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Neunzehntes Kapitel

Auf den Düsseldorfer Gemüsemarkt schien prall und stechend die Herbstsonne. Wenn auch die Bauern über Mangel an Arbeitskräften beim Gemüsebau schwer gestöhnt hatten, diese letzten feuchten, treibhauswarmen Septemberwochen hatten dem Kappes noch gutgetan, ganze Karren voll herrlicher Kohlköpfe waren heute am Markttag in die Stadt gerumpelt. Und zwischen Körben und Kiepen durch schlängeln sich die Käufer: einfachere Bürgersfrauen mit Kindern an Hand und Rock, Dienstmädchen in Gedruckskleidern und Siamosenschürzen, feine Damen, die sich von der Magd den Korb tragen lassen, behagliche Rentner, die gern das Neueste vom Jahr essen, junge Leute, Maler, die das Marktbild studieren, und Offiziersburschen in blau-weiß gestreiftem Drillich. Ein lebhaftes Gewimmel, ein anpreisendes Rufen und stetes Gesumm. Viele Farben: frisches Grün der Gemüse, leuchtendes Weiß der Eier und der sauberen Buttertücher, köstliche Reife herbstlicher Früchte, ein tiefgefärbter blauer Himmel und goldener Sonnenglanz. Aber auch viel Schwarz – Trauerkleider – ein düsterer Unterton in der reichen Skala der Farben.

Die ersten Hasen waren heut zu Markt gebracht worden, und in den Körben lagen hochaufgeschichtet mit zart-duftigem Anhauch die ersten Zwetschgen. Aber noch lockten sie wenig Käufer. Manches Kinderauge blickte zwar begehrlich, aber nur die Rheinkadetten ließen sich von den Pflaumen in die Mütze messen. So billig wie dies Jahr kamen sie sonst nicht dazu, Obst galt heuer rein gar nichts, denn niemand wollte es kaufen. Aber sie aßen mit Behagen: nur nicht bang, eine »Bangbüx« kriegt sie am allerersten!

Arm in Arm dahinstapfend, sangen sie:

»Eins, zwei, drei
Wir sechsundsechziger Musketiere
Schießen mit Blei!«

Sie waren fast alle diesen Sommer mit im Krieg gewesen. Da am Rathaus baumelten noch die Girlanden: »Den Siegern von 66!« Noch prangten unter welken Kränzen die Tafeln mit den Schlachtennamen: Langensalza, Kissingen, Hammelburg, Gitschin Nachod, Königgrätz. Und solche Sieger über hunderttausend Österreicher sollten sich vor ein bißchen Cholera fürchten?

Die Zwetschgenkerne im Bogen aufs Pflaster spuckend, nahmen die Rheinarbeiter ihren Weg zu irgendeiner Schifferkneipe, um, nebst einem Cholerabittern, noch eine neue Gurke oder einen grünen Hering zu verzehren.

Fast ängstlich schauten die Bürger ihnen nach: o je! Morgen früh würde man im Blättchen wieder von neuen Erkrankungen lesen. Daß das Volk auch nicht klug wurde, sich nicht Choleraleibbinden anschaffte und mit Suppen und ordentlicher Fleischkost nährte. Freilich, das Fleisch war jetzt unerschwinglich teuer. Nette Zustände das! Nicht allein, daß die Cholera einem das Behagen störte, nun munkelte man auch noch von Rinderpest.

Mancher Bürger schüttelte ärgerlich den Kopf: all das Malheur kam von dem Krieg, dem unseligen Bruderkrieg. Wie konnte der König Wilhelm auch dem Premierminister, dem von Bismarck, so ganz und gar sein Ohr schenken? Waren die Österreicher denn nicht deutsche Brüder, und die Hannoveraner, die Hessen, die Nassauer, die Sachsen, die Bayern erst recht? Aber dem von Bismarck war eben alles egal; »Blut und Eisen!« hieß dessen ganze Politik – wär' der nur, wo der Pfeffer wächst!

Ach, keine Hoffnung, der von Bismarck stand fest, den traf selbst eine Kugel nicht; der war gepanzert.

