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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war ein Sonntagmorgen, so schön, wie noch keiner in diesem Sommer gewesen war. Noch war es nicht heiß, das Windchen, das den Aufgang der Sonne umschauert, kühlte noch sanft die Straßen. Verschlafen zirpten noch die Vögel in den Gärten, aber die Stadt schlief nicht mehr; sie war hellwach im ersten Frühlicht – ihre Söhne zogen heut ins Feld.

Im Gärtchen der Witwe Conradi hing der weiße Rosenstrauch am Plankenzaun wie von tausend Tränen beschwert. Josefine hatte die Nacht nicht geschlafen, sie war gar nicht zu Bett gegangen. Als besondere Vergünstigung hatte der Feldwebel erlaubt, daß der Peter die letzte Nacht unterm Dach seiner Mutter schlafen durfte; und er hatte geschlafen, todmüde, erschöpft, und sie hatte an seinem Bett gesessen, die Stunden von Mitternacht bis zum Morgengrauen, und seine Hand gehalten, wie sie es dem Knaben getan in Krankheitszeiten oder wenn böse Träume ihn gequält. Sie hatte kein Auge von ihm gewandt, und Tränen, von denen sie nichts wußte, waren über ihre Wangen geflossen.

Jetzt stand sie im Gärtchen, blaß und durchschauert, und wartete auf ihren Sohn. Drinnen mühten sich der Onkel und der kleine Bruder noch geschäftig um den Ausrückenden – hier draußen, hier ganz allein, wollte sie Abschied von ihm nehmen.

Jetzt kam er, schon fertig, den Helm hatte er auf, nur den Tornister noch nicht auf dem Rücken. Sie hing sich an seinen Arm.

»Wie ist dir?« fragte sie zärtlich.

Er gab keine Antwort. Sein Auge vermied das ihre und blieb zu Boden gesenkt.

Wie blaß er war, blaß bis in die Lippen! Und an ihrem Arm fühlte sie jetzt das Zittern des seinen. Da durchfuhr sie's plötzlich wie eine Erkenntnis, wie ein Schrecken: daß sie das nicht längst gesehen, nicht längst gemerkt hatte!

»Bist du bang, Peter?« stieß sie heraus, ließ seinen Arm fahren und hob ihm mit bebender Hand das Kinn in die Höhe. »Du bist ja bang!«

»Ja, ja!« Er schrie es jäh heraus mit erstickter Stimme, und, an ihr niedergleitend, warf er sich auf die Knie, schlug beide Arme um ihren Leib und drückte den behelmten Kopf an ihre Brust.

Sie stand ganz still, wie gelähmt, und auch er blieb still.

Ein Vogel tirilierte im Rosenbusch; übers Hausdach herüber, jenseits von der Kaserne, kam jetzt ein Ton, ein Trompetenstoß. Da murmelte er und drückte seinen Kopf fester an: »O wie gräßlich, wie gräßlich! Ich seh immer den Onkel vor mir mit seinem einen Bein –!« Ein Grausen rüttelte ihn. »Oder sterben müssen, so jung – einundzwanzig Jahr! Oh, und ich hab mich doch so gefreut – all meine Plän – alles, wat ich gewollt hab – nix wird nu draus!« Er hob den Kopf und sah sich mit einem verzweifelten Blick um: »Wie blau is der Himmel – wie lacht die Sonne! Hörst du den Vogel, Mutter? Der is vergnügt. Und ich – warum muß ich in den Krieg? Wat hab ich denn verbrochen?«

»Verbrochen? Du? Nix«, sagte sie laut. »Et is ja auch kein Straf, in den Krieg zu ziehn, ne, en Ehr, en Ehr!« Eine brennende Röte stieg ihr in das blasse Gesicht. »Steh auf«, sagte sie fast heftig und zerrte ihn empor: »Schäm dich! Wo tausend junge Leut sich drauf freuen, davor willst du dich fürchten?«

