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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Wenn nur die Ungewißheit nicht gewesen wäre! Aber nein, keine Ungewißheit mehr, er war schreckliche Gewißheit. Josefine fühlte es an dem stummen Händedruck, mit dem der Oberstleutnant sie begrüßte, als er ihr auf dem Hof begegnete: er hatte Mitleid mit ihr.

Da waren einige Glückliche, die Nachricht von den Ihren bekommen hatten – sie hatte keine Nachricht von ihrem Sohn.

Nun war der zwölfte August schon herangekommen; wenn Peter noch lebte, hätte ihr der Kunde gegeben, das wußte sie. So suchte sie ihr schwarzes Kleid hervor, sie mochte kein andres tragen. Stumm und starr tat sie ihre Pflicht; die Verwundeten folgten ihr mitleidig mit den Blicken.

So rastlos war Josefine noch nie umhergegangen, von Block zu Block, treppauf treppab, von Bett zu Bett; ihre Füße waren dick geschwollen durch die Anstrengung, sie merkte es nicht. Die Nonnen baten: »Ruhen Sie doch!« Aber sie schüttelte stumm verneinend den Kopf. Wie konnte sie ruhen?! Wieder von Block zu Block, treppauf treppab, von Bett zu Bett.

Es ging auf den Abend des dreizehnten August, die warme Dämmerung senkte sich bereits auf die Ahornbäume im Kasernenhof; der Platz lag ganz still.

Doch jetzt eine laute, klagende Frauenstimme, die bis hinauf zu Josefine drang. Und dann des Oberstleutnants dringendes Zureden: »Gnädige Frau, hier ist er nicht, ich versichere Sie. Gnädige Frau, beruhigen Sie sich doch! Sie regen sich unnütz auf, er ist nicht hier.«

Zwei ängstliche Mädchenstimmen baten: »Mama, hier ist er nicht, du hörst es ja. Mama, komm doch nach Haus, bitte, bitte! Papa wird ja Nachricht schicken. Komm doch, Mama, bitte!«

»Gnädige Frau, wie können Sie nur zweifeln? Wäre er hier, ich müßte es doch wissen!«

»Aber Leute sind doch hier, die mit ihm in der Schlacht waren – Verwundete. Die haben ihn gekannt. Ach, sie müssen ihn ja kennen!« Der laute Klageton wurde noch lauter: »Die will ich fragen!«

»Gnädige Frau, so sehr ich bedaure, der Eintritt ist nicht gestattet – besonders so spät – gnädige Frau bemühen sich vielleicht morgen früh noch einmal

»Ich muß sie fragen. Gleich, jetzt!«

Josefine zuckte zusammen: das war Verzweiflung! Jetzt hörte sie auch schon eilende Schritte auf der Treppe – die Tür zum ersten Zimmer wurde aufgerissen, fast stürmte eine schlanke Dame herein. Sie schlug den Schleier zurück, und ihre großen, dunklen, wie Irrlichter flackernden Augen fuhren über die Betten hin. Sie sah Josefine.

»Ist hier mein Sohn, mein Eugen?«

»Die gnädige Frau sucht ihren Sohn. Der Leutnant vom Werth war mit bei Spichern«, sagte der Oberstleutnant erklärend und blinzelte der Pflegerin zu. »Er ist nicht hier, gnädige Frau – darf ich bitten?« Er bot der Dame den Arm, um sie wegzuführen.

Aber sie beachtete es nicht. Sie eilte immer weiter, die Betten entlang, über jedes Lager beugte sie sich; mit einem Laut jammernder Enttäuschung fuhr sie jedesmal zurück. Aber sie eilte weiter, weiter, durch alle Stuben, durch den Krankensaal im Offizierskasino, von Block zu Block, treppauf treppab, von Bett zu Bett.

Den weinenden Töchtern und dem zugleich verwirrt und ärgerlich dreinblickenden Oberstleutnant blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Auch Josefine folgte, mechanisch, wie hingezogen – die Frau suchte ja ihren Sohn!

Am letzten Bett drehte sich Frau vom Werth um.