Und was hatte es genutzt, daß die Bürgerschaft von Köln und Düsseldorf und Krefeld, Dortmund, Duisburg, Iserlohn, Elberfeld-Barmen und noch vieler andrer Städte seinerzeit dem König Adresse auf Adresse geschickt hatten:

»Wir fühlen uns gedrungen, als unabhängige Männer, es offen auszusprechen, daß bei aller Opferwilligkeit des Volkes, für die höchsten Güter des Vaterlandes einzustehen, ihm die Begeisterung fehlt, deren ein Kampf für die wahren deutschen Interessen schwerlich entbehren kann.«

All diese Rufe, die Bitten und Klagen waren ungehört verhallt. Der von Bismarck hatte gesprochen, und seine mächtige Stimme übertönte alles: ein preußisches Deutschland! Jawohl, so war's, so stand's im Blättchen: Deutschland sollte mittels des Zündnadelgewehrs zu Großpreußen gemacht werden. So, dafür also hatte man seine Söhne in den Kampf schicken müssen?! War's nicht genug, daß jetzt jährlich weit über sechzigtausend Rekruten ausgehoben wurden? Daß man die Reservedienstpflicht von fünf auf sieben Jahre erhöht, die Stärke der Regimenter verdoppelt und sogar noch zehn neue kostspielige Kavallerieregimenter eingestellt hatte? Mußte denn auch gleich die neue Heeresmacht ausgenutzt werden? Blut und Eisen, jawohl, aber Handel und Wandel mußten darunter leiden. Was verschlang solch ein Heer, solch ein Krieg für schönes Geld! Dafür hatte man wahrhaftig nicht seine paar Sparpfennige auf die hohe Kante gelegt. Aber der von Bismarck sagte, wenn man ihm kein Geld gäbe, würde er schon sehen, wo er sich's nähme.

Und wenn es nun auch noch einmal »jut jejangen hatte mit dem Krieg«, Preußen gesiegt und seine Grenzen erweitert hatte, was lag an so ein paar Schnippelchen Land?! Wenn die Zeitungen auch posaunten vom Jubel beim Einzug der rückkehrenden Truppen, – wo jubelte man? In Berlin vielleicht – hier nicht. Und was auch geschrieben wurde von der großen Armee, »furchtbar im Krieg, edel nach dem Sieg«, von der Volksarmee – das deutsche Volk hatte gar nichts damit zu tun. –

Mancher Bürger blieb in solche Gedanken versunken stehen, mitten im lebhaften Marktgetriebe, und schaute mürrisch zu den dürren, rasselnden Kränzen am Rathaus hinauf. Wäre auch Zeit, daß die heruntergenommen würden, verschimpfierten ja die ganze Fassade.

Die Marktpolizei schritt durch die Reihen und schnüffelte in die Körbe; einer zeternden Bauernfrau wurde ein Korb konfisziert – hier noch einer, dort noch einer – fort mit den Cholerapflaumen!

Das Publikum blickte unwillig: die armen Weiber! Cholerapflaumen? Ach was, die Cholera kam von was ganz anderm, die paar Pflaumen verschlimmerten nicht mehr viel daran. Eingeschleppt war die aus dem schlechtbeköstigten Heerlager, aus den schmutzigen böhmischen Dörfern, vom wüsten Schlachtplan, dem von Gewittergüssen durchweichten Acker und aus den überfüllten Lazaretten. Die Cholera schlich dem Krieg nach als sein Schatten.

Das unheimliche Gespenst der Seuche machte sich plötzlich auf dem Markt breit, mitten im hellsten Sonnenschein, und ließ sein düsteres Gewand zwischen den Körben und Kiepen schleppen, überall fanden sich Bekannte zusammen, die einen neuen schrecklichen Fall besprachen: in einem der alten Häuser mit den engen Höfchen hatte die Cholera sämtliche Bewohner ergriffen.

