren Schein, ein Wind machte sich auf und jagte den Staub in die Augen.

Als Rinke die Lider wieder frei öffnen konnte, waren die schnellen Räder längst verrollt. Aber eine unruhige Bewegung unter der Menge erschreckte ihn. Da war ein scheues Raunen, ein Flüstern – hier – dort – überall! Man wollte Pfeifen gehört haben, man wollte wissen, daß plötzlich, von ruchloser Hand geschleudert, Pferdekot in den Wagen geflogen war und den Mantel des Königs gestreift hatte.

Verblüffte, betroffene Gesichter sahen sich an. –

Als Frau Josefine Cordula nach fünf Uhr durch die Ratingerstraße wieder zurückkam, war sie ganz außer Atem; sie hatte sich sehr geeilt und war doch fast an zwei Stunden fortgeblieben. Nun fiel es ihr plötzlich ein, daß ihr Peter ja ganz allein zu Haus war. Denn die Kochfrau hatte ihre Vorbereitungen für die Hochzeit unterbrochen und war mit ihr zugleich weggegangen, und der Wilhelm war schon am Vormittag fortgelaufen. No, sie gönnte es dem Jungen ja! Der hatte jetzt so viele Freunde; und Jugend ist noch kein Alter, und jung Bier muß ausgären.

Ja, ihr Peter, der war anders wie sie jetzt sind, der war noch einer aus der guten alten Zeit! Ob er schon ungeduldig auf sie wartete? Er schlief hoffentlich. Verlohnt hatte sich's nicht, daß sie gucken gelaufen war – so sah ein König aus?! No ja, die Preußen – kein bißchen vergnügt!

Je näher sie ihrem Hause kam, desto eiliger trippelte sie; nun hörte sie einen Salutschuß, der galt dem Preußenkönig. Ob der Zillges den auch hörte? Dann würde er sich ärgern.

»Zillges«, rief sie, als sie in den Flur trat. »Peter, Peterken, ich bin als wieder da!«

»Zillges!«

Keine Antwort.

Plötzlich von einem Gefühl der Beklemmung befallen, sah sich die alte Frau um: war jemand hier gewesen – ein Gast? – – Nein, kein Mensch!

Es war sehr still.

Die Eichenblätter und Dahlien, die sie in einem Korb in die Ecke gestellt hatte, um nachher eine Girlande für das morgende Fest zu winden, dufteten stark und herb, wie faulendes Laub im Herbst.

Ein Frösteln lief der alten Frau über den Rücken, in der Kühle der leeren Wirtsstube.

Schlief er so fest? Den Atem anhaltend, drückte sie leise auf die Türklinke zum kleinen Kontörchen: »Zillges! Peter –!«

Er hörte nicht.

Der alte Mann saß in seinem Lehnstuhl, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Hände gefaltet.

 

Während der Königliche Gast in die Stadt einzog, war ein anderer Gast in den »Bunten Vogel« getreten. Auch ein König – der Tod. Peter Zillges hatte ihn empfangen als Freund.

Es gab kein lautes Wehklagen. Als Josefine, atemlos, als erste, in den »Bunten Vogel« gerannt kam – Wilhelm hatte weinend die Trauerkunde in die Kaserne getragen – fand sie die Großmutter oben in der Schlafkammer neben dem Ehebett sitzen, darauf der tote Großvater lag. Ganz friedlich ruhte dessen Gesicht im Flackerschein geweihter Kerzen; die sauberen weißen Haare umgaben in einem noch vollen Kranz die Stirn, die ganz glatt war, alle Falten und Schrumpeln wie weggewischt. Die Großmutter hatte ihm ein Kruzifix auf die Brust gelegt und um die gefalteten Hände den Rosenkranz geschlungen. Wie eine Wolke schwebte Weihrauchduft im engen Stübchen.

Die alte Frau wand aus den Eichenblättern und Dahlien eine Girlande, ihre Lippen murmelten Gebete. Als die Enkelin eintrat, sah sie auf und nickte wehmütig: »Die sollt für dich sein, Finchen! Nu muß Zillges die kriegen.« Und sie flocht emsig weiter.

Josefine kauerte sich zu ihren Füßen nieder; ein Schauer nach dem andern überlief sie, sie hatte noch nie einen Toten gesehen. Eine Scheu packte sie vor dem stillen, kalten Großvater, und ihr Herz klopfte heftig. Sie begriff nicht, daß die Großmutter so gelassen war.

