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Siebzehntes Kapitel

Rinke hätte nie geglaubt, daß er über die Trennung von der Tochter so verhältnismäßig leicht fortkommen würde. Die Not der Zeit half ihm über eignes hinweg.

Er glühte vor Unwillen. Täglich mehrten sich die Klagen über Rempeleien zwischen Zivil und Militär. Nicht genug, daß ein Infanterist durch einen Schuß meuchlings getötet worden war, auch noch einen von den Jägern hatten die »verfluchten Halunken« verwundet. Was halfs, daß dem Militär im Besuch der Wirtshäuser strengste Beschränkung auferlegt wurde, ganz einsperren konnte man die Mannschaft doch nicht; und wo sich ein Soldat nur sehen ließ, überall wurde er molestiert. Schüsse, von unbekannter Hand abgefeuert, fielen zur Nachtzeit auf den Straßen.

Der Feldwebel machte es sich zur Aufgabe, die Stadt abzupatrouillieren. Im Abenddunkel suchte er die berüchtigsten Wirtschaften auf, um vor ihren Türen beobachtend Posto zu fassen.

Leider gehörte der »Bunte Vogel« auch zu den nicht gut angeschriebenen. Die alte Frau hauste jetzt dort allein mit dem Wilhelm: wie sollten das schwache Weib und der dumme Junge es am Ende hindern, daß sich da ebenfalls allerhand Gesindel zusammenfand? Rinke hatte den Sohn schon wie einen Verbrecher ins Verhör genommen, aber weiter nichts herausgebracht, als daß der Freiligrath zuweilen dort ein Maß trinke. Na, der Kerl, der rote Republikaner, war ja nun unschädlich gemacht, wegen eines ganz unverschämten, aufhetzenden, königsverräterischen Gedichtes hinter Schloß und Riegel gesperrt! Aber andre liefen noch frei herum.

Ingrimmig, mit geheimem Knurren, wie ein Hund, der Haus und Hof bewacht, schlich der Feldwebel durch die Straßen.

Aber auch die Bürgerwehr hatte ihren Verdruß. Wenn man sich auch noch nicht einig war, ob man für oder wider die Opposition stimmen sollte, jedenfalls war es allen höchst unangenehm, daß der König auf seiner Rückreise vom Kölner Dombaufest schlankweg an Düsseldorf vorbeigefahren war. Die freundliche Gartenstadt schien in Berlin als gefährliches Rebellennest verzeichnet – daran war niemand schuld, als die verdammten Preußen, die verwünschten Militärs! Mußten die nicht durch ihre prahlerische Haltung, durch ihr herausforderndes Umherrennen mit blanker Waffe am Ende auch die gutmütigste Bevölkerung reizen? Es half nichts, daß der Chef der Bürgerwehr eine Verordnung erließ, nach der ein Zusammenstehen von mehr als fünf Personen, das Umherziehen mit Fahnen und das Schießen in den Straßen verboten war. Alle Maßregeln konnten nichts nützen, wenn die Soldatenkohorte sich abends auf dem Markt sammelte und aus voller Kehle das: »Ich bin ein Preuße« brüllte. – –

Der Sommer war zu Ende gegangen. Die falben Blätter fielen, die Tage wurden kurz, die Reifnächte lang. Es wurde über allgemeine Arbeitslosigkeit geklagt; Bettler durchzogen die Stadt und forderten so ungestüm, daß man ängstlich die Türen verschlossen hielt. Im Hofgarten war's nicht geheuer, selbst die verliebtesten Paare getrauten sich nicht mehr in seine Einsamkeit.

Der Magistrat hatte zwar, um Bedürftigen Arbeit zu verschaffen, allerlei Ausbesserungen vornehmen lassen, auch den großen Teich im Hofgarten und die Kanäle ausmutten, aber der frühe Frost setzte diesen Arbeiten ein Ende. So zogen ein paar hundert entlassene Arbeiter mit einer roten Fahne vors Rathaus: »Brot! Brot! Geld! Geld!« Die herbeieilende Polizei wurde mit Steinwürfen empfangen: »Buh, macht euch ab, no Huus, buh!« Es gab blutige Köpfe, die Brotlosen kannten keine Scheu, zumal alles Volk ihre Partei nahm; die hartbedrängte Polizei mußte retirieren.

