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Erstes Kapitel

»Seht ens an!« rief die Weise-Frau.

Sie trat, das in ein buntes Steckkissen eingebündelte Neugeborene auf beiden flachen Händen hinhaltend, es so gleichsam präsentierend, an das Bett, in dem die Mutter auf rotgewürfeltem Kissen unter einer einfachen, grobhaarigen Decke lag.

»Seht ens an, Madam Rinke, is dat nit en staats Mädche?!«

Die junge Frau, die bis dahin mit geschlossenen Augen gelegen hatte, rührte sich. Ihr rundes, vollwangiges Gesicht, dem nur die Angst der letzten Stunden ein wenig die Farbe genommen, lächelte.

»Och ja«, sagte sie erfreut und rückte sich, um ihr Kind besser besehen zu können. Es war ihr erstes Kind. »Wat et für schrumplige Händches hat! Un alles so rot!«

»Rot?« wiederholte die Weise-Frau, förmlich beleidigt. »Rot?! Weiß is et, weiß wie Allebaster und Liljen. En Haut hat et wie Sammet. Ich han noch nie so en schön Kind geholt. Paßt ens uf, dat geht als Engelche mit bei de Prozession!«

Über das lächelnde Gesicht der jungen Mutter flog plötzlich ein Schatten, und sie stieß einen Seufzer aus.

»Gott steh mich bei, wat is dann noch zu seufzen?!« eiferte Frau Dauwenspeck. »Ihr hat et ja nu hinger Euch, Feldwebelin – un so en staats Mädche! Da könnt Ihr wohl in der Lambertskirch en Kerz für aufstecken!«

Die Frau Feldwebel sagte nichts dazu. Sie hatte wieder die Augen geschlossen, aber nicht um zu schlummern, unruhig warf sie den blonden, zerzausten Kopf hin und her.

Kopfschüttelnd trat die Dauwenspeck vom Bett weg ans Fenster: so eine echte Freude hatte die Feldwebelin doch eigentlich gar nicht. Am Ende weil es kein Junge, bloß ein Mädchen war. Der Preuß' würde sich's schon in den Kopf gesetzt haben: »'ne Jung« – no, natürlich! »Die Leut sind geck«, brummte sie und sah dabei nachdenklich auf das runde Köpfchen, das schwer und warm in ihrem Arm lag. Mit der freien Linken schob sie die Gardinen von der schmalen Fensterscheibe zurück. Jetzt, im hellen Licht des Sommertages, sah man erst recht, wie kräftig das Kind war hochgewölbt die Brust, der Schädel prächtig entwickelt. Entzückt schmunzelnd prüfte die Weise-Frau das Gewicht: allen Respekt, elf Pfund waren das sicher und gewiß!

»Als ob et immer 'ne Jung sein müßt«, brummte sie weiter, »Mädches sind auch wat nütz. Wat hätt de Adam dann allein auf der Welt gemacht? Pß – sß – bis still, du lecker Ditzchen!« Sie wiegte das kleine Mädchen, das, vom Sonnenlicht getroffen, zu niesen anfing, sanft schaukelnd hin und her, ihren rauhen Baß dabei zum Summen dämpfend:

»Heia Popinke,
Deine Mutter heißt Kathrinke,
Dein Vatter is 'ne Kappesbauer,
Kömmt de heem, da kukt de sauer.«

Im Bett rührte sich die Frau nicht mehr, sie war nun doch wohl eingeschlafen. An der niederen Balkendecke des weißgetünchten Zimmers summten die Fliegen; unruhig wirbelten sie um den Stock, der, mit Sirup beschmiert, vom Mittelbalken herabhing.

Es war heiß, Hochsommer. Jenseits des Exerzierplatzes, drüben überm Kanal, ballte sich eine dicke, dunkle Wolke mitten im lichten Blau. Die vereinzelten Bäume dort, wie aus steifem, grünem Papier geschnitten, standen starr. Auf den weiten, staubigen Platz prallte die Sonne; er lag ganz leer, kein Offizier übte mit seinem Pferd spanischen Tritt, kein Bursche ließ den Gaul seines Herrn an der Longe laufen, auch keine Mannschaft exerzierte. Alles ausgestorben. Doch horch, jetzt eine Stimme:

»Achtung! Präsentiert das – Gewehrrr!«

No, der war ja wieder gut am Schimpfen, und hier oben war ihm doch ein Kind geboren! Eilig steckte Frau Dauwenspeck ihren Kopf mit der gebänderten Haube zum Fensterchen hinaus – richtig, da stand gerade unterm Fenster eine kleine Anzahl Rekruten, so ein paar Sündenböcke, und der Feldwebel lief vor ihnen auf und ab in der prallen Sonne und übte selber mit ihnen nach.

»Himmelkreuzsakrament, ihr rheinischen Dickköpfe, wozu sind euch denn die Tatzen an den Leib gewachsen? Immer man feste!«

»Achtung! Gewehr auf – Schulter!«

»Das Gewehrr – über!«

Frau Dauwenspeck neigte sich weit hinaus: »Feldwebel, he pst!« Mit beiden Armen streckte sie das Kind von sich und hob es zugleich ein wenig in die Höhe – so mußte er's sehen!

Er sah es auch. Einen flüchtigen Augenblick schaute er zum Fenster seiner Wohnung hinauf; über sein strenges, braunes Gesicht zuckte etwas wie ein Freudenstrahl, aber gleich darauf fuhr sein Blick wieder rollend über die Soldaten hin.

»Schlaft ihr? Ich werd euch lehren, die Kompanie verschimpfieren! Kopf hoch! Brust 'rraus! Bauch 'rrein!«

»Faßt das Gewehrr – an!«

»Gewehrr – ab!«

Die strenge Stimme tönte über den ganzen Platz und weckte ein hallendes Echo drüben in der stillen Leere jenseits des Kanals.

Indigniert zog sich die Dauwenspeck vom Fenster zurück und ließ sich pustend auf den nächsten Schemel fallen. Das war einer, nicht mal einen Moment kam er heraufgelaufen, sich sein Erstgeborenes anzusehen! Am frühen Morgen schon war er weggerannt, hatte sie mit dem armen Weib in aller Not allein gelassen. »Käthe«, hatte er nur gesagt und seiner Frau auf die Wange geklopft, »Courage! Du bist jetzt wie der Soldat vor der Schlacht – man los, man tapfer!« Ja, die Preußen! Die hatten kein Herz im Leib, die dachten nur an hauen und stechen und schießen!

Die Alte war sehr unzufrieden: da waren doch die Pfälzer und Österreicher, die in ihrer Jugendzeit, als Düsseldorf noch Festung gewesen, hier lagen, ganz andere Leute! Bei der Dame eines Pfälzer Offiziers hatte sie ihre allererste Entbindung gemacht; da hatte der Pfälzer gesprungen und gepfiffen und einen Zettel an seinen Obersten geschickt: der möchte ihn exküsieren, er könnte heut nicht zum Dienst kommen, seine Frau hätte ein Kind gekriegt. Und Wein hatte der bringen lassen und ein paar Kameraden geladen, da hatten sie auf das Wohl des kleinen Fräuleins getrunken. Und ihr hatte der lustige Herr einen harten Taler in die Hand gedrückt.

»Käthe« – schon allein, daß der Feldwebel »Käthe« sagte, war zum ärgern. Mochten sie in Preußen immerhin »Käthe« sagen, hier am Rhein sagte jedermann »Kathrina« oder »Trina« oder »Tring«. Der armen, jungen Frau so den christlichen Taufnamen zu verschimpfieren! Aber was konnte man von dem denn andres erwarten, der war ja ein »Lutherscher«! Der Bürger Zillges hätte auch besser getan, seine Tochter einem von hierzulande zur Frau zu geben, als dem, der dahergeschneit kam von Gott weiß wo, aus der Sandwüste Berlin. Aber die Trina war ja wie toll gewesen. Keiner hatte ihr bisher gut genug gedünkt; aber da trat eines Tages der Preuße in die Wirtsstube ihres Vaters »Zum bunten Vogel«, keck verlangte er ein Kännchen Bier. Seine Knöpfe blinkerten, die hohe Binde schnürte ihm fast den Hals zu, er hielt sich so gerade, als hätte er einen Zaunstecken verschluckt und – weg war die Trina. Ganz verschossen.

