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Achtzehntes Kapitel

Sie hatten sich bis jetzt nur flüchtig gesehen; sie waren sich begegnet im Hof, vor der Tür, auf der Straße, so oft, wie früher nie. Josefine war diesen Begegnungen nicht ausgewichen, nein, sie suchte sie sogar.

Wie war er schön, wie war er ritterlich! Er verblendete sie ganz. O Gott, ihn nur einmal noch sprechen, seine Stimme hören, diese Stimme, die so lustig necken konnte: »Fina, blonde Fina, meine Fina!«

Kein Gedanke ging zu ihrem Mann. Ihr war zumut, als wäre sie wieder die Josefine von einst – nein, doch nicht ganz dieselbe! Früher war sie schon beglückt gewesen, wenn sie Viktor nur von weitem gesehen – ein verstohlenes Grüßen von Fenster zu Fenster, ein flüchtiges Wort, ein heimlicher Händedruck – das war schön, das war schön gewesen, doch jetzt –?!

Ihre Augen begegneten den seinen mit stumm leidenschaftlicher Frage. In einer gesteigerten, rauschähnlichen, erwartungsvollen Spannung verbrachte sie die Tage und schlaflosen Nächte. –

Leutnant von Clermont hatte auch schon seit Nächten nicht viel geschlafen, eigentlich gar nicht, sein Blut war erregt. Wochen hatte er verbracht in stumpfem Groll – alle Tage Drill, für was denn? Immer von der Ehre, von der Offiziersehre hören und sich doch auf der Nase herumtanzen lassen müssen ach was, Ehre, pfeif auf den ganzen Rummel! Er war wütend. Ein paarmal hatte er sich schon betrunken. Das war ihm sonst nie passiert; aber jetzt konnte er eben gar nichts vertragen, ein paar Gläser schon stießen ihn um.

Seine Nerven waren angespannt, alle seine Sinne erregt. Oh, dieses unnütze Warten, dieses ungeduldige Lauern in der muffigen Kaserne! Nur nach etwas greifen, um sich zu zerstreuen, zu vergessen, den Lauf der Tage zu beschleunigen – ha, und nun kam diese blonde Frau! Er erwiderte ihre großen, stummen und doch so beredten Blicke.

Heut abend sprachen sie sich zum erstenmal. Auf dem dunklen Gang trafen sie einander wie einst. Warum sollten sie sich länger meiden? Auf halbem Weg waren sie sich entgegengekommen. Er unter dem Vorwand, den Feldwebel sprechen zu müssen; sie ganz ohne Vorwand, einfach gezwungen, schier ohne eigenes Wollen, wie eine Traumwandelnde, Schritt für Schritt gelassen auf den schwindelndsten Pfad setzend.

Sie hatten nicht Zeit zu vielem Reden. Jeden Augenblick konnte sie jemand überraschen. Der dunkelste Gang war nicht sicher. Gerüchte gingen um, unheimlich schwirrend wie Fledermäuse in nächtlichem Dunkel; man hört nicht ihren lautlosen Flatterflug und spürt ihn doch am kalten, unheimlichen Wehen.

»Josefine«, flüsterte Viktor und faßte sie an beiden Händen, »Fina!«

Sie sagte kein Wort, aber sie neigte sich gegen ihn.

Ehe sie bedachten, was sie taten, küßten sie sich heiß.

»St – still, kommt da jemand?« Er raunte es, erschrocken und unwillig zugleich.

»Nein – ja, ja!« Und doch huschte sie nicht fort.

Sie umschlangen sich; hastig küßten sie sich wieder, heiß und heißer.

Fatal, wieder Tritte!

»Komm zu mir«, flüsterte er im Kuß.

»Ja, ja, ich ko –«

Sie sprach das Wort nicht aus. Ein schriller Mißton gellte plötzlich durch die Kaserne.

Horch, ein Trompetenstoß!

Und nun Trommelwirbel vom Platz, Trommelwirbel vom Hof herauf.

»He–rrraus!« Ein einziger, langgezogener Ruf in der Mainacht.

»Alarm!« Viktor riß sich los, fort stürzte er; Josefine stand wie betäubt.

Alarm, Alarm! Alle Mann heraus!

Und nun fingen die Glocken der Stadt an zu rufen, von allen Türmen bimmelte es. Ängstlich hilfesuchend wimmerte es: »Feuer!« Mächtig dröhnte es: »Sturm!« Und jetzt – huh – mit beiden Händen fuhr Josefine an die Ohren: das Lärmhorn der Bürger! Schrecklich tutete es; dazwischen das Blasen der Trompete, das Wirbeln der Trommel.

Generalmarsch wird geblasen – die Infanterie rückt aus.

Feuer, Sturm, Aufstand, offene Rebellion. Grollend dröhnt ein Kanonenschuß. – –

Es war wenig Militär in der Stadt, gestern erst eine große Anzahl Truppen nach Elberfeld abgegangen, wo die Landwehrmänner sich ihrer Einberufung widersetzten.

Die Nacht war lebendig geworden. In den Lüften schien es zu klagen, über den Exerzierplatz weg fuhr ein Geschrei – dann wurde alles still.

Oben in der Feldwebelwohnung hielt Frau Trina die Tochter umklammert: »Ach Gott, ach Gott, der Willem! So mitten in der Stadt, allein mit der alten Frau! Wenn der nur kein Dummheiten macht! Ach Gott, ach Gott, der Willem!«

»Ich will hingehn«, sagte Josefine rasch. »Ich hol sie her! Laß mich doch«, wehrte sie die Mutter ungeduldig von sich, die sie zurückhalten wollte.