Von jetzt ab machte sich der »Volksklub« breit, ungeniert beraumte er Versammlungen an. Am hellichten Mittag setzten sich Arbeiterzüge in Bewegung und zogen unter dem Schwenken roter Fahnen, unter dem Singen demokratischer Lieder auf die Nachbardörfer. Der »Barrikadenverein« feierte den inzwischen freigesprochenen Dichter Freiligrath mit schallendem Jubel und Illumination. Das Schwarz-rot-gold war verdrängt – alles rot, rot, rot. Rot flammte die winterliche Sonne überm Rhein, rot stieg sie auf im Osten, rot sank sie am Abend – blutigrot.

Die Düsseldorfer fingen an stolz zu werden auf ihren tatkräftigen Mut. Der Nationalversammlung in Berlin, die Steuerverweigerung votierte, ließ man eine beistimmende Adresse zugehen. Steuerverweigerung, ja, das war das richtige! Riesenversammlungen fanden statt. Mit unverhohlener Geringschätzung sah Düsseldorf auf seine Nachbarin Köln, die langjährige Nebenbuhlerin. Ei, hatten sich die Kölner mit ihrem Revolutiönchen blamiert, die ganzen Rheinlande, nein, die ganze Welt lachte die ja aus! Unendliche Karikaturen auf die »Preußenfresser in Köln« wurden in Düsseldorf gezeichnet.

Aber es kam ein Tag, an dem die beiden Nebenbuhlerinnen die Köpfe zusammensteckten und einig waren in Schreck und Empörung: Robert Blum zu Wien erschossen! Die Stadt Köln erinnerte sich plötzlich ihres »Köllsche Jong«, und die Nachbarin Düsseldorf fühlte sich mit in der Seele getroffen. Ein rheinischer Landsmann ruchlos ermordet!

Von Hand zu Hand wanderte das Zeitungsblatt mit Blums letzten Worten:

»Ich sterbe für die Freiheit,
möge das Vaterland meiner eingedenk sein.«

Heiße Tränen flossen, als der Abschiedsbrief an seine Gattin bekanntgemacht wurde:

»Mein teures, gutes, liebes Weib, leb wohl!«

Tausend Fäuste ballten sich im Grimm: »Gut und Blut für die Freiheit!« Wie ein Fieber ergriff es die Bürgerschaft. »Genug des Druckes! Weg mit den Steuern!« gellte es in Fanfaren durch die Stadt.

Scheelen Auges sah man Scharen eingezogener Rekruten in die Kaserne marschieren – noch mehr unnütze Brotfresser?! Es verbesserte die Gereiztheit nicht, daß die neuen Soldaten großspurig lärmten und sangen. Es wurde eine wilde Nacht. Katzenmusiken wurden gebracht, höhnende Ständchen vor den Fenstern verhaßter Persönlichkeiten, Scheiben eingeworfen, Haustüren besudelt, greuliche Schreie ausgestoßen, Schüsse abgegeben, Polizisten geprügelt.

Am Morgen des zweiundzwanzigsten November erklärte der Divisionskommandeur den Belagerungszustand.

Lange hatte Feldwebel Rinke sich nicht so gefreut, als da die Infanterie ausrückte, um die öffentlichen Plätze zu besetzen. Artillerie bepflanzte den Hofgarten mit Piketts und Geschützen, Kavallerie schwenkte auf den Straßen hin und her und spornte die Pferde in die aufkreischende Menge. Das Herz wurde Rinke ordentlich leicht, als er den Leutnant von Clermont einer ungebührlichen Rotte Ruhe gebieten sah. Wie dem jungen Offizier die Augen blitzten! Den Degen hatte er blank gezogen, der Zorn grub eine Falte in seine weiße Stirn. Ha, wenn so einer Preußen schützte, dann konnte das nicht verloren gehen! –

Seit Josefine fort und in Sicherheit war, fühlte sich Rinke mehr denn je zum Sohn seines alten Hauptmanns hingezogen. Ihn deuchte, sie beide waren die einzigen in der Kaserne, die die Schmach der Zeit so ganz empfanden; wenn die andern auch schimpften, wurmte die's denn so tief innen? Ach, nur ihnen beiden zehrte es am Mark!