Eine dicke Dame, die den Longschal nachschleppte, und von einem Dienstmädchen gefolgt wurde, das den Korb trug, schlug die Hände zusammen: »Och Gott, och Gott, ne, et is heutzutag ja gar kein Pläsier mehr zu leben!«

Viele Bürger sahen der Lamentierenden nach. Da war manch einer unter ihnen, der die behäbige Dame schon gekannt hatte, als sie noch, jung und ledig, bei den Eltern im »Bunten Vogel« trällerte und noch nicht den Feldwebel Rinke geheiratet und sich in der Kaserne hatte plagen müssen. Das sah man der wahrhaftig heute nicht an, daß sie soviel durchgemacht hatte: damals, neunundvierzig, der Mann sich erschossen, und der Sohn, der Wilhelm, ausgewiesen und verschollen! Ja, ja, Zillges' Trina hatte einen guten Docht, aber freilich, – wenn man schon an die sechzehn Jahre Madam Schnakenberg heißt, das konserviert! Keine Sorgen und ein neues Haus in der Königsallee.

Ja, die hatte ihr Glück gemacht! Der Schnakenbergs Hendrich war ein guter Mann; schon als sie noch Mädchen war, hatte der sie poussiert, und als er nun bald nach des Feldwebels Tod Witwer wurde, da paßten der Witwer und die Witwe ganz schön zusammen. Und was der Schnakenberg immer noch für Geld verdiente! Rheinische Industriepapiere, Bergwerksaktien und Köln-Mindener Eisenbahnprioritäten warfen von Jahr zu Jahr mehr ab. –

Frau Trina war mit ihrem Los zufrieden. Wenn mir der »Verdruß« mit den Kindern nicht gewesen wäre! Auf die Wiederkehr ihres Wilhelm hoffte sie immer noch vergebens. Und mit der Josefine, das war doch auch ein »Angang«, daß die nun schon Witwe war und mit den Kindern dasaß. Und nun gar der Ferdinand, dem sie im Krieg das eine Bein abgeschossen hatten!

»Och Gott, och Gott!«

Ein Schatten flog über Frau Schnakenbergs rundes Gesicht, und ihr freundlicher Blick trübte sich. Da zupfte das Mädchen sie: »Madam, se verkaufen bald den letzten Has!«

»O je! 'schwind, Drückche, 'schwind!« Ganz entsetzt fuhr Frau Schnakenberg auf, alles andre vergessend. Wenn sie nun keinen leckeren Hasen mehr bekam? Der Ferdinand, der morgen aus dem Mainzer Lazarett wiederkommen sollte, würde freilich nicht bei ihr wohnen, sondern bei der Josefine, aber zu einem guten Mittagessen wollte sie ihn doch gleich einladen. Hatte er doch lange Jahre nur »Kasernenfraß« gehabt! Die Mehlsuppen auf der Militärschule, der ewige Reis in der Unteroffiziersmesse, und nun erst gar das verschimmelte Brot im Krieg und zuletzt die magere Lazarettkost! Dem sollte es jetzt bei der Mutter gut schmecken.

Und mit Schaudern dachte sie plötzlich an die knappen Mahlzeiten in der Feldwebelwohnung zurück, und wie sie sich nur im »Bunten Vogel« dann und wann hatte regalieren können. Ein Jammer, daß der »Bunte Vogel« nicht in der Familie geblieben war, daß die alte Frau ihn gleich damals, in dem Unglücksjahr, verkauft hatte. Mit Verlust natürlich, die Enkel hatten nur eine Kleinigkeit gekriegt; die Hauptsumme war dem Klösterchen zugefallen, wo sich Mutter Zillges hatte verpflegen lassen bis an ihr seliges Ende.

Du liebe Zeit, was war das alles schon lange her! – –

Und doch war es eigentlich, als sei alles erst gestern gewesen. Die Jahre waren einförmig über Düsseldorf hingerollt. Siebzehn lange Jahre – man schrieb heut achtzehnhundertsechsundsechzig – aber das Bild der Stadt war dasselbe geblieben. Ein paar neue Straßen vielleicht dazugekommen, aber auch sie harrten noch, ungepflastert, der letzten vollendenden Hand. Große Pläne ruhten zwar im Rathaus: der Stadtrat überlegte den Bau einer festen Rheinbrücke, auch von einem neuen Theater war schon einmal die Rede gewesen. Doch erst mußte man den Krieg verdauen, der einem so über den Kopf gekommen war, unerwünscht wie ein Schneesturm im Mai.