Ne, das hat keine Art: ein Preuß, ein Soldat, ein Ketzer! Wenn Düsseldorf nun auch schon leider Gottes seit über ein Dutzend Jahre zum Preußenstaat gerechnet wurde, man würde sich selber nie daran gewöhnen. Und so ein Preuße, so ein unverfälschter Berliner, der eben erst vor vier Wochen hier hereingerochen hatte, der sollte die Tochter aus dem »Bunten Vogel« freien?! Die ganze Ratingerstraße war darüber in Aufregung geraten. Und konnte man es dem Zillges verdenken, daß er herumging wie ein Ungewitter, und daß Mutter Zillges den teilnehmenden Nachbarinnen ihr bekümmertes Herz ausschüttete? Wer hätte gedacht, daß die Trina so eine halsstarrige Frauensperson wäre! Sie war doch immer so mollig, so schnuckelig, so ein bißchen bequem gewesen, und nun wollte sie auf einmal in den Rhein springen, wenn die Eltern ihr nicht den Feldwebel gäben. Sie weinte sich die Augen rot, saß immer oben am Kammerfenster hinter ihren vertrockneten Blumenstöcken und reckte nur den Hals, wenn ein soldatischer Tritt auf dem Pflaster dröhnte und groß und stramm der Feldwebel vorbeimarschierte, allein oder mit der Wache. Stolz ging er, den Schnauzbart gewichst ein stattlicher Kerl, das mußte ihm der Neid lassen! Mußte auch sein Handwerk verstehen, denn »Feldwebel«, das war doch mehr als ein gewöhnlicher Soldat; und alt war er auch noch lange nicht, vielleicht an die Dreißig!

Die Dauwenspeck wußte jetzt nicht mehr, wie es gekommen war, daß ihr Herz sich doch nach und nach für den Preußen erweicht hatte. Ach, hätte sie lieber nicht bei Mutter Zillges ein gutes Wort für den Preußen geredet, denn – die Alte starrte nachdenklich auf das in ihrem Schoß jetzt sanft schlummernde Kind – war die Trina glücklich geworden?!

Erst schien sie es freilich. Das war eine Glückseligkeit gewesen, als der Zillges den Preußen aufgefordert, näherzutreten. Trina hatte kein Wort dazu gesagt, aber den schönen Soldaten immer angesehen mit verschämtem Erröten, die blinkernden Knöpfe hielten sie gebannt; und als er sich verabschiedete, hatte sie ihm das Geleit gegeben auf den Hausflur, bis an die Haustür, und als er dort eben mal den Arm um ihre Taille legte, hatte sie den Kopf an seine Brust fallen lassen und war so eine ganze Weile verblieben.

Oha, die Dauwenspeck wußte das alles ganz genau, nicht umsonst wohnte sie dem »Bunten Vogel« gerade gegenüber. Sie hatte fleißig beobachtet, deutlich gesehen, wenn's auch schon dämmerte; und was da etwa fehlte, konnte sie sich leicht hinzudenken. Tagtäglich war er gekommen. Kein Wunder, so ein povrer Preuße, der nichts hat als seine paar Pfennig Löhnung – die Infanteristen waren doch die allererbärmlichsten, die Husaren in der Neustadt hatten wenigstens ein Pferd – der ließ sich's wohl sein im fetten Bürgerhaus! Die Frau Zillges kochte vorzüglich, so lecker, daß auch ein andrer als der hungerleiderige Preuße wohl schlecken mochte! Es dauerte nicht lange, und der Brautschleier wurde in Auswahl genommen, und die goldenen Ringe wurden bestellt bei Schmitz im »Blumenkörbchen«. Bald danach trug Zuckerbäcker Troost aus dem »Heiligen Apollinarius« in der Altstadt den Hochzeitskuchen in den »Bunten Vogel«, und ein Rudel Kinder lief hinterdrein, um den Krokantaufsatz mit dem Amörchen im Taubenwägelchen auf der Torte anzustaunen.