»Er ist nicht hier!« schrie sie in einem herzzerreißenden Ton. und dann fiel ihr flackernder Blick auf Josefines schwarzes Kleid.

Auge in Auge sahen sich die beiden Mütter.

»Sie sind in – Trauer?« sagte Frau vom Werth, und im Ausdruck des Entsetzens krampften sich ihre Züge zusammen. »Um – wen?«

»Um meinen Sohn!«

»Um Ihren Sohn?!«

Mit einem Wehlaut fiel die elegante Dame Josefine in die Arme; sie schluchzte herzzerbrechend: »Mein Eugen war mit bei Spichern, wir haben keine Nachricht, mein Mann ist hingereist, er sucht ihn – o Gott, mein Sohn!«

Josefine blieb stumm, aber sie zitterte – das war die schöne Frau vom Werth, die reiche Frau vom Werth? Jetzt so arm wie sie! Das war die Cäcilie von Clermont, die einst mit ihr auf der Schulbank gesessen hatte. Sie suchte und fand keine Ähnlichkeit mehr, alle Schönheit war weggeweint.

»Kennen Sie mich noch?« flüsterte sie traurig. »Ich bin Josefine Rinke.«

»Rinke – Josefine – Rinke, ah, Fina, Finchen!« Die unglückliche Frau rang die Hände. »Ach Fina, was ist uns geschehen!«

Sie löste sich auf in Tränen. Aber Josefine konnte nicht weinen.

Vergebens hingen sich die Töchter an ihre Mutter. Sie stieß sie von sich: »Mein Eugen, mein Sohn!«

Endlich ließ sich Frau vom Werth von Josefine fortführen. Die brachte sie die Treppe hinunter und unten im Hof, unter den wispernden Ahornbäumen, unter den Sternen, die blaß heraufzogen, standen sie kummervoll noch wenige Augenblicke zusammen.

»Mein Sohn, mein Eugen!« stöhnte Frau vom Werth, als sie, von ihren Töchtern gestützt, an die wartende Equipage wankte.

Der Oberstleutnant schlug den Schlag zu und wischte sich den Schweiß ab: Gott sei Dank, daß das vorüber war!

Am nächsten Morgen veröffentlichte die Zeitung die, freilich noch längst nicht abgeschlossene, erste offizielle Verlustliste des neununddreißigsten Regiments:

»Tot ... Verwundet ... Vermißt ... Summa ...«

Die Summa war groß.

Unter den Toten war Füsilier Peter Conradi verzeichnet. Unter den Vermißten Sekondeleutnant Eugen vom Werth.

Aber auch der war tot. Kurze Zeit darauf stand die Todesanzeige in den Blättern.

Herr vom Werth hatte den Sohn gefunden. In einem Lazarett war der gestorben. Der gebeugte Vater hatte seinen Stammhalter mit in die Heimat geschleppt. So hatte die unglückliche Mutter wenigstens den schwachen Trost, auf seinem Grab Blumen pflegen und sie mit ihren Tränen begießen zu können.

Wo der Peter begraben lag, das konnte der Mutter niemand sagen. Und wenn sie hingeeilt wäre und hätte mit ihren Nägeln die blutgedüngte Scholle des großen Totenackers aufgerissen, sie hätte ihn nicht gefunden.

»Er ist im ewigen Leben«, sprachen Schwester Eustachia und Schwester Daria, die Mägde Christi.

»Wär et dir so lieber, Fina?« tröstete der Invalide und wies auf sein fehlendes Bein.