»Sie freuen sich ja gar nit«, murmelte er, »sie schreien ja nur ›hurra‹!«

»O doch! Diesmal doch! Diesmal freuen sie sich. Sie sind stolz drauf. Jung«, – sie faßte ihn bei beiden Schultern und rüttelte ihn – »wat is dir? Besinn dich doch! Oh, wenn dein Großvater noch am Leben wär, der würd dir wohl sagen, wat Ehre is! Un diesmal kämpft ihr ja nit bloß allein für den König, ne, für jeden Bürgersmann, für jede Bürgersfrau – wir wollen nit französisch werden. Ich müßt dich ja verachten, wenn du dich fürchten tätst. Ich sag dir, kriechst du in den Graben, wenn die Kugeln pfeifen, dann« – sie reckte sich hoch auf, ihre Stimme wurde hart – »dann kannste ruhig ein Haus weiter gehn!«

Er sah sie starr an, seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Du bist hart, Mutter«, sagte er. Und dann weinte er laut heraus: »Un wenn se mich totschießen, wat dann? Aber du hast mich ja nit lieb – laß se mich nur totschießen« – in Trotz und Angst brach seine Stimme – »totschießen, mir is't egal!«

»Dummer Jung!« Ihr Ton war nicht mehr hart; so hatte sie oft zu ihm gesagt in besseren Stunden: »Dummer Jung!«

Er hörte es und faßte krampfhaft nach ihren beiden Händen sie hatte ihn ja doch lieb.

»Mutter, Mutter!«

»Sei still, Peterken, sei still! Die Angst geht vorbei, dat is nur heut morgen so, du hast zu wenig Schlaf gehabt, und du bist noch nit dran gewöhnt. Lieber Sohn«, – sie faltete ihre Hände um die seinen und drückte sie so an ihr Herz – »sie schießen dich ja nit tot, glaub mir, sie schießen dich nit tot. Ich bin Witfrau, un du bist mein Ältester, mein« – es kam ihr etwas in die Kehle, aber sie schluckte es herunter – »sie schießen dich nit tot. Du kömmst wieder!«

War sie des so sicher, oder tat sie nur so? Er sah sie an und wurde aus ihrem Gesicht nicht klug, es trug einen Ausdruck, den er bisher nicht an ihr gekannt hatte. In ihren Augen standen Tränen, aber sie lächelte; wirklich, sie konnte lächeln. Und sie fand Worte, wie sie die bisher nie gefunden. Wenn er sein ganzes Leben zurückdachte, so hatte sie noch nie zu ihm gesprochen.

Ihre Augen leuchteten tief in die seinen, als wollten sie ihm bis ins Herz dringen. Was der Vater sie einst gelehrt, das gab sie jetzt dem Sohn mit auf den Weg: »Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre!«

Sie gingen um den kleinen Rasen herum, immer rundherum und Hand in Hand, und er klagte ihr ohne Rückhalt – ja, er schämte sich jetzt selber, daß er sich fürchtete – aber wenn er's bedachte, er fürchtete sich ja nicht seiner selbst wegen.

»Mutter, Mutter, all meine Hoffnungen!«

Sie wunderte sich, daß er nicht zärtlicher war.

»Ich kann nit«, seufzte er, »wahrhaftig, ich kann nit. Ich hab ein Bild gesehn: ›Der letzte Tag eines Verurteilten‹. Der kümmert sich auch nit mehr um Weib und Kind. So is et mir. Ich muß sterben, ich komm nie wieder!«

Sie sagte jetzt nicht mehr: ›Du kommst wieder‹, aber sie reckte sich noch straffer auf und ihr Blick richtete sich zum strahlenden Morgenhimmel.

Es war wie ein stummes Beten.

»Und nun geh«, sagte sie.

Von der Straße her tönte Lärm in den Garten und erschreckte den tirilierenden Vogel; die ganze Kaserne schien in Alarm geraten, es trommelte und pfiff und blies. Der Hornist lockte zum Sammeln.

