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Achtes Kapitel

Schnee, Schnee, überall Schnee. Die Bäume der Königsallee, die schon dicke, zum Aufplatzen geschwellte Knospen gezeigt, hatten alle Frühlingsträume vergessen; sie standen in Sterbehemden. Der weite Exerzierplatz war von einem Leichentuch überdeckt, kein Tritt schallte, kein Kommando ertönte.

Frau Trina seufzte fröstelnd, als sie am sonnenlosen Spätnachmittag beim Fenster saß. Auf ihrem Schoß lag eine alte Hose ihres Mannes. Das war eine mühselige Arbeit, den roten Vorstoß herauszutrennen; aber man konnte doch damit die Jungen nicht herumlaufen lassen wie gezeichnet. Immer wieder ließ sie die Hände sinken, zuletzt lehnte sie den Rücken an und schloß die Augen.

Aber sie nickte nicht ein, wie sonst wohl gern, eine bange Unruhe hatte sie heut zu keinem Schläfchen kommen lassen. Den ganzen Tag schon lag es ihr in den Gliedern – was wohl der Wilhelm machen mochte? Der arme Junge, hatte der gestern einen Sonntag gehabt! Es wäre kein Unglück gewesen, wenn der sich mal ein kleines Pläsier gemacht hätte, statt den ganzen Sonntagnachmittag hier in der muffigen Kaserne zu sitzen. Prügel hatte er dafür bekommen – Prügel!

Ein großer Zorn erhob sich in Frau Trinas Seele: mußte denn gleich zugehauen werden? Und immer geschnauzt. Ach, was war sie doch so dumm gewesen! Hätte sie doch lieber dazumal den Schnakenbergs Hendrich aus der Windmühl geheiratet, wie gut hätte sie's jetzt! Ein Kanapee und keine Sorgen. Dem seine Frau ließ es sich wohl sein. Ach, und es war doch auch etwas ganz andres, in einer Straße zu wohnen – mal Menschen zu sehen, nicht bloß Soldaten!

Seufzend stand sie auf und ging nebenan in die Schlafkammer. Da holte sie aus der Lade ihr Gebetbuch vor: wahrhaftig, ein Trost tat ihr not!

Sie schlug es auf. Wie das paßte: »Ich muß leiden und durch geduldige Ertragung der Leiden mich für den Himmel befähigen.«

»Ach ja!« Sie sank in die Knie vor der alten tannenen Lade und las, die Hände gefaltet, das Gebet an Maria um Geduld.

»Ich bedarf in meinen Leiden des Trostes zur Erleichterung, der Stärke zur geduldigen Ertragung derselben – beide suche ich bei dir, o schmerzvolle Mutter!«

Schmerzvolle Mutter! Die Tränen, die schon lange bei Frau Trina lose gesessen hatten, fingen an zu rinnen: sie dachte an ihren Wilhelm.

Draußen, jenseits des Flurs, trällerte Josefine in der Küche. Sie schrubbte die Dielen, daß Holzsplitterchen und schmutziges Wasser spritzten.

»Als der Großvatter die Großmutter nahm,
Da war der Großvatter ein Bräutigam –«

sang sie mit schallender Stimme, gerade als die Mutter ihr Büchlein wieder in die Lade verschloß.

Frau Trina horchte auf: die war ja so lustig?! Nun ging sie auch nach der Küche.

»Mit dir, mit dir in't Federbett,
Mit dir, mit dir in't Stroh –«

klang es übermütig weiter. Den Schrubber wie einen Tänzer vor sich haltend, drehte sich Josefine in der Küche; ihre Holzklumpen klappten, aber geschickt galoppierte sie auf dem feuchtglitschigen Boden.

»Dann sticht mich auch kein Federchen,
Dann beißt mich auch kein Floh!
Mit dir, mit dir –«

Schon fing sie wieder von vorne an, aber der ungeschlachte Tänzer kam ihr zwischen die Füße – er polterte hin – lachend flog das Mädchen auf die Mutter zu und faßte sie um die Taille.