Noch guckte der alte Jan Willem am Markt auf das alte Theater, noch hatten die Maler ihre Akademie im linken Flügel des alten Schlosses, noch behalf sich die evangelische Gemeinde mit den zwei in engen Höfen versteckten Gotteshäusern. Und längs der Kasernenstraße dehnte sich noch immer der einförmige Bau der Kaserne, von deren Mauern schon Putz abfiel.

In denselben sauberen, behäbigen Häusern saß noch dieselbe saubere, behäbige Bürgerschaft wie damals; über den Klingeln standen noch dieselben Namen wie früher. Dieselben mächtigen Glocken riefen von Sankt Lambertus und Sankt Andreas, von der Jesuiterkirche und der Maxpfarre. Aber da mengten sich jetzt noch neue, dünnere Stimmchen ein: es bimmelte von Klöstern und Klösterchen. Deren Zahl war gewachsen.

Auch die Bäume waren gewachsen: die Kastanien der Königs-Allee breiteten gewaltige, schattende Kronen, die Linden am Schwanenmarkt sandten ihren süßen Duft weit, und wanderte man über die Alleestraße zum Hofgarten, so blieb man unausgesetzt unter einem grünen Dach. Der Hofgarten selber war ein dichter, dunkler, heimlicher Wald.

»Ach, was die Bäume gewachsen sind!« Das war auch Josefines einziger Gedanke gewesen, als sie nach Jahren zum ersten Male wieder altbekannte Wege wandelte. Sie war wie betäubt; sie hatte gar nichts anderes denken können, als immer nur: »Ach, die Bäume, die Bäume!« Die waren wie die Menschen. Die sie jung gekannt hatte, standen nun in der Vollkraft des Lebens, Bäumchen waren emporgeschossen zu Bäumen, und wiederum schlanke Bäume hatten sich in knorrige Stämme gewandelt. Nicht jeder Baum war mehr da, sie vermißte hier einen und dort einen; sie hatte gar nicht gewußt, daß sich ihr eines jeden Standort so eingeprägt hatte.

Josefine war als Witwe zurückgekehrt. Im März des vergangenen Jahres hatte sie ihren Mann verloren. An einer Lungenentzündung war er gestorben. Nun hatte Josefine neben den Kindergräbern ihrer beiden kleinen Mädchen, die ihr die Diphtheritis genommen, draußen auf dem Vohwinkler Kirchhof noch ein drittes, ein großes Grab.

Es war ein trauriges Jahr, das die Witwe noch in ihrem Vohwinkler Häuschen verbrachte. Sie wußte nicht, sollte sie fortgehen, sollte sie hierbleiben. Die Mutter schrieb: »Komm doch hierher!«, Bruder Friedrich, der in Essen bei Krupp angestellt war, meinte: »Du wirst doch wieder nach Düsseldorf ziehn?«

Gewiß, das wäre natürlich gewesen. Auch regte sich eine leise Sehnsucht in ihr; aber sie konnte sich doch nicht dazu entschließen. Der Vater tot, die Mutter an einen andern Mann verheiratet – war es nicht besser, hierzubleiben, wo alles sie an siebzehn friedliche, ruhige Jahre gemahnte? Wo der Apfelbaum im Gärtchen, in dessen Schatten sie all ihre Kinder gewiegt, reiche Blütenknospen zeigte und so viele der rotbackigen Früchte verhieß, an denen Conradi sich immer von Herzen delektiert hatte?

Und sie blickte zurück in ihre Ehe.

Anfangs hatte sie oft Heimweh gehabt, manchen Abend vor der Tür gestanden und sehnsüchtig weggeschaut über die Felder. Und hatte geseufzt.

Aber dann wurden die Kinder geboren, – erst der Peter, dann das Gretchen, dann das Mariechen und zuletzt, als die beiden blonden Mädchen schon wieder Engel geworden waren, noch der Fritz, des Onkels Friedrich Patenkind. Ihre Tage waren ausgefüllt gewesen.

Doch nun, da sie einsam im Ehebett lag, wenn der Frühlingssturm mit Sausen durch die Nacht fuhr und schaurig gegen die Fenster der Schlafkammer heulte, mußte sie so sehr an die Vaterstadt denken. Ach, wenn sie wieder altbekannte Straßen gehen, die Kaserne wiedersehen, mit der Hand an diesen Mauern entlangstreichen könnte, die ihr einst ein großes Glück umschlossen! Ja, heim, heim – der Rhein rauschte, Glockenstimmen riefen.