»Geh, geh«, drängte sie, »et is Zeit, geh, geh!«

Der betaute Rosenbusch streifte schwer und kühl ihren Ärmel, da riß sie hastig die schönste Rose ab.

»Komm her, Peterken! Mein Jung, laß dich noch schmücken!«

Und er beugte das Knie und ließ sich die Rose an den Helm stecken. – – –

Drüben auf der andern Seite, auf Bahnhof Oberkassel, sollten die ausrückenden Truppen in Extrazüge verladen werden; ganz Düsseldorf gab ihnen das Geleit.

Peter marschierte am Haus der Mutter vorbei, den gerollten Mantel über der Brust, den Tornister hinten auf mit Stiefeln und Kochgeschirr; Gewehr über, Brotbeutel und Feldflasche und Faschinenmesser an der Seite. Da stand sie unter der Tür. Und ehe er sich's versah, war sie auf ihn zugesprungen und hatte ihm einen Zettel in die Hand gedrückt: »Nimm dat! Adjüs, Peter, adjüs!«

Und alle Nachbarn winkten: »Adjüs, Peter, adjüs!« – – –

War die Garnison auch ausgerückt, die Stadt kam darum doch nicht zur Ruhe, und das war auch gut. Noch strömte es immer mit frischen Kräften zur Grenze; es schien, als zöge Deutschlands ganze Waffenmacht an Düsseldorf vorbei. Draußen auf der Wasserstation, weit von der Stadt, passierten Truppenzüge Tag und Nacht. Patriotische Lieder singend, hingen die jungen Burschen mit halbem Leib zu den Waggonfenstern heraus; sie schmetterten mit allem Jugendeifer: ›Hurra, Hurra!‹ Wie lange noch, und statt des munteren Singens würde man Stöhnen hören, und statt der lachenden Gesichter, der winkenden Arme, die nach Biergläsern und Butterbroten zappelten, Wunden sehen, bleiche Gestalten auf Bahren heben, die nichts mehr verlangten, als einen stillen Unterschlupf, ein Bett zum Ruhen, vielleicht auch zum Sterben.

Jetzt galt es, Lazarette zu rüsten.

Herr Schnakenberg war ungemein tätig. Er war zwar erst in der letzten Nacht vorm Ausrücken der Garnison, in einen Militärtransport eingepfercht, verschmutzt und verschmachtet, von Karlsbad angekommen, jetzt aber holte er nach, was er bislang versäumt. Diese strapaziöseste Tour seines Lebens kam auch noch auf Konto der Franzosen, die wollte er ihnen eingedenk bleiben. Er tat alles, um sich an ihnen zu rächen. Tagelang konnte man ihn auf der Station geschäftig hin- und herrennen und den durchpassierenden Vaterlandsverteidigern Zigarren in die ausgestreckten Hände stecken sehen – feine Marke, keine Liebeszigarren – und kleine Heftchen: »Vorwärts! Auf nach Paris! Drei Kriegslieder für deutsche Soldaten von Emil Rittershaus«, und Flaschen mit Kognak und Magenbitter und wollene Leibbinden gegen die Diarrhöe. Nichts war ihm zu teuer, unter keinem Aufruf fehlte sein Name. Er hatte ja keine Kinder, wozu sollte er sparen? Die da auszogen fürs Vaterland, waren alle, alle seine lieben Söhne.

Und so wie Herr Schnakenberg taten viele in Düsseldorf; man war dort nie knauserig gewesen. Und es war auch, als ob die Häuser weiter würden, die Räume größer. Wie hätte man sonst soviel Betten aufschlagen können?