»Finchen, ich reis' hin«, versicherte Schnakenberg, »so wie et irgend angeht. Wat der vom Werth kann, kann ich auch. Un wenn ich ihn auch nit mitschlepp, den Peter, en schönen Stein laß ich ihm da setzen.«

»Du hast noch einen Sohn«, sagte Bruder Friedrich, »vergiß dat nit. Un der wird groß wachsen in der neuen Zeit – wer mit Tränen sät, wird mit Freuden ernten!«

Und der Kleine schmiegte sich an sie: »Mutter, ich bleib bei dir!«

Trost, so viel Trost. So viel mitleidsvolle Blicke, so viel teilnehmende Händedrücke. So viele schwarze Kleider, wie sie selbst eins trug, ringsumher! Und doch kam in ihr Herz kein Friede. Ihr Sohn tot, von den Franzosen erschossen – gemordet! Ihr geliebter, blonder Junge! Eine Wut überkam sie gegen diese rotbehosten Horden, gegen den Napoleon, der all dies Unglück verschuldet hatte. Auf der Straße sangen die Knaben Spottlieder:

»Was kraucht denn da im Busch herum?
Das ist der Herr Napolium –

Das tat ihr wohl. Und als ein paar französische Offiziere, die, den Arm in der Binde, spazierten, von der Straßenjugend belästigt und beschimpft wurden, hätte sie sich auch bücken und einen Stein aufraffen mögen: »Was wollt ihr hier, ihr Räuber, ihr Mörder! – Brot, Obdach, Pflege? Krepiert! Gebt mir meinen Sohn wieder, meinen Peter!« Sie fühlte einen wilden Haß in sich, eine brennende Wut. Alles in ihr empörte sich, wenn sie sah, daß es Leute gab, die verwundete Franzosen in ihre spezielle Obhut und Privatpflege nahmen. Sie stimmte lebhaft denen bei, die darüber murrten: mußten nicht die Franzosen warten, zurückstehen, bis erst alle, alle Deutschen versorgt waren?

Und es kamen deren so viele: Preußen, Bayern, Sachsen, Hessen, Württemberger, Hannoveraner, und so manch rheinischer Jung. Man hatte geglaubt, unendlich viele Betten zur Verfügung zu haben, aber immer waren es noch nicht genug. Allerorten sammelte man Geld, Kleidungsstücke, Lebensmittel. Die reichen Hammer Bauern fuhren ganze Wagen voll Gemüse und Kartoffeln bei der Kaserne vor, und auch vom Wochenmarkt kam ein hochbepackter Karren an, zu dem selbst das ärmste Bäuerchen von den Eiern seiner wenigen Hühner, von der Butter seiner einzigen Kuh beigesteuert hatte. –

Mit dem französischen Fahnenträger in der früheren Feldwebelstube ging es schlecht; beide zerschmetterten Arme hatte man ihm amputiert, und seine Schußwunde durch die Backe drohte brandig zu werden. Grausam entstellt, lag er regungslos; er klagte nicht, er konnte ja nichts sagen, nur seine Augen sprachen aus dem verschwollenen Gesicht und folgten sehnsüchtig der Traube, die Josefine täglich seinem Nebenmann reichte. Sie hatte sich wenig mehr um ihn gekümmert und seine Pflege fast ganz den Nonnen überlassen – wozu sollte sie ihr längst vergessenes Französisch wieder hervorholen?

Heute kam die Nonne gelaufen: »Ach, Frau Conradi, haben Sie keine Traube mehr? Ich glaube, der Franzos möchte gern eine; er sah Ihnen so nach, die Tränen kamen ihm in die Augen.«

Josefine hatte nur noch eine Traube, und diese letzte war für einen andern bestimmt.

»Er wird bald sterben«, setzte die Nonne hinzu.

Da ging Josefine und holte die Traube, zögernd, fast widerwillig. Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Gier sah ihr der Franzose entgegen und bewegte die trockenen Lippen: »Des rai – des rai – !«

Das war ein unartikuliertes Stammeln, mehr ein Wunsch als ein Wort. Eine große, saftige Beere drückte Josefine ihm in den mühsam ein wenig geöffneten Mund; und so fort, alle Beeren, bis die Traube nur noch ein leeres Gerippe war. Mit einem Seufzer und einem gehauchten ›merci!‹ schloß er die Augen.

»Der arme Junge«, sagte Schwester Daria, »wer weiß, zu Haus hat er vielleicht einen Weingarten gehabt.«

Arm, ja, aber es gab doch noch mehr arme Jungen! Josefine hätte ihm am liebsten kein Mitleid gegönnt, und doch ging sie nun morgens und abends zu ihm und erquickte ihn mit dem Saft einer Traube. Das war fast das einzige, was er zu sich nahm. Er wartete schon immer, er lauerte darauf. Aber sie sprach nie zu ihm, das konnte sie nicht über sich gewinnen. Ihr Peter, ihr Peter! Sein blutiger Schatten reckte sich auf zwischen ihr und diesem da.