Viktor von Clermont sehnte sich nach Betätigung. Er meldete sich freiwillig zu den Patrouillen, die Tag und Nacht die Stadt durchstreiften. Seine Jugend entbehrte jetzt gern des Schlafs. Es machte ihm einen Hauptspaß, mit seinen scharfbewaffneten Leuten nächtlicherweile durch die dunklen Straßen zu tappen und nach Verbotenem zu spüren. Die Türen der Wirtshäuser waren zwar verschlossen, aber daß innen noch Gäste saßen, merkte man an dem Lichtschein, der durch die Spalten der Läden fiel, und an dem dumpfen Stimmengemurmel, das zu erlauschen war.

Hei, dann mit dem Gewehrkolben gegen die Tür gerannt und gegen die Läden gedonnert, daß sie sich aus den Angeln lösten! Eine grimmige Lust überkam den Leutnant beim Aufstöbern der Rebellen; konnte er es seinen Soldaten verdenken, daß sie jetzt für so viele erlittene Verhöhnungen Revanche nahmen? Mancher Bürger wurde aufgegriffen und, trotz Ausweis und Beglaubigung, auf die Wache verschleppt.

Die Bürgerwehr wurde aufgelöst.

In eiserner Strenge neigte sich das Jahr achtzehnhundertachtundvierzig seinem Ende. Selbst der alte Sankt Nikola-Markt, der Naschmarkt für die Kinder, war verboten.

Aber Düsseldorf revoltierte nicht mehr. Es war ruhig geworden. – – –

Feldwebel Rinke war wenigstens befriedigt, wenn er seiner Tochter gedachte. Er hatte letzthin von ihr einen Neujahrswunsch bekommen. Auch Conradi hatte geschrieben; fast in jeder Zeile kam »meine Frau« vor: »Meine Frau hat mir drei bunte Taschentücher gesäumt. Meine Frau hat mir zum Christabend ein Hemd selber genäht. Meine Frau hat auch Blatz gebacken.«

Rinke stieß einen erleichterten Seufzer aus – ja, die waren glücklich! Aber daß sie einmal über Sonntag kommen wollten, davon schrieben sie noch immer nichts. Na, man durfte nicht egoistisch sein, die waren sich eben vorderhand noch selber genug!

Frau Trina konnte freilich ihre Neugier kaum bezähmen: »Wenn't mir nit so ekelig wär, mit der Eisenbahn zu fahren, dann tät ich ganz gern mal hinreisen. Fina kann am End jetzt nit gut mehr kommen, denn –« Sie zwinkerte ihm zu.

»Wieso denn?« fragte er.

»No, Rinke!« Haste denn alles vergessen? Wie war et denn bei uns? Keine zwei Monat waren wir verheirat!«

»So, so«, sagte er, und es flog wie eine Ahnung seltener Freude über sein Gesicht. »Meinste wirklich?«

»Man denkt doch«, sagte sie. Er nickte: ja, das hatte er immer gedacht, die Josefine würde Preußen wackere Soldaten schenken.

Seine eignen beiden Jüngsten sollten nun auch bald zum Militär. Er hatte schon eine Eingabe gemacht für ihre Aufnahme zum ersten April in eine Militärerziehungsanstalt.

Die Mutter klagte: »Ach Gott, ach Gott, die armen Jüngeskes!« Aber sie sah es doch ein, die Jungens waren zu wild zu Haus, tanzten ihr auf der Nase herum, und sie hatte eigentlich, seit Josefine fort war, keine ruhige Stunde mehr. Nun würde das besser werden. Der Friedrich, der krumme Beine hatte und dadurch nicht zum Militär taugte, war bei einem Schlosser in der Lehre, das dauerte noch lange, bis der auf die Wanderschaft mußte. Und dann blieb ihr ja noch immer der Wilhelm.

Der Mutter Gesicht verklärte sich, wenn sie an den dachte: wie flott war der geworden! Rotseidene Tuchzipfel ließ er unterm umgeschlagenen Hemdkragen flattern. Und schlau war er! Frau Trina lachte darüber, wie er dem Verbot ein Schnippchen zu schlagen wußte: bis weit über die Polizeistunde hinaus saßen die Gäste ja im »Bunten Vogel« zusammen. Hinter die geschlossenen Läden hatte der Pfiffikus dicke Matten gestopft, kein Lichtstrahl kam so durch, kein Stimmenlaut; dunkel und still lag der »Bunte Vogel«, wie in harmlos ruhigem Schlaf.

Ende Januar war zwar der Belagerungszustand der Stadt aufgehoben worden, gewisse Beschränkungen existierten aber immer noch, und die würden auch nicht aufhören, solange der Polizeiinspektor seine Spürnase überall hinstecken durfte. Jeder Bürger war empört darüber. Kein Wunder, daß wieder neue Unruhen anhuben. –

Der Frühling kam, es dehnte sich, was im Winterschlaf gelegen; es reckte sich und streckte sich, und wo es an hemmende Schranken stieß, klopfte es an mit Macht. Erste Knospen sprengten ihre Hüllen über Nacht. Im Bergischen Land stöberte der Frühlingswind ganz besonders stark. Fabrikschornsteine hörten plötzlich auf zu rauchen, Arbeiter revoltierten und drohten die neuen Maschinen zu zerstören, die ihnen, ihrer Meinung nach, das Brot verkürzten. Die Fabrikanten brachten ihre Familien in Sicherheit in die großen Städte. –

Die erste Nachtigall schluchzte im feuchtwarmen Hofgarten, als auch Conradi seine junge Frau nach der Stadt schickte; in der Kaserne, bei den Eltern, würde sie sicher sein. Seine Pflichten als Gendarm hielten ihn jetzt zu oft Tage und Nächte von Hause fern.

Josefine hatte anfangs nichts von der Reise wissen wollen, mit angstvoller Heftigkeit sich dagegen gesträubt – nein, nein, sie konnte jetzt nicht fort, jetzt, wo die Hühner so brav Eier legten, wer sollte sie denn füttern? Wer sollte das schöne Ferkel versorgen, das er ihr Weihnachten zum Fettmachen geschenkt hatte? Und wer sollte denn für ihn kochen?! Aber dann ergriff sie doch plötzlich eine Sehnsucht. Wenn sie die Augen schloß, hörte sie die Ahornbäume rauschen, sah die Sonne rotgolden auf den blinkenden Scheiben im Hof verglühen. Heim, heim!

Sie reiste. Sie konnte nicht stillsitzen während der Stunde der Eisenbahnfahrt, immer stand sie am Fenster. Ihr Herz klopfte erwartungsvoll. Und wild schlug es, in einer unbezwinglichen Erregung, als sie das schwere Kasernentor öffnete, das sich ihr förmlich entgegenstemmte. Sollte sie denn nicht hinein? Sie stieß mit dem Fuß gegen und half so der bebenden Hand.

Nun trat sie das spitze Pflaster des Steiges. Ah, hinter den kleinen Fenstern des Blocks neugierige Gesichter! Sie kannte noch viele von ihnen. Und Kartoffelsuppe mit Zwiebel hatte es heute mittag gegeben! Sie atmete tief und zog den wohlbekannten Geruch ein. Ach, und das war der Kasernenduft, der eigentümliche Duft nach Schimmel und Knaster, der diesen Wänden so untilgbar anhaftete und den sie so lange, so ewig lange hatte entbehren müssen!

Die Spatzen schirpten, die Ahornbäume zeigten zarte Blätter, das Küchenfenster der elterlichen Wohnung stand offen, wie eine lockende Melodie schwebte es von dort herunter zu ihr – sie war wie berauscht vor Glück. Nein, nicht Monate waren vergangen, nicht einmal Tage, sie war da, sie war nie fortgewesen! Josefine – horch, rief das nicht jemand?! Mit einem Zittern scheuer Wonne stürmte sie die Stiege hinan.

Sie hatte sich bei den Ihren nicht angemeldet; nun trat sie ein. Die Eltern saßen beim Essen. Mit einem: »Nanu?« sprang der Vater auf und schloß sie in die Arme.

Aber er freute sich doch nicht so, wie sie wohl erwartet hatte, er schien sich gar nicht mehr so recht freuen zu können. Als sie sagte, daß ihr Mann, für ihre Sicherheit besorgt, sie hierhergeschickt, preßte er ihr die Hand mit einem seltsam krampfhaften Druck. »Recht, daß er dich geschickt hat. Nu kann's losgehen!«

Frau Trina lachte: »Natürlich, der Rinke red't von nix, als von losgehen!« Aber dann seufzte sie.

Sie umhalste die Tochter mit großer Freude, es war ihr doch ein wenig bang gewesen so allein; die beiden Jüngsten waren vor vier Wochen abgedampft. »Nu hab ich Ruh«, klagte sie, »aber et is mich doch so ungewohnt, ganz einsam! Un der Rinke is immer so verdrießlich!«

Josefine blickte den Vater an – ja, der sah grimmig aus, so recht in sich verbissen. Mager war er geworden, hager sprang die Nase vor zwischen den unruhig spähenden Augen.

»Geht et dir nit gut, Vater?« fragte sie und legte die Hand auf seinen Ärmel.

Er schüttelte sie unwirsch ab. »Dumme Fragerei! Wie soll's einem gut gehen, wenn die Kanaille frecher wird mit jedem Tag und man ihr keinen Tritt geben darf! Siehst auch nicht zum besten aus«, setzte er nach einem prüfenden Blick hinzu.

»Mir geht et sehr gut«, sagte die junge Frau leise und wurde brennend rot dabei. –

Wieder lag Josefine in ihrer Kammer, in ihrem schmalen Mädchenbett. Fast zärtlich glätteten ihre Hände das Kissen – ach, sie konnte doch nicht schlafen.

Der Mond schien silberhell. Das Türchen nach der Küche hatte sie aufgelassen, der ganze Boden drinnen war wie beschüttet mit Glanz. Sie konnte nicht widerstehen; sie schlüpfte aus der dumpfen Kammer ans offene Küchenfenster. Wie still lag der Hof! Die Ahornbäume rührten sich nicht, jedes Ästchen stand silberumwebt. In den Blocks waren alle Lämpchen erloschen, nur drüben in der Offiziersstube brannte noch Licht.

Ob er noch da wohnte?

Sie spähte lange hinüber – da – endlich – jetzt bewegte sich ein Schatten hinterm Fenster! Sie glaubte seine schlanke Gestalt zu erkennen, und ein Schreck durchfuhr sie und zugleich eine Sehnsucht. Er wohnte noch da! Ach, wenn sie ihn nur einmal noch sehen könnte! Ihre Hände krampften sich ineinander – bloß einmal sehen!

Drüben erlosch das Licht.

Ihr wurde so heiß, so heiß, die schweren Zöpfe brannten sie im Nacken, sie schüttelte sie lang herunter; weit beugte sie sich zum Fenster hinaus – ach, nur einmal sehen! Erinnerungen stürzten über sie her in der schmeichelnden Frühlingsluft, Träume. –

Es tappte unten; eine Patrouille schritt über den Hof, hinterher ein schlanker Offizier. Das war er!

Zurückfahrend stieß sie an den Fensterriegel, daß es laut klirrte. Nun hatte er sie doch gesehen!

Sie konnte sich nicht rühren, starr stand sie mit weitgeöffneten Augen. Taghell war die Mondnacht.

Hatte er sie erkannt –? Ja, ja!

Verstohlen sah er einmal zu ihr hinauf – und nun noch einmal! Und eh er das schwere Tor schloß, wandte er da nicht noch einmal den Kopf?

Viktor! Sie hatte es nicht gerufen, aber verlangend, bittend, beschwörend streckte sie die Hände aus. Den da hatte sie ja so lieb gehabt, den da liebte sie noch – jetzt wußte sie's.

In leidenschaftlicher Wallung stürzten ihr Tränen aus den Augen.

Um ihr glühendes Gesicht strich der Nachtwind wie mit abkühlender Mahnung; er raunte etwas, sie verstand es nicht. Sie wollte es nicht verstehen.

»Treue, Tapferkeit, Gehorsam, Pflichtgefühl und Ehre« – nein, an gar nichts mehr denken!

In einer heißen Freude glühte sie und schauerte doch – sie würde ihn Wiedersehen!

Und dann –?!

Mit einem Seufzer warf sie den Kopf in den Nacken und schloß, schwindelig geworden, die Augen.


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