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Einundzwanzigstes Kapitel

Ein glücklicher Stern schien über dem kleinen Laden aufgezogen zu sein. Josefine konnte nicht in das allgemeine Lamento über schlechte Geschäfte einstimmen, obgleich auch sie die Teuerung der Lebensmittel empfand.

Der November hatte Düsseldorf eine neue Besatzung gebracht: das neununddreißigste Regiment, statt der alten Sechzehner, war eingerückt. Die lustigen Füsiliere füllten die Höfe und Blocks der Kaserne wie summende Bienen und schwärmten aus, um sich in der neuen Garnison heimisch zu machen. Und: Rinke – Rinke – ein Name, der den Sechzehnern sehr geläufig gewesen war, ging nun wie ein Vermächtnis auf die Neununddreißiger über. Rinke, einstmaliger Feldwebel – Josefine Rinke, Feldwebelstochter, hübsche Frau, bei der mußte man kaufen.

Und Josefine lächelte hinter ihrem Ladentisch und wußte ganz genau, was den Soldaten not tat. Der kleine Fritz half ihr schon getreulich; der Peter hatte desto weniger Sinn fürs Geschäft und der Ferdinand, ach, du lieber Gott! War es Faulheit, oder tat ihm sein weggeschossenes Bein wirklich noch weh? Er jammerte immer:

»Autsch, mein großer Zeh!« Seine Stimmung war erbärmlich, und als die grauen Wintertage kamen, wurde sie noch grauer.

Der Jammer ums verlorene Bein war nun doch nachgekommen, und zwar gründlich. So ein Krüppel zu sein, so ein hilfloser Schächer in den besten Mannesjahren! Er verwünschte Gott und die Welt.

Solange der Herbst noch Sonne gegeben, hatte er vor der Tür gesessen und sich den Rücken bescheinen lassen; da hatten die Kinder sich um ihn gesammelt, und die Frauen der Nachbarschaft hatten ihn poussiert. Jetzt fehlte ihm jede Zerstreuung; das Interesse der Leute an ihm hatte auch nachgelassen.

»Natürlich«, sagte er bitter, »jetzt vergessen sie, daß man seine Haut zu Markte getragen hat! Und dreizehn Taler Invalidenpension, was is denn das? Gar nix. Soviel wie mein Bein gewogen hat, müßten se mir in Gold geben, un dann wär et auch noch nich genug. Mein Bein, ach, mein Bein!«

In solcher Stimmung schmiß er mit seinem einzigen Stiefel.

Josefine hoffte auf das künstliche Bein, das ein bester Mechaniker für Ferdinand in Arbeit hatte. Sie setzten alle ihre Zuversicht darauf. Schnakenberg machte sich ein Gewerbe daraus, fast alle Nachmittag nach dem Schläfchen hinzuspazieren, um zu sehen, was ›sein‹ Bein machte.

Endlich kam es. Sie waren alle versammelt; Herr und Frau Schnakenberg waren extra dazu erschienen. Sie glaubten, der Ferdinand würde nun stracks laufen können, aber hilflos wie ein Kind stand er da und klammerte sich an den Tischrand.

»Jesus, is dat schwer!« stöhnte er, und der Angstschweiß brach ihm aus. Er vergaß ganz, sich beim Stiefvater zu bedanken; er war wie geschlagen.

»Nu, geh doch, probier doch mal, mein Jüngesken«, redete ihm die Mutter zu.

»Ich kann nit!«

»Der hat dat schlecht gemacht«, eiferte der Stiefvater. »Wahrhaftigens Gott, den Kerl verklag ich!«

Josefine bot dem Bruder ihren Arm zur Stütze, aber er stieß sie mit einem Fluch zurück und schloß die Augen. »Ach, wär ich lieber tot!« Er konnte ja doch nicht gehen.

Erschrocken schmiegte sich Fritz an die Mutter und lispelte ihr etwas ins Ohr; aber man verstand es doch in der betroffenen Stille: »Man kann doch gehn, man muß et nur erst lernen!«

Freilich, freilich, das hatte der Mechaniker auch gesagt! Nun fiel es ihnen ein. Schnakenberg tätschelte den Kleinen: »Wat de Jung schlau is! Wart, klein Männeken, wenn du zur Kommuni – wollt sagen: zur Konfirmation gehst, dann kriegste auch en golden Uhr von mir!«

Der Invalide rief den Knaben heran und küßte ihn in aufwallender Hoffnung. Ja, lernen! Dann ließ er sich helfen, das Bein abschnallen; für heute hatte er erst mal genug davon.

Josefine sah gerührt auf ihren Jüngsten; der hatte so viel von seinem Vater: die Ruhe, die Bedächtigkeit. Dann schaute sie auf ihren Großen, es deuchte sie, der war totenblaß geworden; nun verließ Peter plötzlich die Stube. Ein komischer Jung, der konnte so etwas gar nicht mit ansehen.

Sie ging ihm nach und suchte ihn. Oben in seiner Kammer fand sie ihn, da hatte er sich übers Bett geworfen und das Gesicht ins Kissen gedrückt. Als sie ihn rief, richtete er sich auf und sah sie verstört an.

»Aber, Jung«, sagte sie, »wat haste nu schon wieder?«

»Hu, so häßlich! Ba, dat Bein, so eklig!« Er schüttelte sich.

»Wat is denn da eklig bei? Et is doch en Glück, dat der Onkel dat Bein kriegt.«

»Ja, ja – aber red nur nit mehr davon, et wird mir sonst übel. Huh, wie scheußlich, wie greulich!«

Er kam gar nicht mehr davon los; seine Augen hatten sich schreckhaft erweitert und starrten geradeaus, als ob sie das Grausen vor sich sähen.

»Du bis ja en Bangbüx, schäm dich«, sagte die Mutter.

Er hörte sie gar nicht, immer mit demselben starren Blick murmelte er: »So schießen se sich auch die Arm ab, die Augen aus, in den Bauch, in die Brust, in den Kopf, wo't trifft – Mutter«, sagte er dann plötzlich, wie sich besinnend, »komm du her, gib mir en Kuß! Dat is ja all dumm Zeug, ich will nit mehr dran denken!«

Er lachte, und sie küßte ihn und strich ihm die Haare aus der Stirn, die ihm immer wieder in einer vollen weichen Locke hineinfielen. Die Tränen traten ihm in die Augen, als er jetzt sagte: »Der arme Onkel!«

Der gute Junge! Wie hübsch er war und wie weichherzig! Was nur aus ihm werden sollte? Sie beschloß, bei nächster Gelegenheit mit ihrem Bruder Friedrich Rücksprache zu nehmen, der würde ihr schon raten; denn daß der Peter zum Januar von der Schule mußte, stand bei ihr fest Er kam doch nicht weiter, hatte nur Lust am Zeichnen und Malen. »Maler, Mutter, Maler!«

Ach, nun hatte sie's so klug zu machen gedacht, als sie nach Düsseldorf zog. Wäre es ihrem Peter nicht besser, sie säßen noch in Vohwinkel? Oder hätte er dort auch am Ende denselben Wunsch gehabt: Maler, nur Maler! Jetzt entsann sie sich, schon als kleiner Junge hatte er Männchen und Häuschen auf die Tafel gekritzelt, so kraklig wie andere Kinder auch und doch wieder ganz anders. Und wie konnte er sich freuen über eine schöne Blume, ein grünes Feld, über den Mond am Himmel und die roten Abendwolken!

Und ihr eignes Kinderentzücken fiel ihr ein über die blühenden Wiesen am Rhein, über die grünen Wellen, die vorbeizogen am alten Schloß, über die roten Dächer der Ratingerstraße, über den dunklen Kalvarienberg, an dem bunte Prozessionen vorbeiwallten – ja, der Junge hatte so unrecht nicht, hier konnte einer wohl Bilder malen! Man hörte ja auch soviel davon reden – Bilder, Bilder – und die Maler, die sie gemalt hatten, waren in aller Leute Mund. Das mit dem »Malen«, das lag hier in der Luft. Der arme Jung, wie sollte das noch werden?!

Ihr Herz bangte um ihn. – – –

Es war zu Beginn des neuen Jahres, als Onkel Friedrich aus Essen herüberkam. Er hatte nicht eher abkommen können; bei Krupp arbeitete man eifrig an einer Riesen-Gußstahlkanone für die Ausstellung in Paris. Alle großen Etablissements und Fabriken rüsteten jetzt Ausstellungsobjekte, die Weltausstellung in Paris war ein Gedanke, der alle geschäftlichen Unternehmungen beseelte.

Friedrich Rinke trug große Pläne. Er hoffte darauf, sich selbständig zu machen; freilich nicht heute und morgen, aber in Jahr und Tag vielleicht. Wenn ihm nur einer Kapital vorschießen wollte! Dann wollte er wohl zeigen, was man heutzutage in der Industrie vor sich bringen kann. Seine Zeit hatte er gut genutzt, und von allerlei Erfindungen, die er gemacht, war ihm schon eine patentiert worden. Mit einer bescheidenen Schmiede anzufangen, wäre auch keine Schande.