Am dritten Abend gab sie dem Fahnenträger wieder seine Traube, da sah er sie an, so bittend, so herzbeweglich, so über alle Maßen traurig, daß sie sich über ihn neigte. Zum ersten Male erwiderte sie seinen Blick.

Und sein Auge schweifte von ihrem schmerzversteinerten Gesicht hinunter über ihr schwarzes Trauerkleid; mit großer Willensanstrengung hob er ein wenig den Kopf und nickte: »Pau–vre mère!«

Was, was hatte er gesagt? Sie saß wie erstarrt, ganz erschrocken. Meinte er sie, oder dachte er an seine Mutter? Sie wußte es nicht, es war auch gleich. Arme Mutter – arme Mutter – da sprang ihr plötzlich etwas wie ein Reifen vom Herzen, und lang entbehrte, heftige Tränen stürzten ihr jäh aus den Augen und blendeten ihren Blick.

Das war nicht mehr der feindliche Fahnenträger, ein verhaßtes, französisches Gesicht – das war nur ein Sohn, auch einer Mutter lieber Sohn! Pauvre mère! – das hatte sie getroffen in innerster Seele.

Mühsam ihr Schluchzen bezwingend, blieb sie an seinem Bett sitzen noch bis gegen Mitternacht. Sie sah, es ging zu Ende. Die Stunden schlichen, das Lämpchen an der Wand brannte trübselig, als wollte es erlöschen, matte Fliegen kreisten langsam oben an der getünchten Decke. Sie hatte ihr Taschentuch gezogen und wischte ihm ab und zu den Schweiß von der Stirn; dann öffnete er jedesmal die Augen und sah sie an.

»Ma–man!«

Es war nur ein Hauch. Sie fröstelte und zitterte und weinte.

Endlich mußte sie doch gehen, die Nonne, die die Nachtwache hatte, kam und trieb sie fort. Langsam schritt sie über den Kasernenhof heim; kaum konnte sie voran, so schwer trug sie – aller Mütter Leid lag ja auf ihr.

Die Ahornbäume rauschten einen Trauerchor. Als sie das schwere Kasernentor öffnete, gähnte die Straße dunkel wie ein Grab. Verstummt die Vaterlands- und Siegeslieder, nur der Nachtwind wimmerte um die Ecken eine klägliche Melodie. Es klang wie Weinen.

Als sie am nächsten Morgen mit dem frühesten ihre Traube in die Kaserne brachte, war der junge französische Fahnenträger tot.

Und andere folgten ihm nach.

Der große Sieg bei Mars la Tour war errungen. Wieder hatten die Glocken geläutet, Raketen geknattert, wieder hatte der Oberbürgermeister vom Balkon des Rathauses herab ein dreimaliges Hurra auf König und Heer ausgebracht. Und wieder hatte Platz für Verwundete not getan; die Tonhalle mit ihren Festsälen war zum neuen Lazarett eingerichtet worden.

Und wiederum ein glänzender Sieg: bei Gravelotte. Jubelruf und Klagegeschrei erklangen zugleich – die braven Neununddreißiger hatten bei Gravelotte wieder herangemußt, und wenn der Tod auch ihre Reihen nicht niedergemäht wie bei Spichern, manch einer hatte doch dran glauben müssen. Der zweiundzwanzigste August brachte sieben Schiffe mit Verwundeten, zwei darunter ganz voll Turkos und Zuaven. Aber die Bürger rannten nicht mehr hin, die Schwarzen anzugaffen; arme Kreaturen, die dankbar waren für einen Trunk und einen Bissen Brot.

Wer hatte noch Kraft zum Pflegen? Alle. Keiner war müde.

Auch Josefine nicht; noch war kein Tag gewesen, an dem ihre Füße sie nicht getragen, ihre Arme versagt hätten. Ihr Saal im Kasino lag voll, ihre Blocks auch. Und unter den vielen hatte sie nun noch zwei alte Bekannte zu pflegen: Unteroffizier Schmidt und den jungen Hucklenbruch, den bei Gravelotte die Kugel in die Brust getroffen hatte.

Bett an Bett lagen jetzt die beiden Rivalen, die sich einst gemieden; aber es war nicht der Zufall, der das so gefügt, Schmidt hatte flehentlich darum gebeten. Waren sie doch beide am selben Tag verwundet worden und beide hatten sie unsäglich lange Stunden, unweit voneinander, auf dem Schlachtfeld geschmachtet, bis es Schmidt gelungen war, auf allen vieren zu dem schon bewußtlosen Kameraden hinzukriechen.

»'ne faule Sache«, flüsterte Schmidt bekümmert Josefine zu, die in halb schmerzlicher, halb freudiger Erregung des Wiedersehens an sein Bett geeilt war, und wies mit dem Blick hinüber nach dem Nebenmann. Der lag, wächsern und still, in seinen Kissen, bis aufs letzte erschöpft vom Transport, vom Betten, Untersuchen und Verbinden.

Das Herz im Leibe drehte sich Josefine um: wie oft hatte der Hucklenbruch seelenvergnügt in ihrem Lädchen gesessen, und nun mußte er so daliegen!

»Ja, denn man lieber jleich weg«, flüsterte Schmidt. Und dann sah er Josefine ganz seltsam an; seine sonst so kecken Augen wurden feucht und nachdenklich.

»Ich hab Ihnen auch noch was zu bestellen, Frau Conradi, 'nen –« er zögerte verlegen – »'nen Jruß!«

»Von wem?« Warum fragte sie noch? Ach, sie wußte ja von wem! Es konnte nicht anders sein, sie empfand es am wilden, rasenden Schlagen ihres Herzens, jetzt kam etwas, ein Gruß, ein Gruß von – von –! Ihre Knie brachen, unwillkürlich sank sie am Bett nieder und faltete die Hände krampfhaft: »O Gott, vom Peter!«

Der Verwundete nickte. Die Botschaft wurde ihm nicht leicht, seine Stimme klang aufgeregt: »Da – aus meinem Rock, jeben Se mal her – aus der Brusttasche – so, mein Notizbuch. Ich habe nämlich – was Jeschriebenes für Sie – 'nen Zettel – ich habe immer höllisch drauf aufjepaßt.«

Sie konnte das Notizbuch nicht gleich finden, ihre Hände zitterten zu sehr.

Nun kniete sie wieder am Bett, und Schmidt machte umständlich das Büchelchen auf, suchte umständlich darin. Sie hielt den Atem an und riß die Augen auf: was würde sie lesen? Daß er tot war, das wußte sie ja – aber wie war er gestorben, wie?!

Dauerte das Suchen denn stundenlang? Eine Ohnmacht wollte sie ankommen, ihre Lippen bebten, ihre ganze Gestalt. Aber jetzt – jetzt, gleichsam aus weiter Ferne, schlug Schmidts Stimme an ihr Ohr: »Er starb wie ein Held!«

Da seufzte sie so tief auf, als sollte der Atem ihr die Brust sprengen, und riß gierig den Zettel an sich. Laut schrie sie auf: das war ihr Zettel, ihres Vaters Zettel, den sie dem Sohn in letzter Stunde zugesteckt hatte, beim Ausmarsch!

Und er hatte das Vermächtnis angetreten.