Die Nönnchen krochen in die engsten Winkel zusammen und überließen ihr Refektorium und ihren Betsaal. Die Schwestern vom heiligen Franziskus, die von Mariahilf, die Kreuzschwestern, die Karmeliterinnen, selbst die armen Dienstmägde Christi im Klösterchen zu Bolk stellten ihre Kräfte und alles, was sie sonst noch besaßen, zur Verfügung. Im evangelischen Krankenhaus wußten die Diakonissen nicht, wo ihnen der Kopf stand, soviel hatten sie herzurichten; aber zwei Hände wurden jetzt zu zwanzig.

Und die Kaserne, die alte Kaserne mit ihren engen Blocks, dem niedrigen Offizierskasino und den verräucherten Kantinen wurde zum größten Lazarett. Da wurde gekehrt und gescheuert, frisch gekalkt und gestrichen, geräuchert und mit Karbol gespritzt. Auf dem Exerzierplatz wurden Baracken gebaut.

Josefine sah stündlich hinüber: wie sie sich da beeilten und schafften! Bald würden die ersten Verwundeten kommen. Das Herz krampfte sich ihr jetzt oft zusammen in einem jähen Schmerz, und doch hatte sie gute Nachricht von ihrem Peter. Dreimal hatte er ihr schon geschrieben, freilich nur Feldpostkarten mit Bleistift, aber sie sah doch seine schöne, deutliche Handschrift, und sie fühlte es aus jeder Zeile heraus, aus jedem Wort: er war ruhig. Sein Bataillon marschierte jetzt durch die Eifel auf Trier; er schrieb kaum was vom Krieg, die blühende Heide oben auf dem Hohen Venn, die wunderbaren Sonnen-Auf- und Niedergänge entzückten ihn. Auch daß er nicht marode geworden sei beim glühenden Brand des Tages, schrieb er, und daß er sich nicht die Füße durchgelaufen habe, sondern daß er gut marschiere in den wollenen Strümpfen, die sie ihm gestrickt, und in den neuen Stiefeln, die sie ihm noch hatte machen lassen. Ja, er war ganz ruhig – Gott sei Dank! Aber sie, sie war es nicht mehr.

Im Lädchen war kaum etwas zu tun; ruhelos irrte sie umher, hierhin, dorthin, vom Gärtchen bis zum Speicher – da oben stand noch ihr Bild, versteckt in der Bodenkammer. Sie zog es aus der Kiste und kauerte sich davor nieder. Es lachte sie an aber da, da der Zug zwischen den Augenbrauen – »der deutete an, daß sie mal Leid bekam« –, nein, sie konnte es nicht mehr ansehen! Mit bebenden Händen, zitternd warf sie das Bild in die Kiste zurück. Sie schrieb Briefe auf Briefe an ihren Sohn – wann und wo würden die ihn erreichen? Es genügte ihr nicht. Wie nur konnte er ganz fühlen, daß sie ihn umgab mit ihrer Liebe, mit ihren Wünschen, mit ihren Gebeten zu jeder Stunde, zu jeder Minute?!

Nur was tun, was tun!

Wie eine Erlösung kam ihr der Gedanke, daß sie sich anbieten könne, wie so viele Frauen und Mädchen, Kranke und Verwundete zu pflegen. Der Ferdinand hatte ihr ja gesagt, ums Geschäft brauche sie sich keine Sorge zu machen, er wolle schon für den Rummel einstehen. Und da war doch auch noch der Fritz, der sagte: »Mutter, du kannst ruhig gehn, ich pass' schon auf!«

So lief sie hinüber in die Kaserne. Der alte Oberstleutnant, der, längst zur Disposition gestellt, freudig die Lazarettverwaltung übernommen hatte, sah sie unter seinen weißen Brauen hervor freundlich an. Ja, die hier taugte ihm, die war besser als die enthusiasmierten Damen, die ihm beinahe das Büro einliefen!

Josefine nannte ihm ihren Mädchennamen. Rinke – Rinke ja, ja, da entsann er sich. Soldatenblut, das war hier am Platz! Und er teilte ihr das größte Revier zu: Hof I mit all seinen Blocks und der früheren Feldwebelwohnung, und das Offizierskasino noch dazu.

Als er ihr dann die Hand gab, sah er ihr forschend ins Gesicht: »Sie haben einen Sohn dabei, Frau Conradi?«

»Jawohl, Herr Oberstleutnant.«

»Und ich ihrer drei«, sagte er, und es zuckte um seinen buschigen Schnurrbart. – –

Kranke waren schon eingetroffen, Schwache, die auf den Eilmärschen zusammengebrochen waren; ›Mariahilf‹ hatte sie aufgenommen. Aber noch harrte man der Verwundeten.

Wie ein dunkler Vorhang hing's der Stadt vor den Augen – wer lüftete ihn? Man hörte nichts von denen da draußen. Von einem Geplänkel an der Grenze, von einem Treffen bei Saarbrücken wurde gemunkelt. Aber wer war dabei gewesen? Und war's glücklich oder unglücklich ausgefallen? Vermutungen sprachen sich von Mund zu Mund; kein Gerücht schien so unmöglich, daß es nicht kolportiert worden wäre. In einer qualvollen Ungewißheit verstrichen so die ersten Augusttage.

Da plötzlich ein Extrablatt, in Riesenlettern war's angeschlagen – daß die Mauern nicht einfielen, die Bäume nicht umstürzten, die es trugen, dies:

»Glänzender, aber blutiger Sieg der kronprinzlichen Armee bei Weißenburg!«

Und kaum hatte man sich von dem Donnerschlag, der herrlich und furchtbar zugleich die Spannung löste, etwas erholt, ein zweiter Donner:

»Siegreiche Schlacht bei Wörth!«

Ein gellender Schrei stieg gen Himmel: Sieg, Sieg! Wer fragte vorerst nach Verlusten? Man las nichts von ›blutig‹, nur Sieg, Sieg! In hellem Jubel stürmte das Volk durch die Straßen; stolze Freudenfeuer, in jedem Herzen, in jedem Auge entzündet, lohten empor: Sieg, Sieg!

Die Zeitungsexpeditionen wurden gestürmt. Man wollte mehr wissen, man forderte gierig sein Teil am Geschehenen: wieviel Franzosen tot? Wieviel gefangen? Wieviel Kanonen erbeutet? Hat der Feind nun genug gekriegt?

Die Nacht vom sechsten auf den siebenten August wurde ein vielstündiges Freudenfest – wer hätte an schlafen gedacht? Sieg, Sieg – das prickelte wie Champagner. Wer konnte noch bange sein, wenn Freudenschüsse es dröhnten, wenn alle Glocken es läuteten: Sieg, Sieg!

»Deutschland, dein Sonntag erscheint!« rief der begeisterte Dichter Rittershaus. Fürwahr, ein Sonnentag schien angebrochen, schon schimmerte der Rhein golden, die Krone, die versunkene, hob sich von seinem Grunde strahlend zum Tageslicht.

Zwei große Schlachten gewonnen! Wahrhaftig, der seltsame Mann, der noch immer predigte: » Maran atha – kommt, der Herr ist nahe! Hört ihr den Donner, er kündet die nahe Wiederkunft des Herrn Herrn!« hatte recht: das Jüngste Gericht brach an über die Franzosen.

Sieg, Sieg! Josefine wurde mit fortgerissen vom allgemeinen Jubel; auch sie war im Rausch. Ein unbeschreiblicher Enthusiasmus hatte auch sie ergriffen. Mit flatternden Röcken lief sie über die Straße, mit hochgeröteten Wangen und blitzenden Augen; sie konnte es nicht genug hören, es nicht genug selber künden: »Sieg!«

Sie konnte nicht stillsitzen, wie ein flüssiges Feuer lief es ihr durch die Adern – Sieg! Wie würde der alte König sich freuen! Der würde jetzt noch mehr von Herzen lächeln als damals. Er grüßte das Vaterland mit segnender Hand, und das Vaterland grüßte wieder mit erhobenem Schwert: Sieg, Sieg!

Josefine war stolz, auch ihr Sohn trug ein Schwert. Nur nachts in stiller Stunde wollte ihr Herz bangen: wo war er? Zuletzt hatte sie aus dem Biwak an der Saar einen Brief bekommen – sie trug ihn stets mit sich herum – so einen lieben, verständigen, zärtlichen Brief:

»Es geht mir sehr gut. Viele Küsse an Dich und meinen Bruder, auch an Onkel Friedrich und Onkel Ferdinand –«

»Aber wohin wir marschieren, wissen wir nicht«, das stand auch darin. Wenn er's nicht wußte, wie sollte sie's dann wissen? Wo war er, wo war er?! Eine unbezwingliche Angst ergriff sie plötzlich, eine Pein, keiner gleich, die sie je empfunden. Mitten in den Freudentaumel hinein, der gar nicht enden zu wollen schien, hätte sie schreien mögen: »Peter, wo bist du? Peter, Peter!«

War er am Ende bei dem Gefecht gewesen, das in diesen Tagen bei Spichern stattgefunden hatte? Es war eine Depesche gekommen, nach der am sechsten August dort ein Treffen gewesen sein sollte, aber Näheres war noch nicht bekannt; die siegreiche Schlacht am selben Tage bei Wörth verschlang vorderhand alles andre. Spichern – Spichern – ein komischer Name, ein häßlicher Name! Wo lag Spichern? Josefine fragte ihren Jüngsten, der wußte es auch nicht, aber er brachte seinen Schulatlas, und da saßen sie, Wange an Wange gedrückt, die Köpfe gebeugt, und suchten Spichern und fanden es nicht.

»Weißte«, sagte Fritz zuletzt, »ich geh nach der Expedition vom Blättchen, da hängt en Spezialkart vom Kriegsschauplatz, da will ich kucken!« Und er lief eilfertig.

Als er wiederkam, wartete die Mutter schon vor der Haustür. Aber als er außer Atem schrie: »Spichern dat is nur en Dorf, – ›Spicherer Berg‹ steht auf der Kart mit 'nem Sternchen dabei, – nit weit von Saarbrücken«, wankten ihr die Knie. Von der Saar, von der Saar hatte der Peter zuletzt geschrieben, und nahe bei Saarbrücken war nun die Schlacht gewesen. Lieber Gott, nur eine Nachricht von ihm, einen Satz, ein einziges Wort!

Es war ein Glück, daß jetzt die ersten Verwundeten kamen. Die Eisenbahn hatte welche gebracht, und auch auf dem Rhein waren vier Schiffe angekommen, vollgepfropft, Mann bei Mann; die ersten Franzosen, Offiziere, Zuaven, Turkos darunter. Halb Düsseldorf drängte sich an der Landungsbrücke und am Zolltor.

Ha, da waren sie ja, die Franzosen, die Spitzbuben, die Erzkujone!

Ein erregtes Gemurr summte, ein unterdrücktes Räsonieren und Schimpfen. Knaben, die auf die Laternenpfähle geklettert waren und an den Simsen der Häuser hingen, streckten lang die Zunge heraus: »Franzos', Franzos', rote Hos'!« Aber als nun die Schwarzen passierten, Kerle, wie mit Stiefelwichse beschmiert, die langen Leiber in schmutzig-weiße Burnusse gewickelt, mit den Zähnen klappernd unter dem heute trübverhangenen Himmel, da wurde die Empörung laut.

»Wie sie die Zähn fletschen! Un so Biester hat der Napoleon auf unsre Jungens gehetzt?!«

Ja, nun glaubte man's, was man wie ein Märchen angehört: daß diese braunen Teufel schreckliche Schandtaten an Verwundeten und Toten verübt, ihnen die Augen ausgestochen, die Finger abgehackt hatten, um so manchem treuen Landwehrmann den Ehering von der im Todeskampf zusammengekrallten Hand zu ziehen.

»Schlagt sie tot, die Schweinehunde!«

Es war gut, daß Polizei aufgeboten war, und daß die den Transport geleitenden Unteroffiziere die Waffe blank trugen.

Die Erbitterung wuchs und wuchs – da plötzlich ein langgezognes, zitterndes »Ah!« – »Platz!« – Man wich zurück und stellte sich doch auf die Zehen: »St! Ein Toter!«

Von vier Männern getragen, schwankte die Bahre, mit einer Pferdedecke überspreitet.

Oh, der Arme war auf dem Transport, eben vor der Ankunft, gestorben! War's ein Deutscher, ein Franzose? Man wußte es nicht. Man sah nichts von ihm, nur eine kräftige junge Hand hing schlapp an der Seite unter der Decke vor. Der jähe Tod hatte dieser jungen, kräftigen Hand nichts anhaben können, sie war noch mannhaft und muskulös; nur gebleicht war sie, wie weißes Wachs.

Eine plötzliche Beklemmung war über die Zuschauer gekommen, und als ein Gassenjunge noch kreischte: »Franzos', Franzos'«, da zog ihn ein ehrsamer Bürger vom Laternenpfahl herunter und gab ihm einen tüchtigen hinten vor.

Im tiefsten Schweigen setzte der Zug seinen Weg fort. Still, still! Immer neue kamen vom Rhein herauf, Wagen, Bahren und mühsam Daherschreitende. Der mit dem umwickelten Kopf sich taumelnd auf den stützend, der den Arm in der Binde trägt. Alles durcheinander, preußische, bayrische und französische Uniformen – Arme, Elende, Beladene. Leichtverwundete, Schwerverwundete, aber alle todesmatt, seufzend, in Schmerzen ächzend.

Die Kasernenbetten waren rasch belegt, die pflegenden Nonnen huschten auf leichten Sohlen hin und her, die gehetzten Ärzte reinigten ihre Sonden und griffen nach neuem Verbandzeug. Und auch Josefine lief der Schweiß vom Gesicht. Mit ihren starken Armen hatte sie manchen helfen ins Bett heben, manch bleicher Kopf hatte an ihrer Brust geruht.

Helfen, helfen – an etwas andres hatte sie gar nicht denken können den ganzen Tag. Und die Nacht schlief sie zum erstenmal, seitdem der Peter ausgerückt war, wieder ganz ruhig, sanft, wie ein müder, von seinem Tagewerk befriedigter Mensch. Keiner jener wirren Träume, die sie so oft gequält, kam ihr; ihr Jüngster mußte sie am Morgen rütteln, sonst wäre sie gar nicht aufgewacht.

Das pausbäckige Knabengesicht war heute etwas blaß, es sah ängstlich und neugierig zugleich aus. Auch der Invalide ging um die Schwester herum mit einem merkwürdig betroffenen Gesicht, er bemühte sich, besonders forsch zu sein, aber es mißlang. Josefine merkte von alledem nichts, sie eilte nur, daß sie hinüberkam in die Kaserne. Dort fand sie gleich alle Hände voll zu tun; so hörte sie nichts von dem, was beängstigend durch alle Straßen lief.

Endlich nähere Nachricht über Spichern!

»Furchtbarer Kampf, von größeren Dimensionen als nur geahnt. Starke Verluste – Neununddreißiger Füsiliere im Feuer.«

»Unsre Neununddreißiger, unsere braven Füsiliere!« Ein plötzlicher Schreck lähmte die Herzen, die noch gestern in Siegesfreude hochgeschlagen hatten. Das bei Spichern war auch ein Sieg gewesen, aber niemand jubelte darüber. Wie eine Ahnung schweren Leides zog es durch die Stadt. Ach, wer hatte nicht einen Vater, einen Sohn, einen Bruder, einen Freund, einen Liebsten dabei! Spichern, Spichern – dies Wort bohrte sich ein, mitten ins Herz.

