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Es waren rauhe Herbsttage, die noch folgten. Selten hatte der Wind so geblasen und den schäumenden Gischt des Rheins so hoch an die Ufermauer hinaufgespritzt. Schwarz hing das Kartoffelkraut auf dem Acker, modrig roch es auf den Feldern, die Störche sammelten sich auf den Hammer Wiesen, die Schwalben zogen fort, und frostig waren die Nächte.
Vorsichtige Leute suchten die warmen Sachen aus der Mottenkiste, jetzt war der Winter bald da, aber – ob auch der Friede?
Es gab eine bittere Enttäuschung – hatten doch selbst die Soldaten aus dem Felde an die Ihren von baldiger Heimkehr geschrieben – aber Sedan hatte den Frieden nicht gebracht. Wohl saß Napoleon auf Wilhelmshöhe, wohl hatte Straßburg kapituliert und Orleans war erstürmt, doch noch immer mußten die deutschen Jungen vor Metz im Morast liegen, frieren und sich langweilen.
Ganze Waggons wollener Hemden, wollener Strümpfe, wollener Leibbinden gingen von der Stadt dorthin ab. Besorgt sah man die Rheinnebel steigen und sinken, schüttelte den Kopf über die unendlichen Regengüsse, lief verdrießlich mit Schnupfen und roter Nase umher – wie sollte es jetzt erst den Armen in den sumpfigen Metzer Gräben ergehen? Und wie vor Paris?! Man war des langen Krieges herzlich müde. Täglich bohrten sich Tausende begieriger Augen in die Spalten der Zeitung: »Kleine Ausfälle bei Metz, nichts Neues vor Paris« – das war die stete Losung. Wann denn, wann denn endlich?! Sollten die armen Jungen nicht einmal Weihnachten zu Hause feiern?
Ängstliche Seelen nahmen's als schlechtes Zeichen, daß im Nordwesten der Stadt eines Abends ein Nordlicht auftauchte; unheimlichen Scheines, groß und seltsam, mit rotem Kranz stand es über dem Strom. Das bedeutete Blut, noch viel Blut.
Es half nichts – Metz halsstarrig, vor Paris nichts Neues – man mußte sich auf den Winter gefaßt machen. – Da kam die Nachricht: »Metz hat kapituliert!«
Wohl war die Freude groß, die Stadt ließ sich nicht lumpen mit Festesglanz, aber es war nichts gegen den Jubel von Sedan. Jetzt verlangte das Herz zu sehr nach Frieden.
Der November brachte bitteren Frost, die Kartoffeln wurden teurer, und die Kohlenpreise stiegen rapide. Nun galt es nicht allein, Scharpie zu zupfen, nun hieß es auch: Strümpfe stricken, Röcke nähen, Hemdchen zuschneiden, Mäntel zurechtmachen für die Familien der fernen Krieger. Und der Bedürftigen waren viele.
Auch Josefine gab – Gott sei Dank, sie konnte ja geben! – wenn auch alle Geschäfte klagten, ihr Lädchen ging. Sie hatte ihren Halt an der Kaserne, die gab ihr Kundschaft, die verließ sie nicht. Die alte Kaserne! Sie fühlte sich wieder ganz darin zu Hause.
Treppauf, treppab, von Block zu Block, von Bett zu Bett. Nun hatte sie viele neue Gesichter unter ihren Kranken, kaum einige der ersten Gäste waren noch da. Sechzig lagen draußen auf der neuzugekauften Parzelle, und der Winterschnee deckte sie zu.
Unteroffizier Schmidt mit seinem Eisernen Kreuz war längst wieder seiner Kompanie nachgerückt. »Der wird schon wieder Schwung in die Gesellschaft bringen«, hatte der Oberstleutnant gesagt. »Ein Kerl wie der ist unbezahlbar. Immer fidel. Und namentlich zum Requirieren wie geschaffen. Treibt keiner ein Pfund Fleisch mehr auf, der kommt gewiß noch mit 'ner fetten Gans unterm Arm!«
Der Rhein trieb mit Eis, es war so kalt, so grimmig kalt, wie sich's die ältesten Düsseldorfer nicht erinnern konnten, und doch kamen die jämmerlichen Franzosen durch ohne Mäntel, ohne Schuhe, zerrissene Lappen um die Füße gewickelt. Viele gar ohne Strümpfe, mit erfrorenen Zehen. Wenn's hoch kam, hatte einer noch die Lumpen einer Pferdedecke. Das waren die Kriegsgefangenen, die Reste der großen Armee, die nach Festung Wesel eskortiert wurden, nach Minden, oder nach den Baracken auf der Wahner Heide.