Da stand: »Über alles die Ehre!« und darunter gekritzelt, mit Blut: »Liebe Mutter, adjüs.« – – –

»Ehre, wem Ehre jebührt«, sagte Schmidt. »Der Junge war 'n janzer Kerl, bis zum Tode!«

Viele Tage trug Josefine das verknitterte, vergilbte, blutbefleckte Papier auf ihrer Brust. Da lag es und gab ihr ungeahnte Kraft; aber dann schloß sie es doch in die Truhe, in ihr Nähkästchen, zu den Andenken ihrer Jugend und Ehe. Jetzt hatte sie den Talisman nicht mehr nötig, sie war ruhig geworden in sich. Nicht mehr von der steinernen Ruhe jener ersten Zeit, nein, Gott sei Dank, sie konnte weinen! Aber in ihre Tränen mischte sich das Gefühl des Stolzes: mein braver Sohn! –

»Werte Frau«, sagte Unteroffizier Schmidt eines Tages – er war schon in der Besserung und schluffte bereits in Filzpantoffeln bis zum Bett des Westfalen –, »werte Frau Conradi, würden Sie für mich nich mal 'n kleenes Briefchen schreiben?«

»Gern.«

»Na, nämlich« – er versuchte schon wieder seinem Schnurrbart den früheren kühnen Aufwärtsstrich zu geben – »na, da ich nu doch mal kein Glück bei Ihnen habe«, – er sah ihren ernsten Blick und nickte – »nehm ich ja nich übel – und denn auch schon von wejen Hucklenbruchen wär's mir wirklich penibel! Na, nämlich, ich habe mir's jeschworen, als mir die Kugeln man so um die Ohren pfiffen, und die Kameraden um mich 'rum fielen wie jemäht: ›Junge, wenn de 'rauskommst, wirste 'ne alte Schuld wieder jutmachen!‹ Denn die Schramme da am Schädel rechnet nich, die is bald heil, und ich mache noch mal los. Also: ich habe da nämlich en Mächen sitzen, an der Panke wohnt se, jroßer Staat is jerade nich mit ihr zu machen, arm is se man, und auch lange nich so hübsch wie Sie, werte Frau, na – aber se hat nu mal 'nen Jungen von mir. Also, haben Se die Jüte, werte Frau, schreiben Sie schon man los: ich wer' ihr heiraten. Es drückt mir's Herz ab, ich kann nich warten, bis ich alleine schreiben darf. Die Auguste wird jeheirat't stantepe, sowie der Krieg 'rum is. Denn, wissen Se, so in 'n Krieg wird einem janz schnurrig zumute; 's is lange nich so, als wie die Leute sich denken. Un mit der Bejeisterung is det allens Mumpitz. Un mit dem Haß auf den Feind auch. Davon weiß man jarnischt in der Schlacht, man weiß von sich selber so jut wie jarnischt; was befohlen wird, wird jemacht: einfach rin! Muß 't nu mal sind, denn man los! Das können Sie mir jlauben. Aber an die Juste schreiben Se man, bitte!« –

Fahnen, Fahnen!

Fahnen in allen Größen, Fahnennessel, Flaggentuch.

Wer noch keine Fahne im Besitz hatte, rannte heute und kaufte.

»Sie wünschen?«

»Fahnen, Fahnen!«

»Schwarz-weiß?«

»Nein, schwarz-weiß-rot!«

Ein Meer von Schwarz-weiß-rot hatte sich über die Stadt ergossen. Zu jeder Bodenluke, zu jedem Mansardenfenster heraus steckte bald eine lange Stange; und lustig flatternd und sich freudig blähend im frischen Herbstlüftchen klatschte das schwarz-weiß-rote Tuch gegen das untere Stockwerk. Das klang wie Wellenrauschen, wie Musik einer stürmischen Brandung: Sedan, Sedan!

Überall flaggte und wimpelte es. Der Jägerhof, das Rathaus, die Kaserne, das Theater, die Kirchen, die Schulen, die Tore, die Rheinbrücke, selbst der alte Jan Willem hatten geschmückt. Um alle Dächer rauschte es, durch alle Lüfte sauste es: Sedan, Sedan!

Große Flaggen, kleine Flaggen, schmale Wimpel, breite Wimpel, kostbares Tuch, dünner Nessel, verwaschener Kattun, Papierfähnchen, strahlender Sonnenschein lachend über alle, und übermütig dreinharfender Wind: Sedan, Sedan!

Die Verwundeten setzten sich auf in ihren Betten und horchten mit gespanntem Ohr. Der Rhein brauste es, Kanonen donnerten es: Sedan, Sedan!

»Gefangennahme des Kaisers Napoleon. Kapitulation der Armee Mac Mahons bei Sedan!«

Was wollten die Franzosen nun noch? Ihr Kaiser gefangen, ihre größte Armee gefangen! Nun mußte es Friede, Friede werden.

Gegen Mitternacht war die erste Kunde nach Düsseldorf gekommen, atemlos hatte ein Depeschenbote sie in die schon schlummernde Stadt getragen. Vorbei war der Schlaf, vorbei die Ermüdung; die Leute stürzten aus ihren Häusern, auf den Straßen und Plätzen fanden sie sich zusammen, sie schüttelten sich die Hände, sie küßten und umarmten sich, sie lachten mit weinenden Augen: nun kam der Friede!

Leuchtend stand ein Stern am Himmel, und plötzlich fingen die Glocken der Stadt an zu läuten, fromme Stimmen in heiliger Nacht. –

Unten auf dem Kasernenhof, unter den Ahornbäumen spielte heut nachmittag die Musik. Da stand, was Beine hatte, und schrie Hurra. Das erste Eiserne Kreuz war nach Düsseldorf gekommen, hierher in die Kaserne.

Und der Glückliche, dem es verliehen wurde für besondere Bravour, war Unteroffizier Schmidt. Ja, das war einer! Der hatte gesagt, als sie die vom Feind besetzte Waldhöhe stürmten und der Zugführer zusammenbrach: »Nu, Kinder, druff wie Blücher! Aber erst wer ik mir noch eene ins Jesicht pflanzen!« Und er hatte seine Stummelpfeife angesteckt, und dann war's losgegangen wie ein Donnerwetter, daß der Feind wich.

Der Oberstleutnant hatte es sich hübsch ausgedacht, heute, diesen allgemeinen Freudentag, dem Tapferen noch zu einem besonders festlichen zu gestalten.

Im Kreise standen das Wachtkommando und die Blessierten – Franzosen waren auch darunter – und in der Mitte stand Schmidt.

Josefine sah hinunter – wie schneidig der Schmidt bereits wieder war, trotz des verbundenen Kopfes in voller Uniform! Und der Oberstleutnant umarmte ihn und heftete ihm selber das Eiserne Kreuz auf die Brust. Eine Nonne trat in den Kreis und kredenzte dem Helden Wein. Der Oberstleutnant stieß mit ihm an, hob dann sein Glas und hielt eine Ansprache. Die Rede schloß: »Ein Hoch dem Braven, der hier unter uns steht! Ein Hoch unsrer Armee, die Frankreich in den Staub gezwungen! Ein Hoch Seiner Majestät, unserm Heldenkönig!«

Man verstand jedes Wort oben in den Krankensälen, deren Fenster geöffnet waren. Das war ein jubelndes Rufen und Schreien, ein Hoch und Hurra, und die Musik stimmte an: »Heil dir im Siegerkranz!«

Josefine schloß das Fenster. Es lagen hier so viel Schwerkranke, fast lauter Franzosen. Aber auch durch die geschlossenen Scheiben drang deutlich die markige Musik. Dort im Bett, nahe dem Fenster, hatte sich ein junger Pariser ganz nach der Wand gekehrt und das Kissen mit beiden Händen gegen die Ohren gedrückt. Erschrocken sah Josefine nach ihm hin, sein Körper zuckte unter der Decke wie im Krampf. Jetzt schlug ein unterdrückter Laut an ihr Ohr – er schluchzte: »Oh ma patrie, ma pauvre patrie!«

Da schlich sie hinaus, sie mochte ihn nicht ansprechen, seine schmerzliche Scham nicht belauschen – oh ma patrie!

Draußen auf der Treppe begegnete ihr Schwester Daria, die kam atemlos: »Frau Conradi, ach, da sind Sie ja! Mit dem Hucklenbruch geht's wieder so schlimm.«

»Wieder ein Blutsturz?« fragte Josefine erschrocken.