Und dann sangen Mutter und Tochter, beide sich umeinanderwirbelnd, das alte Tanzlied und lachten dabei:

»Mit dir, mit dir in't –«

»Pst!« Josefine legte plötzlich den Finger an die Lippen – der Vater kam die Treppe herauf!

Frau Trina errötete. Wenn ihr Mann sie jetzt gesehen hätte! Der würde schön schimpfen! Der Tür abgewandt, machte sie sich am Herd zu schaffen, um ihr erhitztes Gesicht zu verbergen.

Aber der Feldwebel schaute heute nicht wie sonst zuerst zur Tochter herein, er ging gleich in die Stube. Krachend flog die Tür hinter ihm zu.

»Ach Gott, ach Gott«, seufzte Frau Trina. All ihre Kümmernisse fielen ihr auf einmal wieder ein. –

Rinke hatte die vergangene Nacht schlecht zugebracht; seine Frau atmete schon seit Stunden tief und gleichmäßig, da saß er noch wach im Bett. Die Nacht war finster, schweres Gewölk hielt den Mond verdeckt, nur als ein um weniges hellerer Fleck hob sich das Kammerfenster aus der Schwärze. Graute der Morgen denn noch nicht?

Es war ihm eine Erlösung gewesen, als der erste Frühschein überm Platz dämmerte. Längst ehe die Reveille ertönte, stand er auf, schlich aus der Kammer und wanderte mit großen Schritten rastlos in der eiskalten Stube auf und ab, bis Josefine erschien und noch ganz verschlafen fragte, ob es denn schon so spät sei?

Die Mehlsuppe schmeckte nicht, mit einem förmlichen Widerwillen hatte der Feldwebel den Napf von sich geschoben – der Junge, der Junge, der lag ihm auf dem Magen. War er nicht doch zu streng gegen den gewesen? Ah was, Strenge muß sein! Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es.

Feldwebel Rinke war heut unwirsch im Dienst gewesen, die Kerle wurden angeschnauzt; als er die zehntägige Löhnungsberechnung ins Löhnungsbuch eintrug, verschrieb er sich. Beim Mittagessen wußte er nicht, was er aß; gleich danach ging er wieder fort, es litt ihn nicht in der Stube.

Als er mit dem Hauptmann auf dem Kasernenhof hin- und herpendelte und den täglichen Rapport abstattete, hatte er sich auf sonderbaren Zerstreutheiten ertappt; seine Gedanken waren immer abgeschweift. Er ärgerte sich, daß er das Denken an den Jungen nicht lassen konnte. –

Nun war sein Dienst soweit zu Ende, er hätte sich ruhig hinsetzen können zu seiner Zeitung, aber sie hatte heut kein Interesse für ihn. Aus der Küche hörte er das unterdrückte Kichern von Josefine und seiner Frau – warum lachten die nicht laut heraus? Warum war plötzlich das Singen verstummt, als er die Treppe heraufkam? War er denn so fürchterlich, daß alle ihn scheuten?!

Verdrießlich lief er auf und ab, unruhig, mit knarrenden Stiefeln.

»Au weh«, sagte Frau Trina draußen, »er is noch immer schlechter Laun!« Keiner traute sich in die Stube.

Der Feldwebel blieb allein. Und wie das Licht des Tages immer mehr und mehr erlosch, fing er an, sich einsam zu fühlen. Gähnend stand er am Fenster und trommelte einen Marsch auf die Scheibe. Ob er mal zum Meister Pickardt hinging und nach dem Jungen fragte? Er nahm seine Mütze vom Nagel und gürtete das Seitengewehr um.

Josefine, die den Vater fortgehen hörte, wollte ihm nacheilen, aber die Mutter hielt sie zurück.

Der Mond stand überm Hof, ein rundes, bleiches Riesengesicht, als der Feldwebel aus der Tür trat. Die Straße war von Mondschein überzittert, die Lämpchen der Laternen glimmten dunkelrötlich gegen dies blauweiße Licht.