Die Trina war eine strahlende Braut gewesen. Ihr Gesicht glühte, als sie neben ihrem Feldwebel in die Kirche trat. Der stand stramm in der Paradeuniform. Aber Peter Zillges schien grauer geworden, und Frau Josefine Cordula duckte den Kopf; wie die armen Sünder schlichen die beiden Eltern hinterdrein. Das war nicht so leicht gewesen, das einzige Kind, auf das sie elf lange Ehejahre geharrt hatten, zur Trauung gehen zu sehen, denn weder die Glocken von Lambertus läuteten, noch von Sankt Andreas, noch von der Jesuiterkirche, noch von der Maxpfarre – die Trina hatte eingewilligt, ihre Kinder »lutherisch« werden zu lassen. »Denn«, hatte der Preuße gesagt, »Soldatenkinder müssen beten, wie ihr König betet«. Darauf bestand er, da halfen keine Vorstellungen. Herjemine, hatte der Zillges geschimpft die Kinder Ketzer? – Nie! Aber »na, denn nicht«, hatte der Preuße gesagt, »denn wird aber auch nicht geheiratet.« Was sollte der Zillges machen? Die Trina schrie und fing wieder an, mit dem Rhein zu drohen.

Ein kleiner Trost war gewesen, daß die Garnisonkirche, in der die Trauung stattfand, »Sankt Anna« hieß; da wurde auch gut katholisch drin gebetet, sie diente beiden Konfessionen. Und das mit den Kindern – ei, kommt Zeit, kommt Rat. So waren Feldwebel Friedrich Rinke und Jungfer Kathrina Zillges zusammengesprochen worden ohne Weihrauch, ohne Gesang – gar keine richtige Trauung, und doch war heute prompt, wie es sich gehört, das erste Kind einpassiert.

»Du arm Ditzchen!« Mitleidig schlug Frau Dauwenspeck ein Kreuz über Stirn und Brust des Neugeborenen. Das schöne Kind, Sünde und Schande, wenn seine Seele dereinst nicht selig werden sollte!

Ein schwerer Tritt drückte die Holzstiege nieder, die zur Feldwebelwohnung heraufführte – aha, nun kam er! Die Dauwenspeck setzte sich in Positur. »No«, wollte sie zu ihm sagen, »endlich!« Die Mutter Zillges hatte immer so eine dumme Scheu vor dem Schwiegersohn – i, warum nicht gar! Ein richtiges rheinisches Mundwerk ist einer Berliner Schnauze noch lange gewachsen. Der sollte sich nur mal trauen, sie – –

Sie fuhr zusammen; schon war er eingetreten. Ohne weiteres nahm er ihr das Kind aus dem Arm, hielt es vor sich und betrachtete es lange, ohne Wort. Ein Freudenglanz breitete sich über sein Gesicht, weich wurden seine strengen Züge.

Die Dauwenspeck sah ganz verdutzt drein, sie hätte es nicht für möglich gehalten: war doch ein verliebter Vater!

»Ein Prachtbengel«, sagte er endlich, und in stolzem Glück leuchteten seine Augen, »ein Prachtbengel!«

»En Prachtmädche, mit Verlaub«, sagte die Dauwenspeck. Aber sie sagte es nicht ohne Besorgnis – der würde ihr wohl bald den Kopf abreißen!

Sie hatte sich geirrt. Wohl flog's erst wie Enttäuschung über sein Gesicht, aber er faßte sich rasch: »Na, wenn schon! Denn also: ein Prachtmädel. Sie wird Preußen wackre Soldaten schenken.« Und er bückte sich und küßte sein kleines Mädchen.

Draußen fingen die Glocken an zu läuten, von Sankt Lambertus, von Sankt Andreas und wie die Kirchen alle heißen.

»Warum läuten sie denn so?« fragte die junge Frau, jäh aus dem Schlummer auffahrend.

Ihr Mann trat ans Bett; sich über sie beugend, nahm er ihre Hand in die seine. »Na, Käthe«, sagte er und klopfte ihre bleiche Wange – »na, Mutterchen?!«

»Warum – läuten – se – so?« wiederholte sie wie im Fieber.

»Na, Mittag!«

Mit einem Seufzer schloß die Müde wieder die Augen.

Und die Glocken der Stadt läuteten weiter. Zur Hochzeit des Feldwebels hatte keine einzige geläutet; jetzt riefen sie alle mit schallender Stimme, von all den vielen Kirchen und Kapellen, hoch und hell, voll und tief, über Straßen und Dächer, über Höfe und Gärten, in lautem, vielstimmigem Chor.

Sie begrüßten mit Freuden des Feldwebels Tochter: ein rheinisches Kind.


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