Die Nonne nickte: »Es ist schon nach dem evangelischen Pastor geschickt. Derweilen betet unsre Mutter Clara mit ihm.«

Auf den Fußspitzen schlich Josefine zu Hucklenbruch hinein. Man hatte den Armen schon seit ein paar Tagen ganz allein gebettet, in dem Raum, der einst der Feldwebelwohnung als Küche gedient hatte. Jedes Geräusch hatte dem Leidenden Pein gemacht. Aber jetzt standen die Fenster nach dem Hof weit offen, die schöne Nachmittagssonne flutete voll herein und die Musik und das Singen – der Sterbende wurde all dessen nicht gewahr.

»Höher – höher!« hauchte er nur noch mit verlöschender Kraft.

Kissen auf Kissen stopften sie ihm hinter den Rücken; noch immer nicht hoch genug, noch immer keine Luft.

»Höher – höher!«

Da setzte sich Josefine auf den Bettrand und nahm den nach Atem Ringenden stützend in ihren Arm.

Hucklenbruch war ein guter, evangelischer Christ. Ob er seine letzte Stunde nahen fühlte? Wer weiß? Aber er hatte plötzlich Verlangen geäußert nach dem Abendmahl. Es waren ja noch nicht allzu viele Jahre her, seit er's mit seinen Eltern zum erstenmal genommen hatte, zu Bielefeld in der Kirche, im langen Konfirmandenrock, das Myrtensträußchen im Knopfloch.

Nun kam der Geistliche.

»Nehmet hin und esset – das ist mein Leib – der für euch gegeben ward –«

Feierlich klangen die Einsetzungsworte, getragen von der heraufschallenden, festlichen Musik. Aber der danach Begehrende konnte den Leib des Herrn nicht mehr empfangen, das Schlucken versagte.

»Nehmet hin – und trinket alle daraus –«

Wohl neigte der Geistliche sich über das Bett und hielt dem Sterbenden den Kelch an die Lippen, aber der Wein wurde verschüttet; der bleiche Mund streifte nur des Kelches Rand. Hucklenbruch merkte das nicht; ein verklärter Ausdruck lag auf seinem blutleeren Gesicht mit dem jetzt verblaßten Sommersprossensattel über der scharf gewordenen Nase. Seine Augen waren ganz nach oben gekehrt.

Vor seinen Ohren spielte leise die Orgel der Bielefelder Kirche: »Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt« – da war eine große, andächtige Gemeinde – immer neue wallten zum Altar, immer neue – aber er hatte schon genossen, er war nun wohl vorbereitet. Und Vater und Mutter führten ihn fort – heim.

Unten auf dem Hof setzte die Musik einen Augenblick aus. Der Geistliche breitete die Hände zum Segen und sprach das Amen. Neben der würdigen Oberin lag die junge Daria auf den Knien. Auch die Nonnenhände hoben sich empor: »Amen, Amen!«

Strahlender und strahlender vergoldete der warme Sonnenschein Stube und Bett und den Sterbenden.

Rauschend hob die Musik von neuem an, höchster Jubel stieg zu höchsten Höhen:

»Heil dir im Siegerkranz,
Heil König dir!«

Bis in die sinkende Nacht Jubel. Musik, Transparente, Illumination, bengalische Flammen. An den Rheinufern loderten Feuertonnen, und Menschen, Menschen, froh erregte Menschenscharen wallten. Das knatterte und knallte, blies und fiedelte, jauchzte und frohlockte. Fünfzehnhundert Träger schwangen ihre Fackeln; greller Schein überglänzte alles, flüssiges Feuer tropfte aufs Pflaster, wie bespritzt mit Blut standen die weißen Mauern der Häuser.

Im Hofgarten reckten die Bäume ihre schon herbstlichen Blätter ins Fackellicht, und der stille Weiher spiegelte den Glanz wider. Ein letzter, sommerlicher Hauch strich säuselnd durchs hohe Gras. Der Herbst war vor der Tür, der Winter würde kommen, Schnee und Eis bringen, aber was machte das? Träume waren schon aufgestanden, frühlingsfrische, hoffnungsgrüne Träume. In den Wipfeln rauschte es von: »Friede, Friede.«


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