Bei Meister Pickardt in der Kapuzinergasse hatten die Gesellen bereits Feierabend gemacht, nur er selber saß noch auf dem Tisch unter der qualmenden Öllampe und stülpte einen Waffenrockkragen. »Dat is en Leid mit den Gesellen«, klagte er, »heutzutag will keiner mehr en Stund über arbeiten. Dat lernen se von Pariß, dat kömmt mit der neuen Mod. En schlimme Zeit!«

»Meister«, sagte der Feldwebel, und trat zugleich mit seinem Anklopfen ein, »ist mein Junge da?«

»Ne.« Der Schneider legte die Arbeit nun auch hin.

»Wo ist er denn? Können Sie mir's sagen?«

»Wer – der Willem? Na, der is ja doch bei Ihnen!«

»Bei mir?!«

Meister Pickardt hatte fertig zusammengepackt, nun hob er den Kopf: der Feldwebel hatte so etwas Eignes im Ton, etwas Ängstliches. Über die Brille weg sah er den an: »No, wat is dann? Diesen Morgen früh kam der Jung mit sei'm Bündel un sagt, er tät sich krank fühlen, er wollt en paar Tag no Huus gehn.«

»Krank – nach Haus? – Warum in drei Teufels Namen hat Er den Bengel denn laufen lassen?« Wütend brüllte der Feldwebel. »Hab ich Ihm nicht den Bengel in die Lehre gegeben?! Wie kommt Er dazu, ihn wegzulassen?«

»No, no!« Der Meister fing an sich zu ärgern: seine Soldatenzeit lag längst hinter ihm, er brauchte sich doch nicht mehr von dem Preußen anschnauzen zu lassen.

»Warum hat Er mir nicht sofort Meldung gemacht?«

»Wat geht mich dat an? Wenn der Jung nit in der Lehr bleiben will, laß hän laufen. Heutzutag hält mer keinen mehr.« Der Meister pfiff durch die Zähne. »Krank« – er kratzte sich – »freilich, dat sagen se immer. ›Adjüs‹, sagt' der zu mir und gab mir de Hand, ›adjüs so lang!‹«

Adjüs –! In des Vaters Ohren begann es zu sausen, und dazwischen hörte er eine heisre Stimme. An der Tür – auf der Schwelle hatte der Bengel gestanden: »Adjüs!« – Durchgebrannt war der!

»Marijosef!« rief die Meisterin, die aus der Küche herein gekommen war, und bekreuzigte sich, »schimpft nur mit! Der arme junge Mensch, wat sah de schlecht aus! Wie en Leich! ›Willem, wat is mit dich?‹ sagt ich gestern abend. ›Nix‹, sät hän, aber ich hört 'n schluchzen, als hän de Trepp eruf ging nach Bett.«

»Er ist nicht nach Hause gekommen«, murmelte der Feldwebel und starrte vor sich hin. Das kam ihm alles so rasch, das stürzte über ihn her – der Junge fort! Und die da, der Meister und seine Frau, die schienen noch seine Partei zu nehmen, heimlich Front zu machen gegen ihn, den Vater!

»Also de is nit no Huus gekommen?« sagte die Meisterin wieder. »O Jemmich! Wundern tut mich dat weiter nit. Dat war immer 'ne Angang für ihn, nach der Kasern zu gehn. Wat habt Ihr dann mit'm vorgehabt? Weiß Gott, wo de jetzt herumläuft, de arme Jung! Un die Kält noch bei der Nacht!« Mit großem Behagen malte sie ein Umherirren bei Nacht und Schnee aus. »Letzten Winter haben se auch 'ne junge Mensch gefunden, de auf 'ner Bank im Hofgarten eingeschlafen war – erfroren.« Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen: »Wat wird Euer Frau sagen! Lauft geschwind nach der Polizei, dat se'n suchen!«

»Unsinn!« Der Feldwebel nahm sich zusammen, das geschwätzige Weib sollte ihm nicht seine Unruhe anmerken. »Wird sich schon wieder einfinden. Wird bei seiner Großmutter hocken!« Und wie sich selbst beruhigend, wiederholte er noch einmal: »Bei seiner Großmutter – ich werd ihn lehren! Morgen tritt er wieder an. 'n Abend!« Damit ging er.