»Der Krupp hat et ja auch nit anders gemacht«, sagte er und betrachtete seine verarbeiteten Hände. »Ich bin ja auch noch nit alt; ich fühl mich jung genug, um in zwanzig Jahren mit dem Krupp zu konkurrieren. Wenn nit mit Kanonen, dann mit Eisenbahnschienen. Eisenbahnschienen, Eisenbahnschienen, die gehen noch mal um die ganze Welt. Die tragen weiter als Kanonen. Und, paß auf, sollten wer noch 'nen Krieg kriegen, dann aber! Wenn wir dann wieder siegen, dann rauchen unsre Fabriken aus sechs Schornsteinen anstatt jetzt aus einem, und unsre Hochöfen sind noch sechsmal so heiß wie jetzt. Paris, Paris – wat brauchen wir dann noch französische War? Un englische auch nit. Wetten?!«

Es fiel ihnen gar nicht ein, dagegen zu wetten.

»Och ja, der Friederich«, sagte Ferdinand mit einem Seufzer. »Krumme Bein sind immer noch besser als ein Bein.«

»Lassen wir doch mal den Peter 'ereinrufen«, bat Josefine. Es wäre ihr lieb gewesen, der hätte den Onkel so sprechen gehört, dann würde er vielleicht nicht mehr soviel Anstoß an dessen Beinen nehmen. Sie rief, aber nur der kleine Fritz, der unten auf den Laden paßte, antwortete. Peter war nicht da; weggelaufen.

»Er is nit da«, sagte Josefine kleinlaut.

»No, also Fahnenflucht!« schrie der Invalide. »Der feige Lümmel! Der muß jung bei 's Militär; Fina, ich sag dir, der soll mal in die Schlacht – Kugel rechts, Kugel links – die pfeifen nur so um die Ohren. Aber da gibt es kein Auskneifen. Courage muß der Mensch haben. Immer drauflos, marsch, marsch – man patscht im Blut, macht nix, immer voran! Ich sag euch, als wir die fränkische Saale überschritten, am zehnten Juli war et, wir machten den Übergang auf einem Balken – autsch, Donnerwetter!« Er unterbrach sich und faßte nach seinem Beinstumpf. Ein plötzlicher Schmerz, wie er ihn so oft durchfuhr, riß ihn an der großen Zeh. »Verfluchte Zucht!«

Friedrich lachte laut auf über des Bruders Gebaren; er machte sich immer einen Spaß daraus, wenn der andre mit seinen Kriegsgeschichten zu renommieren anfing. Aber Josefine lachte nicht mit; sie dachte an ihren Peter. Warum war er fortgerannt? Diesen Morgen noch, als sie ihm sagte, der Onkel würde heute kommen, um mit ihr über seine Zukunft zu reden, hatte er ihr versprochen, frei und offen mit seinen Wünschen und Plänen herauszurücken. Und nun war er doch fortgerannt! Aber da er nun einmal nicht hier war, mußte sie wohl für ihn reden. Und sie legte fest die Hand auf den Tisch und sagte schnell: »Der Peter will Maler werden.«

Friedrich lachte sein kräftiges Lachen: »Hoho, no ja, dat is so en Dummejungesidee!«

»Ne, ne«, ereiferte sie sich. »Er hat et sich in den Kopf gesetzt.«

Der Schlosser sah sie mit seinen klugen Augen an: »Un du bist auch schon halb dafür, ich seh et dir ja an. Fina, biste denn närrisch?«

Sie wurde rot und wußte nichts darauf zu entgegnen, denn jetzt, wo der Bruder ein Gesicht machte, wie: »Maler, puh, Verrücktheit«, fühlte sie, wie sehr sie dem Jungen die Erfüllung seines Wunsches gegönnt hätte. »So en Tollheit ist dat doch nit. Er hat Talent.«

»Talent?« Friedrich ereiferte sich gar nicht. »Ich will dir wat sagen, Fina, wenn du mich frägst, dann sag ich dir, laß den Jungen en Handwerk lernen. Handwerk hat en joldenen Boden. Und im Handwerk liegt unsre Zukunft. Nit, daß du denkst, er müßt nu immer mit den Fingern knüddelen, wie sie't früher gemacht haben von früh bis spät, bei en Talgkerz oder en Öllamp – ne, Gott bewahr! Handwerk, damit mein ich jetzt: Industrie. Wir haben jetzt Maschinen, Gott sei Dank! Wenn der Jung Talent hat, wie du sagst, dann laß 'n doch Mechaniker werden; Techniker meinswegen, dat klingt nobler, da kann er auch zeichnen.«

