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Zwölftes Kapitel

Herbststürme zausten die Blätter von den Bäumen, der Westwind stieß gegen das Zolltor, der Rhein brandete ungestüm an die Werft, die Kähne, die die Schiffbrücke trugen, ächzten und rieben sich. Regentriefend, mit von der Nässe gedunkelten Mauern, schaute das alte Schloß finster in den Strom.

Ein häßliches, naßkaltes, wehmütiges Wetter! Josefine schauderte, aber sie wurde froh, als die Kaserne in Sicht kam. Wie ein warmes Wehen kam es von dort her durch die naßkalte Dämmerung und umschmeichelte sie. – –

Ob sie ihn heute noch sprechen würde?

Gestern hatte sie ihn nicht gesprochen, den ganzen Tag nicht. Eingeladen war er zum Sonntag gewesen bei seiner Schwester; die vom Werths waren jetzt wieder in der Stadt. Ach, da würde er nun oft seine freie Zeit zubringen! Das war natürlich, aber sie empfand einen Schmerz dabei. Und Gesellschaften würde er mitmachen, viele Bälle. Sie würde abends nicht mehr das Flinzeln der Kerze in der Offiziersstube beobachten können.

Und ob er noch Zeit fand zu einem Flüstern im dunklen Gang?! Lieber Gott, weiter verlangte sie ja gar nichts, nur ab und zu ein Wort in abgestohlenen Minuten, ein rasches Sehen, ein heimliches Grüßen. Es war so schön gewesen!

Ein plötzlicher Schreck überfiel sie – wenn das nun alles ein Ende hätte? Ach nein, kein Ende, es mußte ja immer schöner werden, immer schöner! Hatte er sie denn nicht lieb? Sicherlich! Und sie dachte an das kleine rote Buch, das er ihr geschenkt hatte. Da stand so viel von Liebe drin.

Könnte sie ihm nur einmal um den Hals fallen! Nur einmal ihm einen herzhaften Kuß geben!

Als Josefine an der Front der Kaserne vorbeiging, strich ihre Hand liebevoll längs der grauen Mauer hin. Die umschloß ja ein großes Glück. Eine heiße Zärtlichkeit wallte in ihr auf – wo gab es bessere, festere, schönere Mauern? Sie liebte jeden Stein. Hier hatte sie einst mit Rötel einen mächtigen Strich gezogen – noch glaubte sie den Kratz zu sehen – und hier aufs große Tor hatten die Jungens mit Kreide gekritzelt:

»Fina Rinke heiß' ich,
Schön bin ich, dat weiß ich.«

und eine furchtbare Fratze dazu gemalt.

Die liebe alte Kaserne! O Gott, wenn sie einmal woanders wohnen müßte! Die Tränen schossen ihr plötzlich in die Augen, ein seltsames Angstgefühl erfaßte sie.

Als sie die knarrende Stiege hinauskletterte, öffnete die Mutter oben die Stubentür: »No, Fina, endlich! Wo bleibste dann heut so lang?« Und leiser raunte sie: »Et is Besuch drin, der Conradi! De hat Urlaub bis morgen früh.«

»Jesus!« Mehr sagte Josefine nicht; sie war zu Tode erschrocken.

»Du brauchst ihn ja nit zu nehmen, wenn du nit willst«, flüsterte die Mutter noch rasch. »De is ja reformiert, dat is nit viel besser wie 'ne Jud. Du kriegst noch lange 'ne andre!«

»Ich will gar keinen«, stieß Josefine heraus, und dann trat sie in die Stube.

Conradi saß beim Vater am Tisch, das flackernde Kerzenlicht fiel auf seine Gendarmerieuniform. Bei der Begrüßung lag Josefines Hand ohne Druck in der seinen, aber er merkte es nicht. Er war zu froh, denn gestern abend hatte er die Nachricht bekommen: eine feste Anstellung in Vohwinkel. Eigentlich sollte er gleich heute antreten, aber er hatte sich noch den einen Tag freigemacht und war hierher geeilt.

»So pressiert es?« sagte der Feldwebel. »Na, Kamerad, ohne Ihn können die Vohwinkler wohl keine Nacht mehr ruhig schlafen? Ja, so'n strammer preußischer Sergeant!« Er lachte in sich hinein und hob sein Glas: »Na, Kamerad, zum Wohl!«

Josefine war erstaunt: der Vater machte Scherz, der Vater hatte Bier holen lassen, heute am hellen Werktag? So vergnügt hatte sie ihn kaum je gesehen. Was er nur an dem Conradi fand?

Sie selbst saß stumm und steif und zog ihre Hand, nach der der Sergeant immer wieder unterm Tisch verstohlen faßte, ebensooft wieder zurück. Als der Vater einmal ans Fenster trat, nach den Wetteraussichten für die morgige Felddienstübung zu spähen, und Conradi ihr ins Ohr flüsterte, ob sie seinen Ring und sein Gedicht noch hätte, da machte sie nur: »Hm«. Und stand auf, um nach der Tür zu gehen.

»Halt«, rief der Vater, »wohin?«

Da mußte sie bleiben und sich wieder niedersetzen. Es half ihr nichts, wie sehr sie auch den Kopf wegwendete und Conradis Blick vermied, immer hingen seine Augen an ihr.

Als er mit strahlender Miene von Vohwinkel sprach, dem sauberen Örtchen, hoch oben auf den Hügeln, mit dem weiten Blick ins bergische Land, tat er ihr fast leid. Selbst die Luft dort lobte er. Wenn dort auch wohl Fabrikruß flog, es gab doch noch viele Ackerfelder, und man konnte gegen billige Miete ein Häuschen für sich allein haben und ein Stück Garten, wo man Kartoffeln pflanzte und Gemüse zog. Er erzählte mit Behagen; solch eine Stelle hatte er sich immer gewünscht. Nun hatte er keinen Grund mehr, den ältesten Bruder, der in der fernen Heimat auf der ostpreußischen Hufe saß, zu beneiden; er hatte jetzt auch sein Glück gefunden. Mit aufglänzenden Augen strahlte er das Mädchen an.

Josefine hätte am liebsten geweint. Blaß und verwirrt saß sie da.

Sehr interessiert ließ sich der Feldwebel von dem jüngeren Kameraden dessen Wirkungskreis und Pflichten beschreiben. Conradi berichtete mit Eifer. In Vohwinkel hatte er keinen über sich, er mußte allein aufkommen für Ruhe und Ordnung. Und das war nicht immer so leicht. Wenn es ihm nicht widerstrebt hätte, sich selber zu loben, so hätte er gern erzählt, wie es ihm gelungen war, einem größeren Krawall, vielleicht sogar einem Blutvergießen, vorzubeugen, als am letzten Samstag die entlassenen Arbeiter einer Färberei anfingen, dem Fabrikanten Türen und Fenster zu demolieren.

»Na, Heldentaten habt ihr ja wohl nicht ausgefressen«, lachte der Feldwebel.

»Nein, das nicht«, sagte Conradi bescheiden und merkte gar nicht den leisen Ton gutmütigen Spottes im Lachen des andern.

Er hatte sich ein wenig zurückgerückt und den Arm auf Josefines Stuhllehne gelegt; so saß er und sah auf das weiche, blonde Gekräusel, das sich da hinten in dem molligen Genick aus dem straff aufgekämmten glatten Haar herausgestohlen hatte. Er konnte nicht widerstehen, spitzte die Lippen und pustete zart auf die Härchen.

Da zuckte sie unwillig zusammen.

Es war gut, daß Frau Trina jetzt mit einer Bewirtung kam: geschabtes rohes Fleisch mit Zwiebel, Leberwurst und frischer Holländer Käse. Sie hatte sich ordentlich abrennen müssen, das Traktament so allein zu besorgen. Auch noch ein Krug Bier wurde aufgesetzt.

Die Männer stießen fleißig an. Josefine aber mundete nichts – wenn der Conradi doch nur erst wieder fort wäre! Ihr Kopf glühte. Dieses Suchen nach ihrem Blick, dieses Tasten nach ihrer Hand machte sie so ungeduldig, so unglücklich, ganz böse. Sie wollte nicht – nein, nein, – und doch saß sie wie gelähmt unter dem Griff dieser festen, warmen Männerhand und hatte nicht mehr die Kraft, ihre Hand fortzuziehen. Der Verliebte streichelte sacht darüber hin und spielte mit ihren Fingern.

Ob wohl das Licht drüben in der Offizierstube brannte? Oh, könnte sie es doch aufglimmen sehen!

Ob sie ihn wohl noch sprechen würde heute abend? Ach, heute den ganzen langen Tag und gestern den ganzen langen Tag kein Wort mit ihm gewechselt!

Wo war er, was tat er, was dachte er? Wo blieb er, kam er, war er schon da?

Eine ungestüme Sehnsucht packte sie – sie hielt's nicht mehr aus.

»Jesus, Fina«, sagte die Mutter plötzlich, »wat siehste schlecht aus! Is dir wat?«

»Ich – ich hab – schrecklich Kopfweh«, stammelte Josefine.

»Nanu?« Der Feldwebel zog die Brauen in die Höhe, es war ihm augenscheinlich fatal, daß die Tochter heute abend ausspannte. »Nimm dich zusammen! So'n bißchen Kopfweh macht nichts!«

»O doch!« Mit einem Aufseufzen stützte Josefine den Kopf in die Hand. Sie wurde ganz blaß.

»Oh!« Der Sergeant erhob sich. »Dann werd ich lieber gehen«, sagte er kleinlaut.

Frau Trina erhob nur schwache Einsprache, Josefine gar keine.

Bloß der Feldwebel nötigte zum Bleiben: »Ä was, das Kopfweh geht schon vorbei. Man nich so ängstlich! Man reist doch nicht her bloß für die halbe Stunde. Das nenne ich Zeit und Geld verplempern. Geh, gieß dir Wasser auf den Kopf, mach 'nen Umschlag, leg dich 'nen Augenblick nieder, und dann kommste wieder rein – frisch, Mädel, hörste?!«

Die Tochter stand stumm auf; es zuckte um ihren Mund, als ob sie weinen wollte.

»Aber nein – es ist doch besser – ich werde jetzt doch –« Der Sergeant zögerte, das Wort »gehen« kam ihm so schwer über die Lippen. Erwartungsvoll sah er zu Josefine hin: würde sie ihn denn nicht zurückhalten? Aber sie sagte kein Wort. So mußte er sich entschließen, sich zu verabschieden. Lange hielt er beim Abschied ihre Hand in der seinen. Nun würde es vielleicht Wochen und Wochen dauern, bis er wieder herkommen konnte; es wurde ihm sehr sauer, so von ihr zu gehen.

Der Feldwebel begleitete Conradi hinüber ins Stammlokal, da trafen sie viele Kameraden. Josefine atmete auf, als die Männer die Stube verlassen hatten. Auch Frau Trina rüstete sich zum Ausgehen, sie wußte, nun kam Rinke vor Zapfenstreich nicht wieder, da konnte sie gut währenddes ihren Wilhelm besuchen.

»Leg dich ins Bett«, sagte sie zur Tochter, und dann lachte sie hell auf: »O du schlau Dingen! Dem haste't gut zu verstehn gegeben: ›Mach dich ab!‹ Nacht, Fina!« Damit ging sie.

Allein –! Mit einem zitternden Seufzer sah sich Josefine um, und dann stürzte sie ans Küchenfenster: alles dunkel. Oh –! Sie stand und starrte und starrte.

Auf dem Hof kein Tritt. Keiner der Soldaten pfiff vor der Tür bei dem häßlichen Wetter. Der Himmel so dunkel, kein Stern, doch jetzt, jetzt – sie unterdrückte einen Freudenschrei – jetzt schimmerte einer da drüben: sein Licht! Er war zu Hause! Wie mit Gewalt zog sie's hinüber. Sie mußte ihn sprechen, heute noch sprechen. Wenn er doch käme, wie damals zu ihr in die Küche träte! Ach, er wußte ja nicht, daß sie hier stand, ganz allein, und sich nach ihm sehnte!

Sie öffnete das Fenster, daß die feuchte Nachtluft sie durchschauerte, und fing an zu singen; der Wind nahm ihr den Ton vom Munde, aber sie strengte sich an, stark kämpfte ihre Stimme gegen das Sausen und Heulen, aber kein Fenster drüben klirrte – hörte er sie denn nicht?

Wenn sie nun rasch hinliefe und an seine Tür pochte? Was war denn dabei? Gewiß nichts Unrechtes, sie hatte ihn ja so lieb!

Sie überlegte nicht mehr, schon war sie draußen und huschte den dunklen Gang entlang. Rasch, rasch! Ihre Sehnsucht trieb sie schneller als ihre Füße laufen konnten; sie strauchelte, sie stolperte – da – ein rascher, elastischer Tritt kam auf sie zu.

»Viktor!« Mit einem jauchzenden Ruf streckte sie die Hände aus.

Da faßte er sie um den Leib, wie damals im Keller in der schwankenden Bütte, und zog sie hinein in sein warmes, erleuchtetes Zimmer.

Und wie damals küßten sie sich. Sie war ihm um den Hals gefallen, ohne daß sie wußte, wie das gekommen; sie folgte einem tiefinneren, stürmischen Drang.

Er preßte sie an sich, in fast knabenhafter, durch die Heimlichkeit noch gesteigerter Verliebtheit. Auch er glühte: wie sie ihn liebte!

Aber – – noblesse oblige! Eine gute und ehrliche Regung ließ sein hübsches, junges Gesicht männlicher erscheinen: sie war seines Feldwebels Tochter, und er war ein Edelmann und trug des Königs Rock.


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