Die Meisterin schimpfte hinter ihm drein: »De Preuß! De hochmütige Kerl! Wat de wohl de arme Jung kuranzt hat! De Eisenfresser, de –«

»Still«, flüsterte ihr Mann und legte ihr rasch die Hand auf den Mund, »mach nit, dat ich Vedruß drum krieg!«

»A wat, Verdruß oder nit, ich werd mich doch wegen dem Preuß nit scheniere! Wann et ihnen nit gefällt, laß se machen, dat se aus Düsseldorf herauskommen, wir sind se als lang leid!« –

Rinke eilte durch die Gassen. Gleich neckenden Fingern streckte der Mond seine Strahlen nach ihm aus; als langer, fliehender Schatten zeichnete sich seine dunkle Gestalt von den weißen Hauswänden ab. Er lief, daß ihm der Atem ausging und die zum Wirtshaus wandelnden Bürger verwundert mit ihren langen Pfeifen nach ihm zeigten: warum lief der Preuße so? Sie brachten eine aufregende Frage mit an ihren Stammtisch.

Im ›Bunten Vogel‹ saßen die beiden Alten still beim Ofen, als der Feldwebel hereinstürmte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie seine hastigen Fragen begriffen – das Erstaunen, den Schwiegersohn bei sich zu sehen, hatte sie ganz übermannt – aber dann brachen der Großmutter fast die Knie vor Schrecken: der Wilhelm vom Meister fort, nicht in der Kaserne, davongelaufen? Nein, hier war er nicht! Mit zitternden Händen hakte sie ihren altmodischen Spenzer zu und knüpfte die Haubenbänder fester, sie wollte durchaus hinaus auf die Straße, den Wilhelm suchen.

»Jesus Maria, dat Jüngesken!« Bitterlich weinend umschlang sie ihren Alten und barg das Gesicht an seiner Schulter.

Unwirsch, verstört enteilte der Feldwebel, diese Tränen jagten ihn fort, sie waren lauter Anklagen: war er nicht doch zu streng gegen den Wilhelm gewesen?!

Die hochgegiebelten Häuser der Ratingerstraße reckten sich wie drohend vor seinen Blicken, von ihren Dächern flutete das Mondlicht und schoß blinkende Pfeile nach ihm. Er war wie ins Herz getroffen. Stöhnend faßte er sich nach der Brust. – –

Von der Kaserne tutete der Zapfenstreich, als Rinke sich ihr näherte. Es gellte ihm durchdringend in die Ohren:

›Zu Bett, zu Bett, ihr Lumpenhund',
Es schlägt die letzte Viertelstund' –
Zu Bett – zu Bett – zu Bett!‹

Der Hornist schloß mit einem verunglückten Trötrö. Der Feldwebel war an diesen Mißton gewöhnt, aber heute zuckte er zusammen. Sonst pflegte er um diese Zeit auch in's Bett zu gehen, aber heute, was sollte er im Bett? Er konnte ja doch nicht schlafen. Der Junge, der Junge! Suchend, mit Unruhe glitt sein Blick umher. Und dann – was sollte er der Mutter sagen?!

Ein paar verfrühte Fastnachtsgecken, die in spitzen Papiermützen zu einer Vor-Karnevalssitzung eilten, streiften an ihm vorbei. »Wat sühste schläch uhs!« grölte der eine und streckte ihm seine lange Nase von Papiermaché ins Gesicht.

Erschrocken fuhr der Versunkene zusammen, unwillkürlich legte er die Hand ans Seitengewehr. Mit lautem »Helau!« entsprangen die fröhlichen Gesellen.

Jetzt war die Straße ganz nächtlich still. Wie ausgeschnittene Silhouetten, scharf umrissen, hoben sich die Häuser in langer Reihe vom mondhellen Himmel. Und Sterne glitzerten und flimmerten, wie in einer bitter kalten Winternacht, und auf dem Pflaster blinkte es wie vor lauter Diamanten.

Donnerwetter, wie kalt! Der Einsame rüttelte sich in einem Frostschauer. Und dann machte er plötzlich kehrt, war mit wenigen Sätzen um die Kasernenecke und eilte weit ausholenden Schrittes die Mittelallee zum Hofgarten hinauf. Zum Hofgarten!

Wie hatte doch das geschwätzige Weib gesagt? – ›Da haben sie 'nen jungen Menschen gefunden, auf 'ner Bank eingeschlafen – erfroren!‹ Unsinn! Der Junge saß irgendwo warm; der wußte ja Bescheid, der war kein fremd zugewanderter Handwerksbursche! Und doch mußte der Vater immerfort an diese Worte denken; sie peinigten ihn.

Der Atem ging ihm wie Rauch aus dem Mund; es war kalt, und doch stand ihm der Schweiß auf der Stirn, als er den Hofgarten erreichte. An dessen Rand, in der Nähe des Eiskellerberges, stöberte er noch ein paar Rheinkadetten mit ihren Frauenzimmern auf; am Napoleonsberg traf er schon keinen Menschen mehr.

Ganz allein stand er auf dem Hügel und starrte hinunter zum Rhein; ein eisiger Hauch stieg von dort empor. Die Wellen im Sicherheitshafen rührten sich nicht, sie glänzten wie starres Metall. Doch jetzt, ein Knirschen, ein Plätschern, ein Glucksen – horch, klang da nicht ein dumpfer Ruf?!

»Wilhelm! Wilhelm!«

Es preßte dem Vater einen Schrei aus; laut hallte der Angstruf weit über den Rhein.

Noch einmal: »Wilhelm, Wilhelm!«

Und dann lief er hinein, quer über die verlassenen Schießstände weg, hinein in den großen Park, der stumm und geheimnisvoll seine Waldbäume ins kalte Mondlicht reckte.

Hier knackte noch der Schnee. Der Suchende irrte bald vom Pfad ab, aufs Geratewohl tappte er zwischen Stämmen und Gebüsch. Ein Glöckchen fing plötzlich an zu wimmern – aha, das kam von dem Nonnenkloster, das hinterm Hofgarten lag! Fast feindselig richtete sich sein Blick dorthin – all das Leid kam von denen, von den Nonnen, von den Pfaffen, von den Römischen! Die hatten einen Graben gezogen zwischen ihm und seinem Weib, über den sich keine Brücke schlagen ließ. Die hatten ihm auch seine Kinder abwendig gemacht. Bei der Josefine war's ihnen nicht gelungen, die hatte er ihnen abgejagt – aber beim Wilhelm, beim Wilhelm! Der hatte immer bei den Großeltern gehockt, heimlich katholisch mochte der wohl schon sein. Mochten die nun auch die Verantwortung für ihn tragen! Was ging ihn der Bengel noch an?!

Und doch rannte er weiter; er schrie nicht mehr, aber seine Augen suchten und suchten. Hinter jeden Busch spähte er. Am Hofgartenhaus, um die Landskrone, in den Anlagen längs der Jägerhofstraße standen viele Bänke, er suchte sie alle ab – aus keiner einzigen Bank saß der Ausreißer.

Immer weiter suchte Rinke in steigender Hast; es trieb, es jagte ihn etwas, sein Herz schlug gegen die Rippen, so hart, daß er das Pochen durch die Stille zu hören vermeinte. Einzelne Statuen tauchten auf zwischen bereiften Büschen, er entsetzte sich jedesmal beim Anblick der bleichen Gestalten. Eine Maus schlüpfte durchs dürre Laub, ein Nachtvogel schlug die Flügel; kaum Geräusche, und doch fing sein geschärftes Ohr sie auf – wo irrte sein Sohn?!

Der Mond ging allmählich nieder aus seiner Bahn; längst war es nicht mehr recht hell gewesen, nun wurde es dunkel. Der Vater machte sich nicht die Unmöglichkeit klar, jetzt, in der Nacht, in dem weiten Hofgarten den Knaben zu finden; der Gedanke, wie unwahrscheinlich es sei, daß dieser sich gerade hierher geflüchtet, kam ihm gar nicht – er suchte, suchte mit angstbeflügelten Schritten, alle Sinne fieberhaft erregt.

»Halt, wer da?!«

Ein militärischer Ruf belebte plötzlich die einsame Finsternis, Gewehrläufe blinkten auf, harte Tritte hallten auf gefrorenem Boden. – »Wer da?«

Ah –! Der Doppelposten vor dem Jägerhof!

Rinke stand, die Hand am leis klirrenden Seitengewehr: »Feldwebel Rinke, sechzehntes Infanterieregiment, neunte Kompanie!«

Die Wachen sahen ihn; jetzt machten sie kehrt und nahmen, Gewehr über, ihr ununterbrochenes Hin- und Herwandeln wieder auf.

Ah, sehr gut, Kerle hatten nicht geschlafen!

Rinke war wieder ganz bei sich. Blödsinn, hier herumzulaufen bei Nacht! Da war ja das Schloß; dunkel lag es auch schon, nur oben im breiten Mittelfenster des ersten Stockwerks war noch Licht. Man sah den Kristallüster blitzen. Ihre Königlichen Hoheiten, der Prinz und seine erlauchte Gemahlin waren noch auf.

Unwillkürlich stand der Feldwebel stramm; wie ein großes, strahlendes Auge grüßte ihn das hell erleuchtete Fenster.

Ruhiger ging er fort. Gleich einer sanften Tröstung nahm er noch einen Lichtschimmer von da oben mit auf den Weg.

Treue, Tapferkeit und Gehorsam – diese drei – und Pflichtgefühl und Ehre – aber die Ehre ist die größte unter ihnen!

Und war sein Wilhelm auch kein Soldat, als Soldatensohn mußte er wissen, was ›Ehre haben‹ heißt; er mußte es lernen. Nein – der Feldwebel schüttelte den Kopf – zu streng war er nicht gewesen, er hatte nur seine Pflicht erfüllt gegen sein Kind.

Nun hatte er Frieden mit sich selber gemacht, wie er wähnte. Er ging heim, sehr müde; ruhig zu schlafen gedachte er, aber jäh fuhr er auf nach kurzem, wildem Träumen. Er neidete seiner Frau den friedlichen Schlummer. Die lag mit gefalteten Händen, ein behagliches Lächeln um den Mund.

Noch vor dem Reveilleblasen weckte er sie. Länger konnte er's ihr nicht mehr verschweigen von Wilhelms Verschwinden. Seine Stimme klang gepreßt, von neuem fühlte er sein Herz pochen in peinvoller Unruhe. Und sie, was würde sie erst sagen?!

Aber gelassener, als er gedacht, nahm sie es auf; nur daß sie aufstand und sich zum Ausgehen anschickte. In den ›Bunten Vogel‹ wollte sie, da würde der Wilhelm schon sein.

Frau Trina war ihrer Sache sicher; hatte sie nicht am gestrigen Nachmittag all ihre Sorgen und Kümmernisse im Gebet an die schmerzvolle Mutter niedergelegt und dann noch am Abend vorm Einschlafen ihren Sohn den Schutzengeln empfohlen? Auch jetzt nahm sie sich noch die Zeit, bei der Lambertuskirche vorzugehen und vorm uralten Gnadenbild auf dem Pfarraltar den englischen Gruß zu flüstern.