Wer war verwundet?

Viele.

Wer war tot?

Viele.

Blasse Gesichter sahen sich an. Auf den Straßen, an allen Ecken standen Leute in Trüppchen beieinander und flüsterten bang.

»Haben Sie einen Sohn dabei?«

»O Jesus, ja!«

»Und Sie?«

»Ich auch!«

»Und Sie?«

»Mein Bruder steht bei den Neununddreißigern!«

»Ach Gott, ach Gott, mein Mann, mein Mann!« Eine weinende junge Frau kam herbeigestürzt, ihr Kindchen auf dem Arm. »Is et wahr? Is 't wirklich wahr, sind se all tot? Oh, mein Mann, mein Mann!«

Überall Angst, tödliche Bangigkeit, herzklopfende Erwartung.

Noch waren keine Verlustlisten veröffentlicht – hoffe noch, wer hoffen kann! Scheu sah einer den andern an: wer würde zuerst in Schwarz gehen?

Das angstvolle Geraune der Stadt war endlich auch bis in die Kaserne gedrungen: »Spichern, mörderische Schlacht, Neununddreißiger fast aufgerieben!« Die Verwundeten rührten sich ächzend und spitzten die Ohren: Spichern – da gab's wieder neue Leidensgefährten.

Spichern – die Wärter flüsterten es auf den Korridoren, die Nonnen bewegten betend die Lippen, die Ärzte zogen die Brauen erwartungsvoll hoch und sahen nach ihren Instrumenten.

Achtzehn Schiffe mit Verwundeten waren signalisiert, heut abend noch sollten sie eintreffen.

Josefine hatte noch nichts von den Gerüchten gehört. Sie saß am Bett eines Schwerkranken. Das war ein junger französischer Fahnenträger; vielleicht daß er gerade die Fahne geschwenkt und schreien wollte: ›Vive la France!‹ als die Granate krepierte, die ihm beide Arme zerschmetterte, und die Kugel geflogen kam, die ihm zur rechten Wange hineinfuhr und zur linken wieder heraus. Vor wenig Tagen erst war er angekommen, und es hatte Josefine gegraust, als sie zum erstenmal sein nur notdürftig verbundenes Gesicht sah. Und ganz seltsam war es ihr geworden, als sie ihn in ihres Vaters Stube fand, fast an derselben Stelle, wo einst dessen Bett gestanden hatte.

Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war dem Arzt zur Hand gegangen, so flink und geschickt, daß Schwester Daria, die am Nebenbett Beschäftigte, ihr unter dem schwarzen Nonnenkopftuch hervor, zu dem die roten jungen Wangen und die blanken Augen seltsam standen, zulächelte.

Auch jetzt lächelte Schwester Daria, als sie zum Bett des Fahnenträgers trat und Josefine die Tasse mit Milch, aus dem die dem Dürstenden mit Mühe einige Löffelchen einflößte, aus der Hand nahm.

»Gehen Sie nach Haus«, sagte sie sanft. »Sie müssen Mittag essen und auch ein bißchen ruhen.«

»Und Sie, Schwester?«

Die Nonne sah heiter drein: »Oh, ich! Ich bin das ja gewöhnt. Und da ist auch ein Jung draußen, der fragt nach Ihnen. Ich glaube, es ist Ihr Sohn.«

»Der Fritz? Wat will der?!« Josefine fuhr so hastig auf, daß der Fahnenträger die Augen nach ihr rollte.

»St!« Die Nonne legte ihr die Hand auf die Schulter. »St! Haben Sie schon von Spichern gehört?«

»Spichern?« Josefine blickte sie erschreckt an.

»Bei Spichern ist eine mörderische Schlacht gewesen«, sagte die junge Nonne so sanft, daß ihre Stimme wie ein Hauch das Ohr umschmeichelte. »Aber so einer fällt im Krieg, wird sein Tod ein christlicher Tod sein und die Tür zum ewigen Leben.«


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