Eine wahre Begier überkam Josefine, ihre Fingerspitzen in das Weihwasserbecken an der Tür von Sankt Lambertus zu tauchen, wie sie's als Kind oft getan. Ob endlose Prozessionen noch ebenso wie früher durch die Straßen wallten und um den Kalvarienberg bei der großen Kirche zogen? Berückende Musikklänge – betäubende Weihrauchnebel – betendes Murmeln – alt-köstliche Kirchengewänder – feuriges Rot der Chorknaben, unschuldvolles Weiß der Mädchenengel, strahlendes Gold der Stolas – wie würden der Peter und der Fritz da gucken! Besonders der Peter, der sah so gern was Schönes. Die armen Jungen, die kannten ja nur die nüchtern getünchte Vohwinkler Kirche, in die sie regelmäßig mit dem Vater gegangen waren.

So reifte allmählich der Entschluß der Übersiedlung in ihr. Bruder Friedrich stand ihr bei, was sie nicht mitnehmen konnte oder wollte, verkaufte er ihr.

Er war ein rechter Praktikus. Das hatte wohl keiner gedacht, wie er damals als Junge zum Schlosser in die Lehre kam, daß der's mit seinen krummen Beinen noch einmal so weit bringen würde. Nun war er schon mehr als ein gewöhnlicher Arbeiter, und der Krupp bezahlte ihm guten Lohn. Sogar gespart hatte er sich schon, und er wollte es gern der Schwester vorstrecken, wenn sie einen Laden in Düsseldorf aufmachen wollte. Josefine fiel bei diesem Anerbieten eine Last vom Herzen: Gott sei Dank, dann brauchte sie von der reichen Madam Schnakenberg nichts anzunehmen! Nicht, daß die Kinder der Mutter böse waren, aber etwas Fremdes war da.

Im Mai bezog Josefine das Lädchen an der Straßenecke, gerade der Kaserne gegenüber – wo konnte es denn auch anders sein? Der Friedrich half es ihr auch einrichten mit allerlei zum Soldatengebrauch: Pfeifen und Tabak, Zigarren und Streichhölzern, Taschentüchern und Reservistenstöcken, Seife und Wichse und jeglichem Putzzeug, auch mit Knopfgabeln und mit Tinte und Briefpapier. Und er machte ihr auch Mut.

Auf dem Posten sein, ja, das wollte sie; hatte sie sich doch schon Gedanken gemacht, ob sie mit der geringen Pension und den bescheidenen Zinsen ihrer paar hundert Taler großmütterlichen Erbteils in der teuren Stadt bestehen könne.

Von Dank für alle seine Mühe und Arbeit wollte der Friedrich nichts wissen, auch nicht für das der Schwester vorgestreckte Kapital. »Du gibst et mir ja wieder, Fina, paß auf, in ein paar Jahr! Zinsen kannste mir ja zahlen, Geschäft is Geschäft. Ich rechne so: Krieg kriegen wir diesen Sommer sicher, dann sollste sehn, dann geht et dir im kleinen, wie dem Krupp im großen. Rückt die Armee in't Feld, braucht se Ausrüstung, un ob et nu Stiefelschmier is oder en Kanon' dat bleibt sich egal.« –

Friedrich hatte recht gehabt. Als Josefine heut am dunklen Herbstabend ihr kleines Lädchen schloß und die Kasse nachzählte, konnte sie zufrieden sein. Man hatte ihr fast den Laden gestürmt. Die letzten Reservisten waren entlassen worden, keiner unter ihnen hielt den Ausmarsch aus der Garnison und den Einmarsch in die Heimat für möglich, ohne Stock in der Hand. Und bunte Sacktücher – gelb mit roten Rändern, die Schlacht von Königgrätz schwarz draufgedruckt – war sie eine Menge losgeworden; das waren schöne Andenken für die Mitdabeigewesenen und interessante Anblicke für die Zuhausgebliebenen.