Den Feldwebel litt es nicht zu Hause. Die qualvolle Ungewißheit ertrug er kaum mehr. Hatte Käthe recht, war der Junge inzwischen bei den Großeltern angekommen? Und wenn er nun nicht da war, was dann?! Er fühlte, wie ihm das Blut vom Herzen wich.

Noch war kaum eine Stunde seit dem Fortgehen Frau Trinas verstrichen, so machte er sich auch auf. über die morgendlich stillen Straßen eilte er, wie gestern durch die abendlich stillen. Aber wenn der Junge nun nicht im ›Bunten Vogel‹ war?! Verdammt weit der Weg dorthin!

Er klingelte leise, fast zaghaft an der noch geschlossenen Tür. Die Großmutter öffnete ihm. Ihre Haube war zerdrückt, ihr weißes Haar erschien noch weißer im Morgengrau. Ihr Gesicht so runzelig, so überwacht – und doch sah er's auf den ersten Blick: der Junge war da! Mit einem tiefen Aufatmen trat er ein.

Als wäre die alte Frau dem Schwiegersohn nie böse gewesen, so faßte sie jetzt seine Hand und leitete ihn zur Treppe, die dunkel und steil ins Obergeschoß führte. Flüsternd berichtete sie: Mitternacht war's gewesen, sie und ihr Peter hatten in aller Angst noch wach in der Wirtsstube gesessen, da hatte es leise ans Fenster gepocht. Da hatte er draußen gestanden, furchtsam, totenblaß und ganz verfroren. Die Zähne hatten ihm geklappert; und verhungert war er gewesen, halb ohnmächtig vor Leere im Magen. Er hatte ja keinen Pfennig Geld gehabt, und umhergeirrt war er wie ein gescheuchtes Tier.

»De arme Jung!« sagte die Großmutter mit einem gerührten Lächeln und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Un dann hab ich'n in unser Bett gelegt, in sei'm kleine Kinderbettche kann er doch nit mehr schlafen, un da« – ganz behutsam öffnete sie die Kammertür – »da schläft hän noch!«

Den Atem anhaltend, trat der Feldwebel ein. Da war das alte Ehebett mit dem Kattunhimmel und der Muttergottes darüber; durch das ausgebaute Fensterchen schaute das fahle Morgenlicht und fiel gerade auf den Schläfer. Dieser hatte eine hohe Röte auf den Wangen und einen unruhigen Atem. Seine eine Hand lag geballt an der Wange, die andre wurde von der Mutter gehalten.

Frau Trina saß am Bett mit glühendem Gesicht; jetzt winkte sie ihrem Mann zu – hatte sie nicht recht gehabt, hier war der Ausreißer?!

Hinter dem Kopfende döste der Großvater; er sah ganz verwittert aus, zum Verlöschen müde, er und Frau Cordula hatten ja kein Bett gehabt. Hier hatten sie gesessen die ganze Nacht und den Schlaf des Enkels bewacht.

Auf den Zehen, sein Seitengewehr behutsam an sich drückend, schlich der Feldwebel näher.

Der Schläfer rührte sich, seine Lippen murmelten Unverständliches; wie Angst huschte es über das hübsche Gesicht, die Brauen schoben sich zusammen, eine tiefe Falte bildete sich an der Nasenwurzel. Er riß seine Hand aus der der Mutter und tastete voller Unrast auf der Decke umher.

»Er is am träumen«, flüsterte die Großmutter.

»Bis still, mein Jüngesken!« Die Mutter liebkoste ihn und strich dem Unruhigen eine Locke aus der Stirn.

Der Junge schlug die Augen auf.

»Er is wach!« rief die Großmutter erfreut.

»Er is wach!« wiederholte die Mutter.

Auch der Großvater rappelte sich auf.

Aber keinen von ihnen sah der Erwachende. Da, wo der Vater stand, dahin richtete sich sein Blick. Seine Augen wurden überweit – nur einen Moment, dann preßte er sie schaudernd zu. Mit einem unartikulierten Laut, die Decke ganz über den Kopf ziehend, kehrte er sich ab gegen die Wand.


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