»Aber dat is doch nit Kunst«, sagte sie betroffen. »Er möcht doch Künstler werden.«

»Künstler, so!« Nun stieg Friedrich doch eine Röte in das von der ewigen Fabrikluft ein wenig bleiche Gesicht. »Ich sag dir, et is en ebenso große Kunst, en Maschin richtig im Gang zu bringen, en Geschütz zu montieren, en Schienenstrang zu legen, en Stollen zu bauen, als Bildches zusammenzuklecksen. Und wat fingen dann die Maler mit ihren Bilder an, den Ofen könnten se dermit heizen, wenn de Industriellen nit wären, die sie ihnen abkauften?! Un sag, weißte dann, ob der Jung' wirklich en groß Talent hat, en Talent, wo man auch wat mit verdient, oder ob er so en kleiner Schmierer bleibt, der hungern muß, solang er lebt?«

Josefine schwieg – ja, wer konnte das wissen!

Nun mischte sich Ferdinand ein. Talent hätte der Junge keins, nicht die Bohne! Und damit zog er aus der Tasche seines alten Militärrockes ein Papier, faltete es auseinander und legte es vor die anderen hin. »Hab ich gefunden – verflixter Bengel!«

Und nun räsonierte er: war das eine Art, daß der Bube ihm gleich auflauerte, wenn er einmal nebenan in die Wirtschaft ging, mit ein paar Kameraden ein harmloses Spielchen zu machen? War ihm die kleine Abwechslung nicht zu gönnen in seinem Jammerdasein? Nur Fratzen konnte der Bengel kritzeln. Keine Spur von Talent!

Auf dem Blatt, mit ein paar Pinselstrichen hingeschmiert, aber doch deutlich erkennbar, saß der Invalide bei Kartenspiel und Schnapsflasche. Rechts und links ein Kumpan. Die Nase, die dem Ferdinand in Wirklichkeit leicht rosig schimmerte, war hier zu einer Riesengurke angeschwollen und mit einem feuerroten Farbklecks verunziert. Ein übergroßes Maul hatte er aufgerissen, er erzählte wohl eben eine Heldentat. Darunter stand:

»Laß ab vom Kartenspiel, mein Sohn,
Denn wisse, jede Sünde rächt sich,
Verlor sogar ja Kron' und Thron
So mancher Fürst in – Sechsundsechzig!«

Der Invalide war wütend: woher wußte der respektlose Bengel, daß sie ihm kürzlich die ganze Barschaft abgenommen hatten?

Eine unbezwingliche Lachlust kam über Josefine. Wahrhaftig, der Ferdinand war nicht gut weggekommen, – der Peter, der freche Jung! – aber das Bild war zu komisch. Sie hielt sich beide Hände vors Gesicht und platzte laut heraus. Da humpelte der Invalide beleidigt aus dem Zimmer.

Auch Friedrich schmunzelte, aber er wurde gleich wieder ernsthaft. »Säuft der Ferdnand?« forschte er. »Spielt er Karten?«

Sie mußte es bejahen. Die Fröhlichkeit verging ihr. Noch Lachtränen in den Augen, sah sie den Bruder angstvoll an, und dann, von einem plötzlichen Impuls getrieben, ergriff sie seine Hand: »Och, du, Friedrich, sei so gut, dat der Peter wat Ordentliches lernt!«

Er zog sie an sich – von Zärtlichkeiten war sonst zwischen ihnen nicht die Rede – aber nun gab er ihr einen Kuß. Es durchschauerte sie seltsam, als wieder einmal bärtige Männerlippen ihre Wange berührten.

Sie blieben eine Weile ganz still, ohne ein Wort zu sprechen. Die frühe Winterdämmerung war schon da, im Grau verschwammen Kanapee und Tisch, Schrank und Stuhl, einzig die beiden kräftigen Gestalten waren noch scharf umrissen.

Jetzt klappte unten eine Tür, ein vorsichtiger Tritt kam die Treppe heraufgeschlichen; Josefine stürzte hinaus – das war der Peter!

»Du kömmst jetzt herein«, sagte sie ungewöhnlich streng und zog ihn hinter sich her in die Stube. Hier zündete sie die Lampe an, und nun sah sie, wie rasch er die Farbe wechselte, bald rot, bald blaß wurde, je nachdem, was der Onkel sagte. Wenn der Junge doch nur was darauf erwidern wollte! Sie nickte ihm ermutigend zu: »So sag doch wat!«

Aber er sagte kein Wort; den Kopf hielt er gesenkt, daß ihm die lockigen Haare in die Stirn fielen, und hörte alles still an.

Der Schlosser war ganz zufrieden: man merkte es ja, der Junge sah bereits ein, daß es mit dem Malerwerden Dummheit war, daß er etwas ergreifen mußte, was seinen Mann nährt. Er blinzelte der Schwester zu und drückte ihr, als er nach dem Abendessen Abschied nahm, bedeutungsvoll die Hand. »Pst, nu nit mehr viel drüber gered't, laß ihn jetzt gewähren! Ich schreib dir, sowie ich wat in Aussicht für ihn hab!« Und als er ihr bekümmertes Gesicht sah: »Vielleicht findet sich auch hier wat in der Stadt. Sei ruhig, laß mich nur machen!«

Der gute Friedrich, wie ein Vater sorgte er – aber ach, sie kannte ihren Jungen doch besser! Josefine seufzte. Der sah es noch lange nicht ein, der würde es vielleicht nie einsehen, daß es mit dem Malerwerden Torheit war. Immer wieder hatte sie ihren Peter ansehen müssen beim Nachtessen; es schmeckte ihm gar nicht. Immer hatte er auf seinen Teller gestiert, und das schöne Rot auf seinen Backen war ganz weg. Der arme Jung!

Als sie jetzt, spät am Abend, im Begriff, sich zur Ruhe zu legen, ein Knacken der Bettstatt und ein Rascheln des Strohsacks in der Nebenkammer hörte, schlich sie auf Strümpfen hinüber. Vielleicht, daß er sich nun in einem bösen Traum warf. Den Atem anhaltend, stand sie lauschend vor seinem Bett – schlief er? Licht anzuzünden wagte sie nicht; durch den Ladenspalt fiel nur ein spärlicher Mondschimmer, vergebens suchte ihr Blick sein Gesicht.

Jetzt murmelte er: »Die Fabrick, die eklige Fabrick!« Er stieß mit den Füßen. »Nit in die Fabrick!« Und jetzt stöhnte er laut auf, und es klang wie ein Schrei: »Mutter!«

Da hielt sie's nicht länger aus, sie tastete mit der Hand, bis sie sein Gesicht fand, und strich über seine Wange. Und er war gleich wach.

»Mutter, bist du't? Mutter, mach doch Licht an, et is ja so dunkel hier! Oh, ich hab geträumt, so eklig, so gräßlich« – er seufzte schwer – »Mutter, Mutter!« In einer großen Aufregung warf er sich hin und her, seine Stirn und seine Hände glühten. »Mutter«, sagte er plötzlich und packte sie fest an, »soll ich denn wirklich nit Maler werden?«

Sein Ton schnürte ihr das Herz zusammen. Seine unruhigen Hände in die ihren fassend, setzte sie sich zu ihm auf den Bettrand. Durch die Dunkelheit glitt ihre Stimme, weich wie Samt. Sie wiederholte ihm, was der Onkel gesagt, sie setzte ihm alles auseinander, sie redete ihm zu – es half nichts, er blieb dabei: »Maler!« Ja, jetzt konnte er reden. Warum hatte er denn all das dem Onkel nicht gesagt?

»Du dummer Jung, hättste doch wat riskiert! Warum haste denn nix gesagt?«

»Ne!« Er zog sich ordentlich in sich zusammen. »Der versteht ja doch nix davon. Der denkt nur an Geldverdienen. Mutter, Mutter, un ich möcht dich doch malen in deinem blauen Kleid, mit deinem blonden Haar, auf en Altarbild, so wie du bist, un wie du mich ansiehst! Verhungern werd ich schon nit, wenn ich Maler werd, dafür bist du ja da, gelt, Mutter, gelt?« Er warf sich in ihre Arme und küßte sie stürmisch.

Josefine fühlte ihr Herz aufwallen: ihr lieber Junge! Unwillkürlich schloß sie die Arme fester um ihn. Worte der Zärtlichkeit drängten sich ihr auf die Lippen – aber da, halt, ein rauher Ton unterbrach das Geflüster.

»Herrraus!« schallte es von der Wache herüber. Wer auch im weichsten Bett lag, mußte es hören. Knapp und klar, scharf und energisch drang das militärische Kommando durch die Nacht.

»Herrraus –« wie aus einem Traum erwachend, aufgeschreckt, mit starren Augen sah Josefine ins Dunkel. Auf einmal sah sie das Kasernentor und den Hof und die Feldwebelwohnung und den Vater und die Mutter. Lang und stramm stand der Vater, fest eingeknöpft in seine preußische Montur: »Maulhalten, parieren, wird nicht gemuckt!« Aber die Mutter legte sich aufs Parlamentieren, aufs Bitten und Betteln: »Die armen Jüngeskes, die wollen doch auch ihr Pläsier haben!«

Unwillkürlich lockerten sich Josefines Arme, mit denen sie ihren Sohn so zärtlich ans Herz gedrückt. Ach, wer das doch könnte, nicht zu streng und nicht zu schwach sein! Sie stand vom Bettrand auf und reckte sich gerade.

»Peter«, sagte sie – ihre Stimme wurde nach und nach fest – »ich kann dir nit helfen, du mußt gehorchen. Hör auf den Onkel Friederich! Siehste, der kömmt voran. Werd kein Maler. Et is ja schön, aber« – sie zögerte und seufzte – »aber ich bin doch so bang, da wirste bummelig. Un wenn du nit so 'n groß Talent hast, wie die Achenbachs oder wie der Knaus, dann sitzte da. Un du sollst doch deinem Bruder bald 'ne Stütz sein, und wenn ich alt bin –«

»Och, Mutter«, nun lachte der Peter hell heraus, »sag doch gleich: ›Wenn ich mit'm Kopp wackel‹!« Er hatte schnell seinen Kummer vergessen und war jetzt wie außer Rand und Band. Sich in die Höhe schnellend, faßte er ihr heißes Gesicht zwischen seine Hände und lachte: »Mutter, du und alt?! Och, Mutter, ne, wenn man sich dat vorstellt – zum Kobolzschießen. Ha, ha, du wirst nie alt, du bleibst immer jung!«

»Ach Gott«, seufzte sie, seltsam durchschauert, und reckte die vollen Arme empor. »Früher, da hat et mich immer gegruselt vorm Altwerden, jetzt nit mehr so arg. Aber Freud möcht ich vorher noch haben, so lang ich se recht genießen kann, viel Freud – an dir, mein Jung!« Sie lächelte. »Peter, tu et mir doch zulieb, hör auf den Onkel Friederich und –«

»Hör auf, Mutter«, sagte er, plötzlich zusammenzuckend, unangenehm berührt, und vergrub den Kopf in sein Kissen. »So – so hör ich nix, ich will gar nix mehr hören. Aber dat sag ich dir, wenn ich dann durchaus nit Maler werden soll, in die Fabrick geh ich nit. Denkt euch meinswegen wat anderes aus. Ich geh nit in die Fabrick – ich kann nit!« Die letzten Worte kamen nur noch stoßweise heraus. Er weinte.

Tiefbetrübt schlich Josefine fort. Da fühlte sie sich am Rock gezupft. Am Bett ihres Jüngsten war sie vorübergestreift. Nun hielten die kräftigen Kinderarme sie fest.

»Ich schlaf nit«, flüsterte die noch zarte Knabenstimme. »Mutter, tu deinen Kopf erunter, dat ich dir wat im Öhrken sagen kann. So. Du wirst doch alt, wenn der Peter auch sagt, du bleibst immer jung; dat denkt der sich nur so aus. Alle Leut werden alt.« Und er stand im Bett auf, steckte den Kopf unter ihrer Achsel durch und zog sich ihren Arm über die Schultern. So ruhte sie auf ihm mit ihrer ganzen Schwere. »Fühlst du't nu, ich bin stark«, sagte er. »Un wenn du mit 'm Kopf wackelst, un en ganz alt Mütterken bist, dann führ ich dich immer so – gelt?«

Sie nickte stumm, und dann strich sie dem Kind über den Kopf.

»Ja, du, du klein Stümpken. Nu leg dich!«

Er duckte sich sofort nieder. »Gut Nacht, Mutter!«

Und als sie noch einen Augenblick stand, hörte sie schon seine ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge.

Ihr Großer weinte noch immer dumpf in sein Kissen, aber sie ging nicht mehr hin zu ihm.

Das »Herrraus!« der Wache dröhnte ihr noch immer in den Ohren.


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