Ohne Besinnen lief sie die Stiege hinunter. Noch konnte sie zum Tor hinaus, es stand offen, in der Ferne verklang der Trommelwirbel einer ausrückenden Kompanie.

Da zog er hin! Mit raschem Schritt lief sie hinterdrein.

Flüchtig berührte ihr Fuß kaum das Pflaster, eine Todesangst riß sie fort – wenn ihm ein Leid geschah! Wenn sie ihn in die Kaserne zurückbrachten, das Haupt vom Beilhieb zerschlagen, aus Stichen blutend, die ihm ein Strolch versetzt!

Eine heftige Wut ergriff Josefine gegen das Volk, das sich so vergaß. Sie ballte die Fäuste in ohnmächtigem Zorn: drauf, wackere Soldaten, drauf!

Mehrere Bürger stürzten an ihr vorüber, die zu flüchten schienen. Aha, jetzt rannte schon das feige Gesindel!

Einer schrie: »Barrikaden, se bauen Barrikaden, se reißen dat Pflaster auf!«

»Wo, wo?«

»Da – da!« Er hob den Arm und zeigte im Laufen: »Am Stadtbrückchen – an der Allee – ich weiß nit – da – da! Jesus Maria, se schießen, se schießen!«

Grell pfeift ein Signal – eine Gewehrsalve knattert – wo schießt es, wer schießt?!

Hurra, die Soldaten! Josefine glühte, ihre Blicke flammten begeistert auf. Die Soldatentochter war jäh in ihr erwacht.

Horch, Pelotonfeuer! Von weitem antwortet Kanonendonner. Und Pferdegetrappel – hei, die Ulanen rücken auch schon zur Stelle! Hurra, die Soldaten, die tapferen Soldaten, die schaffen Ruh!

Links ab schwenkte Josefine; über die Allee, beim Stadtbrückchen konnte sie nicht durch, das sah sie wohl ein. Rasch hier hinein! Durch die kleinen, engen Gäßchen der Altstadt kam man noch leicht zur Ratingerstraße. Immer rascher lief sie.

Nun war sie am Hunsrück. Ach, wo mochte Viktor jetzt sein?! Viktor, Viktor –! Verwirrt glitt ihr Blick umher – hier war es ja so dunkel, die Laternen sämtlich erloschen, die Häuser schwarz. Sie tappte, sie stolperte, unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus.

»Zurück!« Es klirrte im Dunkeln. Und nun noch einmal der Ruf: »Zurück!« Und jetzt ein laut hallendes Kommando: »Lichter heraus!«

Rechts, links, wie mit Zauberschlag erhellen sich die Fenster, sie sieht entsetzte, neugierige Gesichter hinter den Scheiben auftauchen, nur für einen Moment, dann ducken sie unter, denn: »Zurück!« brüllt es wieder. Blinkende Uniformen, drohende Flintenläufe. Sie will rufen, aber schon geht voreilig ein Schuß los. Dicht pfeift ihr die Kugel über den Kopf.

Taumelnd fällt sie gegen eine Haustür; diese gibt nach, ein Arm streckt sich heraus und zieht die Wankende herein.

»Jesus Maria, is Euch wat passiert?« Weinend leuchtete ihr eine Bürgersfrau ins Gesicht. »Ne, Gott sei Dank, et hat noch gut gegangen! Ach, mein Mann, mein Mann, wo is der? Se werden ihm wat antun, se werden hän dotschießen! Se hören ja gar nit, wat mer ihnen sagt. Vorhin ging einer hier lang, ich kenne hän, en ruhiger Bürger, de wollt nach Haus gehn – knall, se schießen. O Maria, Muttergottes, wat is dat für en Nacht!«

Josefine zitterte vor Aufregung. »Machen Sie die Tür auf, ich muß wieder heraus!«

»Ne, ne. Ihr könnt jetzt nit heraus – se schießen Euch dot!« Die Frau umklammerte sie mit beiden Armen.

»Ich muß!« Josefine riß sich los. Schon hatte sie die Haustür aufgezerrt, schon stand sie wieder draußen auf der Gasse.

Jetzt war alles still. Unsicher huschenden Schein warfen Lichter aus den Fenstern, von den Soldaten war nichts mehr zu sehen. Doch dort – dort in jener Türnische kauert einer, das Gewehr im Anschlag, und da, hinter den Fässern, die mitten aufs Pflaster gekollert sind, reckt eben einer spähend den Kopf. Ein Flintenlauf hebt sich vorsichtig.

Josefines Augen werden schreckhaft starr – hat die Frau recht: wie ein Wild, wie ein Tier dem Jäger vorm Schuß? Sich wendend, stürzt sie blindlings zurück.

Herr im Himmel, auch kein Zurück mehr! Lautes Gebrüll schlägt ihr entgegen.

»Zaruck-Buh! Zaruck-Buh!« Das ist der Hohnruf der Aufrührer.

An der nächsten Ecke hat sich ihrer ein Haufe postiert. Umgestürzte Karren, Bretter, Säcke, Stühle, Tische, alles, was man in der Eile ergriffen hat, ist aufgestapelt.

»Zaruck-Buh! Preußen! Schweinhunde! Menschenschinder! Zaruck-Buh!« Steine fliegen, Ziegelsteine, Pflastersteine, Sand, Kot, Pferdemist.

Aber jetzt Trommelschlag und jetzt ein Kommando: »Zur Attacke! Das Gewehr – rechts! Fällt das Gewehr! – Marsch, Marsch!«

»Hurra!« Mit vorgehaltenem Bajonett stürmt das Militär. Eine Bresche entsteht, ein höllisches Geheul, eine wilde Flucht.

»Feuer!«

»De Preußen, de Preußen, se schießen auf uns!«

Auf der rasch genommenen Barrikade stehen die Soldaten und feuern in die enge Gasse.

»Hochhalten!« tönt ein vereinzeltes Kommando, aber niemand hört es. Die Kugeln pfeffern in die Straße – klatsch, ins Pflaster – klatsch, gegen Türen und Läden – zeigt jemand sich am Fenster, wird auch dahin geschossen.

Rette sich, wer kann! Josefine wird mit fortgerissen; in die Bolkerstraße hinein geht die Flucht, rechts und links durch eins der Seitengäßchen kann man vielleicht entschlüpfen. Aber auch aus der Kapuzinergasse tönt es: »Zurück!«

Huh, die »Zaruck-Buh!« Die Mündung der Kapuzinergasse ist verstopft mit Uniformen, das Eckhaus zur Bolkerstraße von Soldaten besetzt. Auch da kein Ausweg!

Auch da, gegenüber aus der Mertensgasse, gellt ein Hilferuf – da ist ein Verwundeter! Wie ein Tier kriecht er auf allen vieren die Häuser entlang.

»Hilf, zu Hilf!« Schwach wimmert der Unglückliche nur noch. Eine Tür öffnet sich, ein Mann stürzt heraus, schon hat er den Verwundeten unter die Schultern gefaßt, um ihn ins Haus zu ziehen – ächzend drückt der die Hand auf den Leib – da, wieder der Ruf: »Zurück!«

Hähne knacken. Erschrocken läßt der Mann den Verwundeten fallen und springt, sich rettend, ins Haus zurück; knatternd fährt der Schuß über die Stelle, wo er eben noch gestanden.

Weiter, weiter! Die Bolkerstraße weiter hinunter. Das Kleid ist Josefine abgetreten, zerfetzt hängt es ihr von den Hüften; die Haare, gelöst vom rasenden Lauf, züngeln ihr um den Kopf.

Weiter, immer weiter!

Hier unten, dem Markt zu, ist die Straße still, die Fenster sind nicht erleuchtet. Man tappt im Dunkeln, man gleitet, man strauchelt. Nun kommt aufgerissenes Pflaster, Josefine fällt.

Wie lange sie gelegen, weiß sie nicht; endlich rafft sie sich auf mit zerschundenen Händen, mit betäubtem Kopf. Nun ist sie ganz allein. Die Flüchtigen sind sämtlich verschwunden, wohin –? Sie weiß es nicht. Sie sucht die nächste Tür, sie pocht, niemand gibt Antwort, niemand öffnet; laut um Einlaß zu rufen, traut sie sich nicht.

Zitternd kauert sie sich auf eine Treppenstufe. Kein Kampf tobt mehr hier, kein Mensch geht, und doch dröhnt es ihr in den Ohren: die Glocken schlagen ununterbrochen an. Dumpfes Hallen von der Rathausuhr; mechanisch zählt sie: Gott im Himmel, schon elf!

Über die Dächer kommt's wie Geheul. Aus der Richtung der Allee Kartätschenfeuer – nein, nicht allein daher, von allen Seiten Geknatter.

Es ist nicht mehr zu ertragen, sie kann es nicht mehr anhören, schaudernd hält sie sich die Ohren zu. Aber sie hört doch den Trommelschlag – »Fällt das Gewehr!« – Die Bajonette blitzen, hinein geht's in die flüchtende Menge – »Feuer!« – Ein Verwundeter kriecht am Boden, niemand hilft ihm, verschmachten muß er, zertreten wird er – horch, Pferdegetrappel! Entsetzt fährt Josefine auf.

Täuschung! Nur der Tritt einer nägelbeschlagenen Sohle klappt auf dem Pflaster. Vom Markt her nähert sich ein einzelner Mann. Er kommt auf sie zu, an dem großen Bollerwagen vorbei, der, umgestürzt, die Straßenmündung nach dem Markt sperrt.

Gott sei Dank, da ist jemand! Der wird ihr sagen, wo sie gehen soll. Er scheint sich nicht zu fürchten. So ruhig kommt er daher.

Sie springt auf ihn zu. Nun sieht sie's im matten Sternenlicht, er ist schon alt, hat weiße Haare, trägt eine Kriegsdenkmünze auf der Brust und unter jedem Arm ein großes Brot.

»Is et sicher längs dem Markt? Kann man da gehn?!«

»Ja, ja, geht nur ganz ruhig da längs!« Und als er ihr angstvolles Gesicht sieht, schüttelt er, beruhigend lächelnd den Kopf: »Och 'ne, so leicht lassen wir uns nit bang mache! Ich komm vom Rhein, von meinem Kahn, ich muß noch nach der Pfannschoppenstraß, mein Frau un mein Enkelkinner lauern schon auf dat Brot. Ich han kein Angst. Ne, 'ne, wenn mer ihne nix duht, duhn ei'm de Preußen auch nix; ich bin 'ne alte Saldat, ich –«

Ein leichter Knall, ein leichter Pulvergeruch – kurz springt der alte Mann in die Höhe. Zu Boden stürzt er, mit dem Kopf zuvorderst. Er fällt aufs Gesicht; links fliegt ein Brot, rechts eins.

Jesus Maria, sie schießen aus dem Rathaus! Da, über dem dunklen Markt, – da – hinter den dunklen Fenstern, da sind sie drin! Josefines Blut erstarrt: die Preußen, die Preußen, die schießen auf wehrlose Bürger?! Pfui!

Wie ins Herz getroffen, sinkt sie bei dem alten Mann nieder. Ihre Hände tasten über sein weißes Haar, über seinen altersgekrümmten Rücken. Klebrig rinnt es ihr da über die Finger – Blut! Er ist tot.

Der Atem stockt ihr, sie will schreien und kann nicht; mit beiden Händen nach dem sich krampfenden Herzen fahrend, stürzt sie fort.

Die Glocken wimmern und wimmern. Aus den Rathausfenstern fallen noch mehr Schüsse. Mit wehenden Haaren und flatternden Fetzen, wie ein Schatten, fliegt sie dort vorbei. –

Die Glocken hatten zu läuten aufgehört beim Grauen des kommenden Morgens. Das Pelotonfeuer war verstummt, die Barrikaden in der Flingerstraße waren genommen, Kanonen in der Allee aufgefahren, an der Rheinbrücke hielt ein Pikett Ulanen die Wacht; über die freien Plätze schwenkten Berittene. Auf die Gartenmauer des Präsidialgebäudes waren Schützen postiert, Rathaus, Theater und manch andere Gebäude vom Militär besetzt. Und doch fielen noch Schüsse in der Altstadt.

Sie fielen vereinzelt; aber schauerlich tönten sie, Ohren und Herzen der Bürger mit Grausen füllend: das waren wohlgezielte Schüsse!

Die Ein- und Ausmündungen der Gäßchen sind besetzt; an den Ecken lauern die Soldaten, hinter irgendeiner Deckung auf den Knien liegend. Gesicht und Hände von Pulver geschwärzt. Jetzt gibt's kein Pardon. Lange genug hat man Beleidigungen einstecken müssen, doch sind die unvergessen; lange genug hat zurückgedrängter Groll geschwelt, wie eine glimmende Kohle unter Asche – jetzt ist sie aufgeloht, vom Sturmwind der Nacht entfacht. Jetzt gibt's kein Löschen mehr.

Flammendes Blut ist den Soldaten zu Kopf gestiegen und hat ihre Herzen kalt zurückgelassen, kalt wie Eis: »Zurück – halt, wer da?!« Die Hand ist rascher als die Antwort, los geht schon der Schuß.

Die Rheinnebel wälzen sich über die Ratingerstraße und brauen um die Barrikade, drauf hoch eine rote Fahne weht; noch ist die nicht gestürzt, noch flaggt sie im Frühwind. –

Langsam kam jetzt eine Patrouille vom Ratinger Tor her, die Straße herunter. Vorsichtig gingen die Soldaten; sie schlichen. Auf der benachbarten Ritterstraße hallten Schüsse, aus dem Mühlengäßchen gellte plötzlich ein Schrei. Die Soldaten packten ihre Gewehre fester. Rechts, links flogen spähend die Augen des vordersten: Feldwebel Rinke führte die Patrouille an.

Eben hatte er sich von Leutnant von Clermont getrennt, dem man die Meldung gebracht, daß, nachdem kaum die Barrikade auf der Mühlenstraße zerstört worden, in der benachbarten Ratingerstraße mit Zauberschnelle eine neue entstanden sei. Dahin, dahin! Nicht umsonst hatten sie beide zur Zeit die Stadt abpatrouilliert, sie kannten das Gewirr der Gassen und Gäßchen.

»Führen Sie Ihre Leute von oben heran, Feldwebel«, hatte hastig der Offizier geraunt, »ich packe die Bande vom Montierungsplatz her im Rücken.«

Mit Augen, die fast aus den Höhlen dringen, späht der Feldwebel jetzt in die Dämmerung. Verdammt, daß man noch nicht besser sehen kann! Wo, wo stecken die Schufte?! Sein Herz schlägt hart; seine lange Gestalt duckend wie zum Sprung, tappt er voran.

Dunkel ragt etwas vor ihm auf, ist's ein Bollwerk, eine Verschanzung? Hei, der Feind dahinter! Ein gellendes Pfeifen empfängt die Soldaten.

Hurra, da ist die Festung! Auf zum Sturm! Ein lautes Kommando schreit er heraus und dann ein jauchzendes Hurra. Mit gewaltigem Anlauf stürmt er.

Fässer sind aufgetürmt, Bierfässer, Weinfässer, Bretter darüber gelegt und umgestürzte Karren; Stroh, Sand, Steine zwischengestopft.

Keuchend schafft sich Rinke Bahn. Die Pistole hat er in den Gurt gesteckt, mit mächtigen Griffen reißt er das Bollwerk auseinander. Tollkühn, achtlos des Hagels von Steinen und Glasscherben, der auf ihn niedersaust, dringt er vorwärts. Wie in der Schlacht, hei, wie in der Schlacht!

Hier ein Stoß, da ein Tritt – er strebt nach der Fahne, die frech dort oben flattert.

Schwarze Gestalten – es sind ihrer nicht viele – geben Fersengeld.

»Hurra!« Jetzt stehen schon einige Soldaten oben, sie feuern hinter den Fliehenden drein. Und »Hurra!« tönt es von hinten, vom Depot her. Angstvoll rennen die Umstellten hin und her.

Mit einem wilden Lachen langt Rinke nach der Fahne – halt, wer duckt sich da?! Er schwingt sich vollends hinauf: einer will entwischen. »Steh! Halunke, steh!«

Pardon wird nicht gegeben. Mit eiserner Faust packt der Feldwebel zu. Blitzschnell entwindet sich ihm eine schlanke Gestalt, will fliehen, sieht keinen Ausweg, rafft einen Stein auf und setzt sich verzweifelt zur Wehr.

Ohne Besinnen reißt der Soldat die Pistole heraus und schlägt an – Mann gegen Mann – da zeigt ihm ein Feuerstrom, der vorüberfährt, ein pulvergeschwärztes, angstvolles Jungengesicht – Wilhelm!

»Verfluchter Bengel!« knirscht er; er hat ihn gesehen, er hat ihn erkannt. Und der Sohn hebt mit beiden Händen, zum Niederschmettern bereit, den Pflasterstein.

Knall, wieder ein Feuerstrom. Der Feldwebel zuckt zusammen – können die Kerls denn nicht das Kommando zum Schießen abwarten? Dicht nebenan stürzt einer, fällt hintenüber, reckt im jähen Tod die Fäuste empor. Grausenvoll stiert sein Auge. Und er ist auch noch so jung!

In Rinkes Hand beginnt die Pistole zu schwanken; jetzt hat er keine Festigkeit zum Zielen mehr, er läßt die Waffe sinken. Vater und Sohn starren sich an; nur Sekunden und doch Ewigkeiten.

»Halunke!« Der Vater hebt wieder langsam, zögernd die Pistole.

»Vater!« schreit entsetzt der Sohn auf, läßt den Stein fallen und verbirgt das Gesicht.

»Halunke du!« Die bebende Hand will nicht gehorchen.

Da – ein Stein kommt angeschwirrt, von unsichtbarer Hand geschleudert – gut gezielt. Der Feldwebel taumelt; vor die Stirn getroffen kollert er hinterrücks von der Barrikade.

Und der Sohn steht mit stierem Blick: hat er geworfen, den Vater getroffen –?! Nein – ja – nein! Er weiß es selber nicht, er ist ganz betäubt.

»Halt, der da, der hat geschossen! Packt die Kanaille!«

Ein Offizier mit blankem Degen springt auf Wilhelm zu. Da rafft der Junge sich auf, die Betäubung weicht – rette sich, wer kann – in Lebensgier, in Freiheitsgier setzt er herab aufs Pflaster. Dort, dort ist der »Bunte Vogel« und Hilfe, Rettung!

Die Tür gibt nach – er hinein – Riegel zu – die Treppe hinauf, in den Taubenschlag, aufs Dach. –

Gewehrkolben donnern gegen die Tür des »Bunten Vogel«. Leutnant von Clermont verschafft sich mit Gewalt Einlaß; halb eingerannt, halb zerschossen, hängt die Tür nur noch lose in den Angeln. Die Soldaten stürmen in den dunklen Flur.

Wo ist der Kerl, der geschossen hat? Hier muß er sein. Man schickt sich zum Suchen an. Ihrer zwei, drei stolpern in den Keller, ein paar andre die Stiege hinaus. Der Leutnant fährt die alte Frau an, die ihm aus der Wirtsstube entgegentritt: »Wo ist der Kerl? Wir haben ihn hier hereinfliehen sehen. Ihr habt ihn versteckt!«

»Ne, och ne, ich weiß von nix, ach Gott, ach Gott!«

»Doch, er muß hier sein – keine Ausflüchte!«

»O Gott, o Gott! Jesus Maria Josef!«

»Sucht, sucht!« Der Leutnant feuert die Soldaten an, und dann stößt er in ausbrechender Wut die jammernde Alte beiseite: »Gesindel, steckt alles unter einer Decke! Gebt ihn heraus!«

»Jetzt werd't Ihr füsiliert«, sagt ein Soldat mit breitem Grinsen und schlägt das Gewehr auf die Alte an. Halbtot vor Angst sinkt das Mütterchen in die Knie, sein schwacher Aufschrei zetert durchs Haus.

Ein anderer Schrei folgt: »Viktor!«

Aus dem dunkelsten Winkel der Wirtsstube ist eine Gestalt hervorgestürzt, eine junge Frauensperson mit flatternden Haaren und zerfetztem Rock; ihre Augen sind überweit aufgerissen, wie irr stieren sie aus dem todblassen Gesicht. Die Arme abwehrend vorgestreckt, wirft sie sich zum Schutz vor die Alte. –

 

Bis zum lichten Morgen hielten Soldaten die verlassene Barrikade in der Ratingerstraße besetzt, mit ihren Schüssen die Bewohner der verräterischen Straße in Schrecken setzend. Haus bei Haus war durchsucht, der Flüchtling nicht gefunden worden.

Die warme Frühsonne des zehnten Mai schien auf das Düsseldorfer Rathaus; übernächtig, fröstelnd, niedergeschlagen und ratlos saß drinnen der Gemeinderat: zwanzig Bürger waren tot, viele sistiert, unter den Toten auch ein Mädchen. Man hatte die Leiche der unglücklichen Dienstmagd samt den Scherben des Topfes, darinnen sie Milch geholt, den Herren vors Rathaus gebracht. Viele weinten in nervösem Schreck. Auch Soldaten sollten gefallen sein.

Überall traurige Spuren des Kampfes: zerstampfte Erde, aufgewühltes Pflaster, Reste von Barrikaden. Hier ein von Kartätschenkugeln demoliertes Haus, dort ein Pferdekadaver. Überall bleiche Gesichter, verstörte Blicke.

Gegen zehn Uhr vormittags war es, als Rinke in die Kaserne zurückkehrte, die Uniform zerrissen und besudelt, den Kopf mit einem blutgetränkten Sacktuch umwunden. Er taumelte und hielt sich kaum auf den Füßen; aber er war so lange bei den Kameraden geblieben trotz des starken Blutverlustes und der tiefen Ohnmacht, die ihn nach dem Sturz von der Barrikade überkommen. Nur nicht nach Hause, nur nicht allein sein! Er klammerte sich förmlich an die Kameraden. Er hatte treu bei seiner Kompanie ausgehalten bis ans Ende.

Ja, bis ans Ende! Finster vor sich hinnickend, saß er jetzt auf seinem Platz am Fenster. Der Exerzierplatz war leer, die Wohnung auch; seine Frau nicht da, Josefine auch nicht.

Alles weg – was sollte er noch hier? Ein wehmütig resignierter Zug glitt über sein Gesicht. Dann stand er auf und ging schwankend, sich längs der Wand weitertastend, zum Tisch. Das Höchste weg – er hatte es verloren. Verloren! Stöhnend lehnte er sich gegen den Tisch. Wie hatte er einst geschworen zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen?! – – – – »Daß ich Seiner Majestät dem König von Preußen, meinem allergnädigsten Landesherrn, zu Land und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten, an welchen Orten es immer sei, getreu und redlich dienen, Allerhöchstdero Nutzen und Bestes befördern, Schaden und Nachteil aber abwenden, die mir erteilten Vorschriften und Befehle genau befolgen, mich so verhalten will, wie es einem rechtschaffnen, unverzagten, pflicht- und ehrliebenden Soldaten eignet und gebührt – – –«

Die Lippen zitternd bewegend, hatte er's gemurmelt. Bei dem Wort »ehrliebend« zuckte er, ein Ausdruck tiefsten Schmerzes krampfte sein Gesicht zusammen. Die Hand zum Kopf hebend, riß er die Binde ab – mochte sein Blut hinfließen, was lag daran? Er hatte die Ehre verloren, seine Ehre! Wo war sie? Ganz am Boden, unter der Barrikade, da lag sie, zertreten.

Was hatte er getan?!

Er war ausgezogen gegen die verfluchten Rebellen – hatte er nicht geschworen, die zu vernichten, die seinem König Schaden und Nachteil brachten? Erbarmen war ihm dabei nicht aufgedämmert, für keiner Mutter Sohn. Und doch, da der Bengel vor seiner Pistole stand, der Halunke, das räudige Schaf, war ihn eine Angst angekommen um dessen elendes Leben. Wie der Schuß knallte, der den andern Rebellen, jenen andern jungen Burschen traf! Dieser mörderische Schuß hätte auch seinen Sohn treffen können. »Vater –!« hatte Wilhelm gerufen. Da hatte seine Hand die Pistole sinken lassen.

Und nachher – war ihm nicht eine tödliche Furcht durch die Seele geschlichen, als die Kameraden die Ratingerstraße absuchten, Haus für Haus? Gott sei Dank, sie hatten ihn nicht gefunden!

Aber wenn der Sohn auch geflohen war, wurde der Vater das Bild darum los? Der Sohn auf den Barrikaden, unter der blutroten Fahne, die Hand frech erhoben gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit! Und wenn es auch niemand wüßte – mit einem dumpfen Stöhnen griff der Feldwebel an die Stirn, über die schwer ein Blutstropfen nach dem andern aus der noch frischen Wunde sickerte – du selbst weißt es doch! Du wirst es sehen bis ans Ende deiner Tage! Du bist der Vater eines Rebellen, eines Königsverräters! Du hast nicht die Ehre mehr, des Königs Rock zu tragen – leg ihn ab, leg ihn ab! Geh und schäm dich bis an das Ende deiner Tage!

Das war ein Kampf, der in ihm wühlte, hart und schwer. Sein Sohn auf den Barrikaden, der Sohn eines altgedienten preußischen Soldaten – war das nicht eine Schande fürs ganze Heer, eine Schande für Preußen? Er stöhnte auf: »Preußen, mein Preußen!« Der Junge ein Verbrecher, gemeiner als ein Dieb, und er, er selber, der Mitschuldige! Mit den Fingern würden sie auf ihn weisen: »Seht, da schleicht der Vater von dem Schuft, muß seinen Sohn gut erzogen haben, daß der so feine Wege geht! Wird am Alten selber auch nichts sein! Reißt ihm das Ehrenzeichen ab – was hat das auf seiner Brust zu suchen? Zieht ihm den Rock herunter, er ist dessen nicht wert!«

»Nein!« Er schrie es laut heraus und packte mit beiden Händen den Rock über der Brust, eine flammende Röte schlug ihm ins Gesicht »Meinen Rock, den trag ich – bis ans Ende! So wahr mir Gott helfe durch Jesum Christum zur Seligkeit!«

Tief neigte er den Kopf. Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann ihm reichlich an den mageren Wangen herunter. So stand er lange, wie zusammengeknickt, die Hände in den Rock gekrampft, und rührte sich nicht. Still war's um ihn, kein Mäuschen knusperte, kein Vogel schirpte vorm Fenster, keine Stimme des Lebens rief.

Da – horch! Jetzt ein Signal! Hell lockte es durch die Stille. Es rief zum Appell.

Da richtete er sich auf. Er stand kerzengerade, stramm: das hörte er nun zum letztenmal und in Ehren. – –

Er war ruhig geworden. Gelassen zog er die Schublade des Tisches auf und suchte darin. Allerlei Kram war da zu finden: Lichtstümpfchen und Brotkrumen, Zeitungsblätter und Frau Trinas Strickzeug, Flicken und Wollreste, eine Griffelbüchse, eine zerbrochene Schiefertafel und ein Schulheft der Kinder. Ein altes Schönschreibeheft. Der Lehrer hatte vorgeschrieben: »Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten« – »Wer sein Kind liebhat, der züchtigt es« – »Ehrlich währt am längsten« und dergleichen Weisheit mehr. Und die ungeübte Kinderhand hatte sich gemüht, die schön geschwungenen Buchstaben nachzumalen.

Ehrlich – ehrlich! Der Feldwebel blätterte langsam das ganze Heft durch. Da war noch eine leere Seite. Sorgfältig löste er sie heraus, und dann suchte er nach einem Bleistift. Alles übrige wieder ordentlich zurechtlegend, schob er die Schublade zu.

Mit fester Hand, gleichsam die Kalligraphie des Lehrers nachahmend, schrieb er etwas auf das weiße Blatt. Nur wenige Worte, einen einzigen kurzen Satz; aber klar und deutlich stand da, schön wie eine Vorschrift:

Über alles die Ehre!

So. Das konnten sie gut lesen!

Mitten auf den Tisch legte er den Zettel und den Bleistift zum Beschweren quer darüber.

Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht, ehern war's wie vor der Front, als er seine Pistole aus dem Lederfutteral nahm. Die Pistole war beschmutzt. Er ging und wusch sie und rieb sie mit dem Putzlappen glänzend; blank sollte sie sein. Sorgfältig prüfte er sie – seine Hand zitterte nicht – und dann lud er.

Noch einen Blick warf er hinaus auf den weiten Exerzierplatz, den keine Sonne erhellte. Einen Blick auch nach dem Sitz am Fenster, wo er die kleine Josefine die ersten Kommandos gelehrt, dann ging er ruhigen Schrittes nebenan in die Schlafkammer. Die Tür klinkte er hinter sich zu. – –

 

Ein scheues Flüstern ging durch die Kaserne: Feldwebel Rinke war tot. Er hatte sich erschossen – mit seiner Pistole in die Schläfe. Wenn auch der Hauptmann zu entschuldigen versuchte: die unglückselige Tat sei wohl infolge der Kopfwunde, in einem Fieberanfall, in einer Anwandlung von Geistesumnachtung geschehen – das glaubte doch keiner. Ein Gerücht ging von Mund zu Mund: auf den Barrikaden hatte der Feldwebel den eignen Sohn getroffen unter der roten Fahne, und der hatte die Hand erhoben wider den Vater, ihn niedergeschmettert mit einem Stein. Ja, ja, der Rinke war immer zu streng gegen seinen Jungen gewesen! Er war überhaupt zu streng gewesen, aber – Friede seiner Asche – ein armer Kerl war er doch, der Feldwebel!

Das volle Mitleid gehörte den Weibern, der Frau und der schönen Fina. Bis weit über den Platz hatte man den Schrei gehört, den die beiden ausstießen, als sie, um Mittag nach Hause gekommen, den Toten fanden. Auf dem Bett hatte er gelegen, als ob er schliefe, noch in der Uniform.

Da lag er auch jetzt noch. Frau Trina durfte ihn nicht berühren; so hatte sie ihm nur ein Taschentuch über den Kopf gedeckt und die Großmutter, die vom »Bunten Vogel« mitgekommen war, hatte drei Lichter angesteckt, die flackerten zu Häupten des Bettes – »Jesus, Maria, Josef, euch schenk ich seine Seele!«

Es ging auf den Abend. Bald würde Conradi hier sein. Ach, wenn nur auch der Wilhelm käme! Wo war der?

Das Herz der Mutter klopfte ängstlich. Ach, ihr hatte ja Unheil geschwant, gestern abend schon und die ganze letzte Nacht, die sie allein unter Seufzen und Tränen verbracht hatte, während die Stadt in Aufruhr war. Was war nur mit dem Wilhelm passiert? Niemand gab ihr Bescheid; man zuckte verlegen die Achseln, man sah sie so scheu an, man flüsterte verlegen hinter ihrem Rücken. Was war geschehen? War's nicht genug, daß der Rinke ihr das angetan hatte? Sollte noch mehr Unglück kommen?

Weinend warf sich Frau Trina vor ihrem Weihwasserkesselchen nieder, sie betete für die in Sünden abgefahrene Seele des Gatten, und sie betete in ungewisser Angst für den Sohn. Die Großmutter kniete neben ihr; so beteten sie miteinander, Stunde um Stunde:

»Herr, erbarme dich seiner!
Christus, erbarme dich seiner!
Heilige Maria, bitte für uns!«

Im Nebenzimmer war Josefine. Sie kauerte auf dem Schemel in der Fensternische, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, den Kopf tief gebeugt.

Sie mochte nicht hineingehen dort in die Kammer – da lag er, tot, tot! Ihr grauste vor dem Vater. Sie konnte ihn nicht ansehen in seiner Uniform, die von Blut befleckt war – war es sein eigenes Blut, war es das Blut wehrloser Bürger?

Schaudernd schüttelte sie sich in einem Entsetzen, das sie nicht mehr verließ seit der vergangenen Nacht. Ach, das war ja nicht ihr lieber Vater, der da drinnen lag; das war ein fremder Soldat. Der hatte gewütet wie die andern – ein Preuße, ein Preuße!

Mit einem Angstschrei sprang sie auf und streckte abwehrend die Hände von sich in einem wilden Grauen: der alte Mann mit den Broten – zu schrecklich, zu schrecklich – nein, das vergaß sie nie!

Die Großmutter öffnete spaltbreit die Kammertür und streckte den Kopf in die Stube. »Komm, Finchen«, flüsterte sie fast vorwurfsvoll, »komm doch bei deinen Vater!«

»Ich kann nit!« Wimmernd sank Josefine auf ihren Sitz zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. Aber es war ja doch ihr Vater, der sie geliebt hatte ihr ganzes Leben lang – »Vater, Vater, verzeih mir, ich kann nit, ich kann nit!«

Ein beständiges Zittern befiel sie. Heiß brannte es in ihrer Brust – ungeweinte Tränen – wo war Trost? Wie sie die beiden da innen beneidete, denn die konnten beten und weinen. Kein Tropfen löste sich aus ihren Augen, trocken glühten sie in den Höhlen und schmerzten, und das Herz lag in der Brust wie ein Stein.

Wenn nur erst Conradi da wäre! Eine leise Sehnsucht begann sich in ihr zu regen. Der war so ruhig; der würde ihr die Hände streicheln und ihr Haar: »Armes Finchen!« Ach ja, der war gut! Ach, nur weinen! Wenn sie nur wenigstens weinen könnte!

Sie schreckte zusammen – hatte es nicht leise geklopft? Behutsam wurde die Tür geöffnet. Scheu duckte sie sich in ihrer Ecke zusammen, ohne Laut, ganz entsetzt – da kam derder –!

Leutnant von Clermont war eingetreten. Er bemerkte Josefine nicht. Blaß, die Augen auf den Boden geheftet, schritt er durch die Stube zur Kammertür. Er trug einen kleinen Kranz.

Mit weiten Augen starrte sie ihm nach – nun war er hineingegangen!

Endlose Minuten verstrichen. Sie hörte die Mutter sprechen und dann schluchzen, und dann war alles still. Seine Stimme hörte sie nicht. Warum blieb er so lang, was hatte er da drinnen zu suchen?

Wider Willen stand sie auf und näherte sich der nur angelehnten Tür. Sie drückte sich durch den Spalt. Niemand gewahrte sie, Mutter und Großmutter beteten still. Am Bett stand er. Seinen Kranz – waren's Lorbeeren? – hatte er über den Bettpfosten gehängt. Ohne sich zu rühren verharrte er und blickte starr auf den Toten.

Ob er ihr Auge fühlte? Jetzt schaute er verstört auf. Noch einen stummen Gruß dem Kameraden, dann wendete er sich zur Tür. Im Vorüberschreiten hielt er ihr wortlos die Hand hin, aber heftig stieß sie die von sich. Mit einer wilden Gebärde drehte sie ihm den Rücken. Da ging er.

In einer wahnsinnigen Verzweiflung rang sie die Hände: nur beten! Wenn sie jetzt nur beten könnte! Ihr wirrer Blick fiel auf Mutter und Großmutter – oh, die fanden Trost! Trost – Trost!?

Und Josefine stürzte auf die Knie und bekreuzigte sich wie jene und hob die Hände und stammelte nach in inbrünstigem Flehen:

»Herr, erbarme dich unser!
Christus erbarme dich unser!
Heilige Maria, bitte für uns!
Du Trost der Elenden.
Du Stärke der Schwachen
In unsern Trübsalen,
In unsern Anfechtungen,
In unsern Kämpfen, – bitte für mich!«

Die Trauerparade marschierte nicht vor dem Leichenwagen, die Hoboisten bliesen nicht den Totenmarsch, die Tambours schlugen nicht gedämpfte Trommel, keiner trug's Ehrenzeichen auf dem Kissen voran. Feldwebel Rinke wurde in aller Stille zur letzten Stätte geführt, im frühesten Morgengrauen, eh noch die Stadt erwachte.

Düsseldorf lag wie in Grabesruhe; alle Fensteraugen fest geschlossen, alle Haustüren verriegelt, niemand zeigte sich neugierig beim Rumpeln des Karrens. Ein trauriges, trübes Licht glomm über den Dächern.

Lang hing das schwarze Bahrtuch und versteckte ganz den schlichten, tannenen Sarg und die paar schüchternen Kränze.

Conradi hatte sich neben den Kutscher gesetzt; am Hofgarten schwangen sich noch ein paar von der Kompanie zum Begräbnis Kommandierte hinten auf. In rascher Fahrt erreichte man den Kirchhof, weit draußen am Rhein.

Es ging alles rasch, mit militärischer Schnelle. Die Soldaten halfen dem Totengräber zuschaufeln. Nebel brauten noch dick überm Rhein, Tau fiel noch reichlich, im Rosengebüsch zirpten noch verschlafene Vögel im ersten Erwachen, da war schon alles vorüber. Fröstelnd verließen die Soldaten den Kirchhof.

Nur Conradi stand noch allein am Grab. Das lag an einsamer Stelle, weit rechts ab von dem großen Mittelkreuz, nur wenige ungepflegte Hügel waren in der Nähe.

Der Sergeant war in bester Montur, das konnte ihm niemand wehren; sehr blaß leuchtete sein betrübtes Gesicht über dem Uniformkragen. Traurig sah er sich um – niemand da zur letzten Ehre.

»Helm ab zum Gebet!« – niemand kommandiert es, und doch ruft es laut durch die große Stille, vom sich rötenden Himmel herab auf die graue Erde. Vom breitflutenden Rhein kommt's wie Posaunenstoß majestätisch befehlend: »Helm ab zum Gebet!« Mit Orgelton braust der Morgenwind den Choral in den Wipfeln der Bäume.

Conradi nahm den Helm ab, seine weißbehandschuhten Hände falteten sich über der blanken Spitze. Langsam und feierlich, den Blick starr geradeaus gerichtet, daß die Tränen nicht rollten, sprach er laut gen Sonnenaufgang:

»Jesus meine Zuversicht
Und mein Heiland ist im Leben;
Dieses weiß ich, sollt' ich nicht
Darum mich zufrieden geben?
Was die lange Todesnacht
Mir auch für Gedanken macht!«


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