»Nu kann er nit mehr bei deiner Hochzeit sein«, flüsterte Frau Josefine Cordula.

Sie wandte sich ganz ihrem Toten zu, sanft faßte sie dessen Hand: »Weißte noch, wie wir Hochzeit machten? Da flocht ich den Abend vorher auch en Girland, aber nur eine aus Palm, die Blümches un den Myrtenstock hatte die fremde Einquartierung ganz ausgeruppt. Un am Hochzeitsabend fingen die Franzosen an, auf die Stadt zu schießen, von den Kirchen wurd Sturm geläut, dat Kloster brannte un die Türm vom Schloß auch. Mit Kanonen schossen sie von der anner Seit, aber wir krochen im Keller un du hieltst mir de Ohren zu. Un wir sind so glücklich geworden, gelt, Peter? Peterken!«

Josefines Herz krampfte sich zusammen – ach, die Großmutter, ja, die Großmutter, die hatte ihren Hochzeiter geliebt! Brennende, unendliche Tränen stürzten ihr aus den Augen; beide Hände vors Gesicht schlagend, schluchzte sie krampfhaft.

»Wein nit so, Kind«, flüsterte die Großmutter. »Finchen, mußt nit so weinen – er schläft ja nur!« Und sich über den Gatten beugend, strich sie ihm zärtlich links über die Wange und rechts über die Wange.

Und dann machte sie das Zeichen des Kreuzes über ihn und sich: »Jesus! Maria! Josef! Euch schenk ich seine Seele! Bis wir uns wiedersehn in der ewigen Glorie, Peterken, schlaf gut!« –

 

Josefines Hochzeit fand statt am festgesetzten Termin, trotz des Großvaters Tod. »Es ist jetzt ohnehin nicht an der Zeit, Freudenfeste zu feiern«, hatte der Feldwebel finster gesagt.

Auch die Großmutter wollte keinen Aufschub, sie schickte die Hochzeitskuchen in die Kaserne. Nur eine stille Trauung fand statt, dann blieb die engste Familie noch unter sich ein paar Stunden zusammen. Gegen Abend aber kam doch noch die Großmutter; seit langer, langer Zeit betrat sie zum erstenmal wieder die Feldwebelwohnung, sehen wollte sie die Enkelin wenigstens an ihrem Ehrentag.

Josefine hatte sich den Abschied leichter gedacht; nun konnte sie sich auf einmal nicht trennen. Laut weinend küßte sie die Geschwister, die Mutter, die Großmutter; am längsten hielt sie den Vater umklammert.

»Na, na«, tröstete der Feldwebel und klopfte ihr den blonden, zuckenden Kopf, »gehst ja nu in dein Glück. Mädel, Kopf hoch!« Er bezwang den eignen Trennungsschmerz – war seinem Kinde denn so das Los nicht aufs lieblichste gefallen? »Na, na, wir sehen uns ja bald wieder!« Aber als sie ihn nicht losließ, machte er sich frei; jetzt klang etwas wie Strenge durch: »Mach nu 'n Ende! Wisch die Tränen ab – 's ist an der Zeit. Man los – voran, marsch!«

»Ja, komm, Finchen, komm«, drängte der junge Ehemann, »wir kriegen sonst den Zug nicht mehr!« Und als sie noch immer ihr Gesicht weinend verhüllte, nahm er ihre Hand in die seine und drückte die fest. »Du sollst es auch in Vohwinkel gut haben, verlaß dich drauf. Komm, Finchen, komm!«

Noch einen letzten schweren Blick ließ sie langsam über alles gleiten; ihre Nasenflügel hoben sich zitternd, als müsse sie noch einmal den Geruch einziehen, den scharfen, eigentümlichen Kasernengeruch. –

Die Sonne ging zur Rüste, als Conradi seine junge Frau über den Hof führte. Die Wipfel der Ahornbäume rührten sich im Abendwind, um die Stämme wob sich bereits leichter Dämmer. Rotgolden allein strahlte noch drüben das Fenster der Offiziersstube; da weilte die Sonne am längsten.

Ganz langsam ging Josefine, Schritt für Schritt. Aber sosehr sie auch zögerte, das Tor kam doch. Es tat sich auf – sie schritt hindurch – schwer fiel es hinter ihr ins Schloß.


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