Die müde Frau pustete die Lampe aus, die über der kleinen Theke von der Decke herabhing. Es war schon spät, aber noch bis vor kurzem hatte die Türglocke gebimmelt; jetzt endlich war Zapfenstreich geblasen und alles still geworden. Die Kaserne drüben streckte sich dunkel, nur in der Wachtstube flinzelte noch Lichtschein.

Es war Josefine eine Freude, daß die Hauptwache nicht mehr wie früher am Burgplatz, sondern hier gerade gegenüber war. So genoß sie täglich das militärische Schauspiel, und nachts auch weckte sie das »Heraus« beim Nahen der Ronde. Dann lag sie lauschend mit gefalteten Händen, hörte, wie die Wache ins Gewehr trat, und fühlte sich nicht mehr verlassen.

Mit heißen Wangen stieg Josefine die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Im ganzen Haus war's schon dunkel, nur in der Kammer, die ihre Knaben innehatten, brannte noch Licht.

Sie guckte hinein. Der Kleine schlief, aber Peter saß noch über den Tisch gebeugt und hörte die Mutter gar nicht.

Ärgerlich trat sie näher: gewiß pinselte der wieder! Ob er denn seine Schulaufgaben auch fertig hatte? Sie sah ihm über die Schulter: herrjeh, das war ja der Kalvarienberg an der Lambertuskirch! Genau so sah der Gekreuzigte dort aus, wie hier auf dem Blatt. Nun konnte sie doch nicht mehr böse sein, er hatte das so schön gemacht.

Leise legte sie ihm die Hand auf. Da schrak er zusammen und ließ den Tuschpinsel fallen. Rot werdend, streckte er beide Hände über seine Malerei: »Gleich, gleich, Mutter, gleich mach ich ja schon meine Aufgab, schimpf nit!«

Was? Noch nicht die Schularbeiten gemacht? Das war ihr doch außerm Spaß. Zornig hob sie die Hand zum Schlag, aber Peter fing die auf und hielt sie fest. Bittend sah er ihr ins Gesicht. »Ärger dich nit«, schmeichelte er. Ich kann doch nix dafür! In Vohwinkel war nit viel zu sehen, aber hier so viel, och, schrecklich viel! Bilder in allen Schaufenstern.« Seine Augen leuchteten auf. »Kuck mal, is dat nit fein?« Er hielt ihr vergnügt lachend sein Blatt hin. »Un nu mal ich noch dat alte Schloß, un den Rhein – dicke schwarze Wolken drüber, un en Stücksken Blitzblau dazwischen – ich hab et so gesehen. Dat war schön! Kauf mir doch noch en Tuschkasten, aber en besseren, Mutter, bitte, so 'n richtigen Farbkasten. Bitte, Mutter, bitte!«

»Ne«, sagte sie, »da denk ich ja gar nit dran, dann tuste für die Schul rein nix mehr.«

»Och, die Schul«, stieß er heraus und hob mit einem Ruck den Kopf. Wat soll ich denn noch da? Nimm mich doch raus, Mutter, da lern ich ja doch nix. Kauf mir lieber en Farbkasten, ich will Maler werden!«

»Unsinn«, sagte sie. »Leg dich hin und schlaf! Morgen weck ich dich ganz früh, dann lernste noch.«

»Aber en Farbkasten schenkste mir«, bettelte er, »en Farbkasten, Mutter, tu et doch! Bitte, bitte!«

»Nein«, sagte sie und ging aus der Tür. Aber ihr Herz klopfte.

Woher der Peter nur die Lust am Malen hatte? Von Conradi nicht; von ihrem Vater sicher auch nicht. Von ihr selber auch nicht, sie konnte ja keinen geraden Strich machen. Aber verstehen konnte sie ihn. Und doch würde sie ihm keinen Farbkasten schenken. »Erzieh die Kinder zu was Ordentlichem«, hatte Conradi noch in letzter Stunde mit verlöschender Stimme gesagt – – ach Gott, der Junge hatte zu früh seinen Vater verloren!

Heute schlief Josefine lange nicht ein, trotz aller Müdigkeit. Sie wußte, nebenan in der Kammer lag ihr großer Junge im Bett und weinte wie ein kleines Kind. Er fühlte so lebhaft, den Schmerz ebenso wie die Freude. Er war ja ganz ihr Sohn.


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