Josefine war zugegen, als solch ein Zug in Düsseldorf ankam. Ein eisiger Winterregen, der wie mit spitzigen Eisstückchen peitschte, ging nieder. In den halbzerflossenen Schnee des Exerzierplatzes hatten sich die Unglücklichen hingeworfen. Sie waren zu Tode erschöpft. Die Glorie verloren, alles verloren. Sterbenden glichen sie alle, und Sterbende waren auch unter ihnen. Dort trug man einen ins Stroh des nächsten Stalles; bis auf den Platz war er noch gewankt, nun hatte er geendet. Und hier schrie einer in höchsten Nöten: »Mon Dieu, mon Dien! Ah, comme je suis malheureux!«
Allen klapperten die Zähne, alle waren blau vor Frost, allen bluteten die Füße. Halbnackt streckten sich ihre mageren Glieder aus den abgerissenen Uniformen; alle ohne Haltung, alle ohne Disziplin. Josefine konnte nicht mehr an sich halten; im ersten Impuls unendlichen Mitgefühls kniete sie nieder und stützte die Elendesten. Blut, Wunden, Kanonendonner, Todesröcheln – es war nichts gegen dies! Die Tränen gossen ihr herab, sie hatte keine Hand frei, und so tropften sie in die Suppe, die sie den Verschmachteten reichte.
Allen wurden die Füße verbunden – eine kurze Rast – und dann hieß es weiter. Aber die Unglücklichen wollten nicht weiter, sie blieben im Schnee liegen.
Es hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden, einige unter ihnen weinten. Ein armer Arbeiter zog plötzlich seine Stiefel aus und reichte sie einem der Franzosen, der nur Lappen um die Füße gewickelt hatte, und dabei fluchte er. Und auch andere stießen Verwünschungen aus – nicht die Besiegten, die hatten nicht einmal Kraft mehr zu einer Verwünschung – sie, die Siegreichen, verwünschten den Krieg. Nur Friede, Friede!
Josefine war nach Haus gestürzt; sie wollte geben, den Armen geben, was sie besaß an Hemden, Strümpfen, Kleidern. Die Sachen ihres Peter hatte sie nie, nie hergeben wollen – diese teuren Kleidungsstücke, diese heiligen Andenken – nun gab sie sie doch.
Heute fühlte sie sich zum erstenmal erschöpft, heute fühlte sie zum erstenmal die Kälte des Winters und den schneidenden Wind, der ihr die Haare um die Schläfen peitschte. Heute mußte sie zum erstenmal einen Augenblick ruhn. Als sie heimkam, waren der Bruder und Fritz nicht da. Türen und Schränke und Kommoden hatten sie offengelassen – wohin? Aber schon kamen sie zurück; der Knabe führte den Invaliden, der auf dem Glatteis mühselig ging. Doch Ferdinand lamentierte nicht.
»Finchen«, schrie er im Eintreten und wischte sich den Schweiß der Anstrengung ab, »die armen Teufel! Heiliges Kanonenrohr, wie is da unser einer noch gut dran! Fina, schimpf nit, aber ich hab denen meine andre Bux un auch wat Unterzeug und 'ne Rock mitgegeben – ich hab ja so viel!«
Da nickte sie ihm zu. – –
Mit Ungeduld wartete man auf die Kapitulation von Paris. Wenn Paris fiel, das »große Sündenbabel«, dann mußte es doch Frieden werden. – –
Weihnachten war gekommen, jedoch Christkindleins sanfte Lieder wurden noch immer übertönt von rauher Kriegsmusik. Aber die unschuldigen Kinder sangen unverzagt:
»O, du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!«
Wer mochte sie schweigen heißen?!
Und auch in der Kaserne erklangen Weihnachtslieder. Für mächtige Tannenbäume war gesorgt. Viele Abende hatte Josefine mit den Nonnen an dem Riesenbaum, der auf dem größten Krankensaal, dem Offizierskasino, stehen sollte, geschmückt. Die junge Schwester Daria mit den roten Wangen war unermüdlich im Schneiden bunter Papierketten und zierlicher Körbchen. Und sie war so voller Lust dabei, in ihrer schwarzen Tracht so heiter, als wäre sie eine glückliche Mutter, die ihren Kindern den Christbaum putzt. Josefine mußte sie oft erstaunt, fast bewundernd ansehen, diese still freundlichen Gestalten in den schwarzen Kutten; sie fühlte die alte Neigung wieder erwachen, die sie einst als Kind zu den lieben Nönnchen hingezogen hatte – diese hier waren wahrhaft ehrwürdig!
›Gloria in excelsis deo‹ leuchtet in bunten Farben vom Spruchband des Engels auf dem Transparent im Weihnachtssaal. Ein ganzes Jahr hatte das Transparent versteckt gestanden in irgendeinem verstaubten Winkel. Nun hatten geschäftige Hände es hervorgeholt und unterm Tannenbaum aufgestellt. Josefine hatte nichts davon gewußt, nun sah sie es plötzlich bei der Bescherung im vollen Lichterglanz, und das Herz stand ihr still vor freudigem Schreck – das war ja das Werk ihres Sohnes! Das war von ihm übriggeblieben hier in der Kaserne: Gloria in excelsis deo!
Und in die Freude mischte sich der Schmerz. Aber der Schmerz übermannte sie nicht, ein heiliges Entzücken trug ihr Empfinden höher. Sie schlang die Hände ineinander und hörte still das uralte Weihnachtsevangelium an: ›Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen!‹
Ein Chor sang, Schwester Darias Sopran schwebte hoch und helle über den rauhen Männerstimmen. Alte, vertraute Weihnachtslieder und ein Duft vom Tannenbaum – da fiel auch Josefine ein mit voller, kräftiger Stimme. Andächtig hörten die Franzosen zu, als die ›Prussiens‹ sangen. Sie kannten die deutsche Weihnacht nicht, aber sie gefiel ihnen. Wie die Kinder streckten sie die Hände aus nach den Äpfeln und Nüssen und nach dem Korinthenblatz: »Ah, weiße Brot, oh, merci, merci, weiße Brot, très-bon!«
Dann baten sie, auch ihrerseits etwas vortragen zu dürfen. Zwei traten an – der eine trug noch den Arm verbunden, der andere den Kopf – und führten eine Szene auf mit Gesang und Tanz. Hei, wie die Fußspitzen flogen! Immer dem andern bis an die Nase. Die Verwundeten, die noch zu krank waren, ihre Betten längs der Saalwand zu verlassen, ließen sich stützen, um mit gereckten Hälsen auch etwas von der Aufführung zu ergattern. Urdrollige Kerls! Die Zuschauer verstanden nichts, aber sie wanden sich vor Lachen.
Eine harmlose Fröhlichkeit wurde allgemein. Manch deutscher Landwehrmann, der bangend gedacht, es an diesem Abend vor Heimweh nach seinen Kindern nicht aushalten zu können, amüsierte sich königlich. Und die Franzosen sprangen immer höher und tanzten immer feuriger; heute war alles ›malheur‹ vergessen, sie wiegten sich auf dem Beifall, sie genossen das bescheidene Glück, bewundert zu werden.
Leise stahl sich Josefine hinaus. Rauh war draußen die Winternacht, durch die sie schritt, die Erde, auf die ihr Fuß trat, hart gefroren. Kahl standen die Ahornbäume, erstarrt wie im Todesschlaf; aber ihr Herz schlug warm und lebensvoll und doch voll Ruhe.
Gloria in excelsis deo – in ihr war Friede.
Am 18. Januar ließ sich der greise König Wilhelm im Hauptquartier von Versailles vom starken Bismarck die junge Krone des auferstandenen Deutschland auf die Stirn drücken.
Das war eine Erfüllung.
Der Rhein rauschte mächtig, und in sein Rauschen mischte sich der Jubelhall der Ufer. Nun waren Wünsche erfüllt, die man längst als hoffnungslos begraben.
Warum hatte man denn einst laut gemurrt und die rote Fahne gehißt auf den Barrikaden? Warum hatte man ein ununterdrückbares Sehnen getragen all die Jahre? Warum hatte man des Volkes Jugend hingegeben auf Schlachtfeldern? Alles nur darum!
Es war ja die alte Märchenkrone, die so lange im Rhein geruht hatte, tief unten. Nun sollte sie erstehen in neuem Glanz; sie blinkte golden wie die Sonne.
Und wie die Sonne würde sie glänzen, mit gleicher Fülle über alle, über ein einiges und über ein freies Volk. Manch alter Achtundvierziger, manch roter Demokrat jubelte mit; alles Volk freute sich.
Zwar kamen noch immer Verwundete, zwar rückte noch immer neuer Landwehrersatz aus; aber man glaubte nicht mehr an Schlachten. Das große Paris kapitulierte, das hartnäckige Belfort folgte – nun war das Eis gebrochen.
Und Tauwetter flutete über die so lange winterliche Natur. Das erste Starenpaar war in Josefines Gärtchen erschienen und bezog häuslich den Kasten im Birnbaum. Der Lenz brach also wirklich an.
Ach, nun war auch die weiße Taube des Friedens gewiß nicht mehr fern! Bald kam sie geflogen und baute ihr Nest für ewige Zeiten unterm Giebel des Hauses.
Am 28. Februar meldete eine Depesche für ganz Deutschland: