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Wie ein stolzer, weißschimmernder Riesenschwan durchfurcht ein Dampfer die blauen Wogen des weit sich dehnenden Atlantischen Ozeans. Es ist ein »Deutsch-Ostafrikaner«, welcher, von Hamburg ausgehend, Menschen und Güter an verschiedenen europäischen Häfen aufnahm, um sie nun, nach einem Anlaufen noch in Neapel, hinüber zu den einzelnen Landen und Gebieten des dunklen Erdteiles zu führen.
Vor gut einer Stunde ist der rote Sonnenball aus der Tiefe der wallenden Flut aufgestiegen und füllt nun alles mit seinem wundersamen Lichte zwischen Himmel und Wasser. Auf dem Hauptdeck ist's um diese Morgenstunde noch recht still. Die Klappsessel und Korbstühle stehen verwaist nebeneinander. Da und dort liegt ein vergessenes Buch darauf, mehr vom Anfassen denn vom Lesen ein wenig abgenutzt. Es träumt sich so behaglich in diesen Stühlen, während die Hand, dem Stuhlbesitzer einen gebildeten Anstrich zu geben, gehorsam das Werk irgend eines Modeschriftstellers halten muß! Hier am Deck, längs der Stuhlreihen und an der Reling, der Schutzbrüstung, welche das Deck umzieht, spielt sich tagsüber bis tief in die Nacht das Leben an Bord ab, bis die Sterne heraufgezogen sind und das geheimnisvolle Meeresleuchten beginnt. Gegen die Reling gelehnt, starrt man hinaus über das ewig bewegte Meer, lauscht seinem Atem, sucht nach aufkommenden Schiffen, wenn eine Rauchsäule, ein wachsendes Segel am Horizonte sichtbar wird, und denkt der fernen Heimat, wenn es wieder in der Ferne allmählich verschwindet.
Ein wundersamer Platz zum Sinnen und Träumen, die wandernde Sonne auf ihrer himmlischen Reise mit dem Auge zu begleiten, bis sie wieder zitternd hinabtaucht, und nun über die Flut, den Himmelsraum darüber Purpurwellen schießen, eine Sinfonie von Farben in unsäglicher Pracht und Schönheit anhebt!
In diesen einsamen Morgenstunden ist's am schönsten droben auf Deck. Die Mehrzahl der Passagiere birgt sich noch in den Kabinen. Der Troß dienender Kräfte an Bord ist mit Scheuern und Putzen beschäftigt, rückt die Tassen zum Morgenkaffee oder Tee drunten im Speisesaal in Schlachtordnung oder ist sonstwie tätig, ehe die verschiedenen Decks und Versammlungsräume sich zu beleben beginnen.
Längs des Decks erster Klasse, Backbordseite, wandeln drei schwarzgekleidete Männer in frommer Morgenandacht auf und nieder, portugiesische Missionare, für die afrikanische Kolonie bestimmt. Manchmal hält der eine oder andere im Gange inne und blickt über die unbegrenzte Wasserbahn, über welche das junge Tagesgestirn immer breitere Feuerströme ausgießt. Der Anblick der Natur in ihrer reinen Schönheit bannt seine Seele doppelt.
An der Reling steht, leicht angelehnt, ein hoch und schlank gewachsener junger Mann. Ein freies, offenes, fast rosiges Gesicht mit auffallend großen mattblauen Augen, die Klugheit und Herzensfreundlichkeit verkünden. Ein fuchsblondes Bärtchen ziert Kinn und Oberlippe. Ein ganz licht gestreifter Anzug schließt sich eng um den elastischen, muskelgestärkten Körper. Das kurz geschorene Haar deckt eine blaue Seemannsmütze. Er ist seit Hamburg fast immer der erste des Morgens auf Deck. Erst seit Lissabon, wo mit einem Trupp portugiesischer Offiziere und buntem Auswanderertroß auch die drei schwarzen Missionare das Schiff betraten, erhielt er als Frühaufsteher Gesellschaft. Doch die frommen Männer stören ihn nicht weiter. Fast wie Trappisten geben sie sich im Verkehr. Ein kurzer Gruß, ein leises, bescheidenes Kopfneigen ... dann sind sie wieder mit ihrem Gott allein, ihrer Andacht, ihren Hoffnungen und stillen Entsagungen. Und er kann weiter träumen, sich berauschen an Schönheitspracht, an schwellender Jugendkraft.
Ein Leuchten geht durch seine mächtigen Augen. Er strafft sich empor, seine Rechte grüßt das funkelnde Meer, die italienische Weise, welche er bisher halblaut vor sich hinsummte, tönt jetzt wie ein Jubel von seinen Lippen. Die Männer Gottes hören es ja nicht. Die wandeln drüben steuerbordlinks und murmeln ihr Gebet. Nur sein Ohr vernimmt das heraufbrausende Lied, das lauschende Meer und der große, schaffende, ewige Geist dort oben. »Aber, Onkel Dimetri! Du bist ja so lustig?«
Ein Knirps von ungefähr acht Jahren steht in holländischer Soldatenuniform hinter ihm und blickt mit seinen runden, braunen Kulleraugen ihn halb verwundert, halb belustigt an.
Der Angeredete dreht sich um. Ein Lächeln fliegt über sein jungmännliches Gesicht.
»Ah! Guten Morgen, Hans! Natürlich bin ich lustig! Kann man denn anders sein? Er hebt den kleinen Burschen mit steifen Armen hoch vor sich hin. »Da, Bengel, schau hinaus! Das ist das weite Weltmeer, das seit ungezählten Jahrtausenden unsere kleine Erde umbraust, und da droben, da lacht und leuchtet wie im Feiertagsglanze der ewige, herrliche Himmel ...«
»Der ist noch älter als alles Wasser und alle Erde!« schaltet altklug und bestimmt der kleine Mann ein.
»So, so? Woher weißt du denn dies?«
Groß schaut ihn der Bube an.
»Aber, Onkel Dimetri! Da drin wohnt doch der liebe Gott! Der hat doch erst die Erde und das Meer gemacht. Hast du das nicht gelernt?«
»Hast recht, hast recht, mein Junge!« Und dann drückt er plötzlich den Kleinen an seine Brust und küßt ihn auf den frischen Mund. »Wie konnt' ich nur nicht gleich daran denken?!«
Der Junge ist ihm aus den Armen geglitten und steht nun stramm und militärisch grüßend vor ihm.
»Guten Morgen! Siehst du, bald hatten wir das vergessen.«
»Richtig, unsere Abmachung!« Er schlägt die Hacken zusammen, richtet sich steif auf und legt die drei Finger der rechten Hand an die Schläfe. »Guten Morgen, Herr Hauptmann!«
Ein seliges Lächeln verklärt das liebe Gesicht des Jungen.
»Onkel Dimetri, das mußt du aber auch jeden Morgen so machen! Nicht? Siehst du, deshalb stehe ich ja auch immer so früh auf, weil ich weiß, daß du der erste draußen bist. Die anderen sind alle Langschläfer ... nur wir beide ... ach, ja! Dann die drei Schwarzen .. aber die rechne ich nicht ... die wollen nichts wissen von einem Soldaten.«
»Nun gar von einem so tapferen, wie du bist! Was, Hans?«
»Nein, das bin ich nicht... aber werden will ich's einmal, Onkel Dimetri. Wenn ich groß geworden bin! Wir waren länger als ein Jahr jetzt in Deutschland ... weißt du, wegen der bösen Engländer. Ach, Papa hat so oft traurig ausgesehen und einmal hat er geweint ... alles hat geweint, wo wir wohnten ... Sie haben nämlich unser liebes Haus verbrannt ... alles zerstört ... vielleicht auch, wo Mutter begraben ist ... Darum haben sie alle geweint ... aber das weiß ich, wenn ich erst so groß bin wie du, Onkel Dimetri, dann schlage ich alle Engländer tot und die anderen jagen wir aus dem Lande. Brauchst gar nicht zu lachen! Das habe ich mir fest vorgenommen. Papa weiß es auch schon! Siehst du, und der hat nicht gelacht wie du ... der hat mich auf den Schoß genommen und hat mich geküßt und hat gesagt: ›Recht so, Hans!‹ hat er gesagt. Ja! Und dann hat er noch gesagt, aber ganz heimlich und leise: ›Das Burenland müsse wieder frei werden und durch uns!‹ durch uns, Onkel Dimetri!«
»Hat er das gesagt, Hans? Und hat er dich geküßt? Nun, siehst du, Junge, das will ich auch tun.«
Er hebt den Knaben in die Hohe. Augen tauchen strahlend in Augen.
»Ja, ja! Sag auch ich, Hans! Wenn du groß wirst ... dann, dann!« Und er küßt den Jungen herzlich. »So, und nun komm, kleiner Hauptmann! Nun wollen wir mal auf die andere Seite patroullieren, ob da vielleicht der Feind steht. Komm!«
»Die Engländer, Onkel Dimetri?«
»Nicht so laut doch, Junge! Engländer sind wirklich an Bord.«
»Wollen wir sie nicht töten?«
»Heute noch nicht, Hans! Auch morgen nicht! Wenn du groß geworden bist, reden wir einmal darüber. Komm!«
Er faßt den Kleinen an, und so wandern sie hinüber Hand in Hand zur anderen Seite des Oberdecks. Die drei Missionare sitzen in ihre Gebetbücher vertieft auf einer Bank und schauen gar nicht auf. Plötzlich stockt der Schritt des jungen Mannes. Er tritt dicht an die Reling und blickt scharf hinüber nach Süden.
Dann hebt er seinen kleinen Begleiter auf den Arm.
»Hans!«
»Na? Was denn?«
»Ich will mal sehen, ob du schon etwas in der Schule gelernt hast. Wie viele Erdteile gibt's?«
»Fünf!«
»Richtig! Und in welchem liegt euer Burenland?«
»In Afrika!«
»Bravo! Wieder richtig! Nun sieh mal dort hinüber ... dort, wohin ich jetzt mit dem Finger zeige. Na, kannst du was erkennen?«
Der Kleine blickt eine Weile forschend über das blaue Wellengewoge, dann sieht er den Frager mit leuchtenden Augen an.
»Ja, Onkel Dimetri! Erst dacht ich, 's war ein Schornstein, dann wieder ein Schloß auf einem Berge, wo die alten Könige wohnen ... weißt du, mit so langen weißen Bärten ... auf dem Kopfe eine goldene Krone ...«
»und in der Hand Zepter und Reichsapfel!« lacht der junge Mann.
»Ja, ja, so ist es ... so steht's auch in meinem Buche. Jetzt aber sehe ich, es ist wohl ein hoher Felsen dort drüben ...«
»Gewiß, Junge! Ufer ist's ... Ein Felskap ... Afrika, Junge, Afrika!«
»Afrika? Onkel Dimetri, ist das wahr? Wirklich, Afrika? Wo unser ... Wirklich?«
»Wirklich und wahrhaftig, Hans!«
Der Junge reißt sich stürmisch aus den Armen los und gleitet zu Boden. Sein Gesicht glüht, die schönen braunen Augen verraten eine Welt von Empfindungen.
»Afrika?!« ruft er, »Das muß ich Papa sagen, aber gleich. Wir kommen doch immer näher ... siehst du, Onkel Dimetri, da kann er vielleicht unser Burenland schon von weitem sehen ... das er so lieb hat ... wo unser Haus ... die Mutter ... komm, komm mit hinüber!« Er packt den jungen Mann bei einer Hand und reißt ihn stürmisch mit vorwärts. Sie klettern eine steile Treppe hinab zu dem zweiten Deck, hier zwischen Rahen, Taurollen, Rettungsbooten und Kisten hindurch, bis zu dem Eingang der Kabinen zweiter Klasse.
»Papa scheint noch nicht auf,« sagt der Kleine halb enttäuscht. »Da muß ich ihn aber holen. Adieu, Onkel Dimetri! Ich komme hernach wieder. Hörst du?«
Er verschwindet, während »Onkel Dimetri« eine nahe Treppe emporsteigt, welche zu dem Log führt. Hier an der Reling zu stehen und in das Kielwasser hineinzublicken, in welchem sich Seil und Flügelschraube des Log unaufhörlich im Wirbel drehen, die Knotenzahl der Fahrt zu bestimmen, das bereitet ihm seit Beginn der Fahrt ein großes Vergnügen.
Dicht am Log steht eine schlanke, blonde Mädchengestalt, im tiefen Sinnen hinein in das fort und fort sich erneuernde aufschäumende, quirlende Wogengetriebe starrend. Erst als der Ankömmling dicht hinter ihr ist, wendet sie sich hastig um. Ein leises Erröten fliegt über das schmale Gesicht, in dem ein paar tiefblaue Augen verträumt ruhen.
»Guten Morgen, Fräulein Gabriele! Auch schon auf? Wir sind ein Paar Frühschwalben, wie's mir scheint.«
»Guten Morgen, Herr Doktor!« Sie reicht ihm ihre Hand, welche er freudig und lebhaft drückt. »Aber sagen Sie lieber nur ›Frühaufsteher‹! Die Erinnerung an den schönen Sonnenuntergang gestern abend zog mich so bald wieder hierher. Die halbe Nacht mußt' ich daran denken. Und dann träumte ich so dummes Zeug zusammen. Da war ich froh, als der Morgen heraufkam. Mit der Schwalbe aber stimmt's nicht. Schwalben verlassen, wie wir, die Heimat, wenn es herbstelt. Aber sie kehren doch wieder ... sie werden ihr nicht ungetreu ... wie ich!«
»Im Herzen sind Sie's ja auch nicht!«
»Das wäre auch unnatürlich! Aber ich gehe doch fort ... lange fort ... wer weiß: vielleicht für immer. Eine Waise, die keinen festen Boden hat, zieht in ein fremdes Land ... fremde Kinder zu unterrichten ... und wenn sie mich dann deutsch umplappern ... ich weiß es ... dann wird mich die Sehnsucht doppelt nach der alten Heimat anfassen. Können Sie sich das nicht ausdenken?«
»Eigentlich nicht! Erschrecken Sie doch nicht gleich. Ich bin trotzdem kein Barbar, möchte es wenigstens doch in Ihren Augen nicht sein. Was kann denn ein armer Kosmopolit dafür, wenn sein Herz nirgends feste Wurzeln schlug, wenn ihm überall Heimat dünkt, wo die Freiheit wohnt, wo die Schönheit ihm in Natur und Kunst entgegenatmet? Ich bin monatelang einsam durch den Kaukasus geritten und fühlte mich heimisch und wohl in schweigender, majestätischer Öde; über ein Jahr ging ich wissenschaftlichen Zwecken im fernen Afrika nach ... und Afrika ward mir Heimat. Sie können es nicht fassen? Und doch ist's so! Bedenken Sie doch! Meine Mutter eine Altrussin, mein Vater ein deutscher Gelehrter zu Rom, ich bald hier, bald dort erzogen, ein halbes Dutzend Sprachen wie meine Muttersprache beherrschend... wie kann's da wohl anders kommen?«
»Wie schade!« Sie sah ihn fast mitleidig an.
»Vielleicht, Fräulein Gabriele! Vielleicht auch nicht. Ich kann nicht mal von einer eigentlichen Muttersprache bei mir reden. Je mehr aber ein Mensch sich in die Denk- und Fühlweise anderer Völker vertieft, ihre Sprache mit zu der seinigen macht, um so leichter und sicherer gräbt er auch vieles ab, was ihn sonst fest mit der eigenen Heimat verband. Ich habe für meine Person keine Heimat mitbekommen. Dafür aber Tatendurst und Jugenddrang. Der Gedanke, mich irgendwo, irgendwie binden zu sollen, raubt mir fast den Atem!«
Sie hatte sich bei seinen letzten Worten ihm halb abgewandt und blickte wie in eigenen Gedanken wieder auf das rastlos wirbelnde Log in dem zuckenden, strudelnden Wogengemisch. Er folgte ihren Blicken, indem er sich neben sie an die Reling lehnte. Eine kleine Pause war eingetreten. Als ob diese ihr peinlich werden könnte, unterbrach sie das eingetretene Schweigen.
»So ruhig atmet das weite Meer,« sagte sie ohne aufzublicken. »Nur das winzige Ding da unten zappelt und wirbelt unaufhörlich.«
»Zählt Knoten auf Knoten!«
»Oder Stunde um Stunde... wie ein unruhiges Menschenherz!«
»Es ist so schön von Ihnen,« entgegnete er heiter und suchte ihr blasses Gesicht, »daß Sie alles beseelen mit Empfindungen. Da drüben,« er deutete auf das erhöhte erste Deck, »da wimmeln so viele Larven umher, gähnen hinter den Büchern, heucheln Andacht, wenn die Sonne untergeht und rollen verzückt die Augen, wenn der Pfiffikus Mond aus dem Wasser steigt. Im Grunde rührt gar nichts an ihr Herz. Nur wenn die Trompete zu Tisch ruft. Dann herrscht wahre Begeisterung. Aber die Natur bleibt den meisten ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn's die Bildung nicht verlangte, würden sie mit Freuden die Masken abwerfen.«
»Seien Sie doch nicht so hart und ungerecht, Herr Doktor!«
»Ich bin ja auch sonst fein still, Fräulein Gabriele, so artig und sittsam, besonders abends im tadellosen Smoking. Aber bei den Wilden in Afrika war's mir oft wohler. Naturkinder! Sie hatten doch einen Gott, den sie verehrten. Ob's nun die Sonne war oder ein Brotbaum: einerlei! Sie empfanden doch Dankgefühl und Andacht! Die Götter da drüben tragen zumeist ganz andere Namen!«
»Was soll ich Ihnen darauf erwidern?«
»Nichts! Nichts, als daß Sie mir versprechen, mir Ihre beglückende Zuneigung zu erhalten, zu dulden, daß ich manchmal herüberkomme, Sie zu ärgern, zu langweilen, zum Widerspruch zu reizen ... weiter nichts! Wollen Sie das, Fräulein Gabriele?«
»Ob ich will?« Sie sah ihn offen und innig an. Dann reichte sie ihm ihre Hand. »Kommen Sie, wenn Sie's herüberzieht. Das Log und eine heimatlose Lehrerin heißt Sie stets herzlich willkommen! Ist mir's doch immer, wenn ich neben Ihnen an der Reling plaudere, als hätte ich noch ein Stück Heimat unter den Füßen.«
Er hielt ihre Hand noch in der seinigen. Nun beugte er sich galant und drückte rasch einen Kuß auf ihre Finger.
»Tausend Dank! Wenn ich's auch nicht verdiene! Hören Sie die Trompete von Jericho blasen? Es geht schon wieder einmal zum Essen. Auf baldiges Wiedersehen!« Er verbeugte sich leicht und verließ das Deck.
Sie wandte sich nicht noch einmal nach ihm um. Mit ernsten, wie nach innen gekehrten Augen starrte sie hinab auf die Logschraube.
»Stunde um Stunde!« flüsterte sie. »Bis er von dannen geht!« –
Es war um die Mittagsstunde, als die kleine Schiffskapelle zur Feier des heutigen Sonntags auf dem Hinteren Oberdeck, so daß auch die Passagiere der zweiten Klasse die Klänge vernehmen konnten, ihre lustigen Weisen ertönen ließ. Heiliges und Unheiliges durcheinander, und so jedem etwas bringend. Hüben wie drüben promenierte man, plauderte, lachte und freute sich des goldenen Tages, in dessen leis flimmernde Südluft die frischen, hellen Töne wie Lerchenwirbel hin ein flatterten.
Gabriele saß bequem in einen Korbstuhl hingelehnt. Ein Buch, halb zugeklappt, ruhte in ihrem Schöße. Die Hand, welche es hielt, war hinabgesunken, ohne daß sie es eigentlich empfunden hatte. Selbst als ihre ernsten Augen noch scheinbar über die Druckzeilen glitten, waren ihre Gedanken bereits auf die Wanderung gegangen, heimliche Flüchtlinge, welche still aus dem Bann fremder Phantasie in ihr eigenes Traumland hinüberhuschten. Und willig folgte sie ihnen. Vielleicht war die Musik daran schuld! Vielleicht auch ein anderes. Sie fragte, und forschte nicht danach. Sie gab sich willenlos dem Zauber dieses Träumens hin. Die ersten Tage hatte sie es bewußt und willensstark abgeschüttelt, daß immer wieder sein Bild all ihr Denken kreuzte. Sie hatte sich gescholten und belächelt. Dann aber war sie machtlos geworden. Die Heimat hinter sich, eine dunkle Zukunft vor sich, warum sollte sie sich länger in Selbstqual verzehren? Warum nicht wenigstens in diesen kurz bemessenen Tagen einem heimlichen Glücksgefühl sich hingeben, es auskosten, bis alles zischend niedersank, wie ein Meteor in ewige Wassertiefe? Der Schmerz, die Leere und Öde blieben ja doch nicht aus.
Die Plauderstunden an der Reling, goldene Sonnenuntergänge ... süße Mondnächte ... wenn die hüpfenden Wellen Silbergrüße zu ihnen heraufsandten, tiefes, seliges Schweigen der endlosen Weite sie beide wie mit weichen Armen unsichtbar umfing! Daß er das Klopfen ihres Herzens nicht vernahm? Die heimlichen Tränen sah, welche ihre vereinsamte Seele weinte?! Aber er blieb immer derselbe: heiter, offen, vertrauend, ritterlich und anteilnehmend.
Und dann jener Abend! Schiffsbau ward angesagt. Die Musik schmetterte ihre luftigen, prickelnden Weisen. Hüben und drüben ward getanzt. Sie stand abseits im Dunkel am Log. Da kam er! Aufgeräumt, strahlend, vollste Jugend ausströmend. Nur einen Pflichttanz mit seiner Tischnachbarin habe er sich »geleistet«, lachte er, dann sei er herübergeeilt. Nun solle sie mit ihm tanzen, nicht so der Freude sich entziehen. Ihr Herz stünde nicht danach. Dann wollte er auch nicht, war seine Entgegnung. Doch zuschauen, das sollte sie ihm nicht abschlagen. Beim nächsten Walzer lag sie doch an seiner Brust, und Schiff, Meer, Sternenhimmel, Heimat, Zukunft: alles verschwamm zu einem einzigen überseligen Taumel unsäglichen Glückes.
Horch! Klang jetzt der gleiche Walzer herüber wie an jenem Abend?
Unwillkürlich wandte sie in ihrer liegenden Stellung den Kopf seitwärts. Dann ging es wie ein leichter Schauer über sie. Da oben stand er an der Reling erster Klasse neben jener schönen Belgierin, deren schwermütige, braune Augen er ihr einmal begeistert geschildert hatte. Mit der Begeisterung eines künstlerisch empfindenden Mannes wohl! Aber daran dachte Gabriele jetzt nicht. Sie empfand nur etwas wie stechenden Schmerz. Er sah so übermütig aus, sie fühlte ordentlich, wie Geist und Phantasie bei ihm sprudeln mochten, obwohl sie seine Stimme nicht vernahm. Seine Stimme, welche noch in ihr nachtönen würde ... nach Jahren ... wenn hunderte Meilen sich zwischen sie und ihn legen würden ...
»Tante Gabriele! Tante Gabriele!«
Der kleine Hans war es, welcher aufgeregt sich ihr näherte. »Hast du's denn noch nicht gesehen? Ein Vogel ... ich glaube wohl, eine Schwalbe wird's sein ... hat sich verflogen. Da unten sitzt sie auf den Tauen ... sieh doch nur einmal auch hinunter! ... sie muß einen kranken Flügel haben ... ein Stückchen stiegt sie fort und dann ist sie gleich wieder da! Na, jetzt siehst du sie gewiß?«
»Freilich, Junge! Und wirklich eine Schwalbe! Das arme Tierchen!«
»Nicht wahr? Ja, sie ist krank. Weißt du, Tante, ich werde sie fangen und dann bringe ich sie dir oder dem Onkel Dimetri ... und dann pflegen wir sie, bis sie wieder gesund ist. Meinst du nicht?«
»Die läßt sich nicht so leicht fangen, Hans! Ihre Furcht treibt sie fort, ehe du ihr nahe bist.«
»Ach was! Ich sage dir, Tante, ich fange sie doch.« Und vertraulich setzte er hinzu: »Siehst du, die Engländer müssen ja auch wieder aus dem Burenlande! Ha! Papa sagt so oft, es geht schließlich alles, wenn man nur will! Also, ich bringe dir die Schwalbe!«
Er stolperte die steile Treppe hinab zum Zwischendeck und schlich sich auf den Fußspitzen näher zu dem noch immer auf einer Taurolle rastenden Tierchen. Gabriele verfolgte lächelnd jede seiner Bewegungen. Dieses kleine Zwischenspiel hatte wie ein Sonnenschein trübes Gewölk zerteilt. Von den anderen Passagieren achtete keiner auf des Kleinen Feldzug. Jetzt war er heran. Ein zuckender Griff – husch! da saß das Tierchen bereits auf dem Bordrand. Hans wandte sich nun nach Gabriele, hob den Zeigefinger empor und lächelte verschmitzt, als wollte er sagen: das erstemal kann's jedem passieren, jetzt aber soll's mir schon gelingen. Ein Haufen Holz lag gegen den Bordrand an dieser Seite des Schiffes aufgestapelt. Auf dieses kletterte jetzt der Kleine geschmeidig wie eine Katze.
Gabriele wollte ihm zurufen, abzustehen von seinem Versuche, den Vogel einzufangen, doch das Schauspiel selbst übte einen bannenden Eindruck auf sie.
Hans schob sich in Höhe der Bordumrandung lautlos vor. Dann hielt er einen Augenblick inne. Das Tierchen hockte kaum noch anderthalb Fuß vor ihm, den kleinen dunklen Kopf meerwärts gerichtet.
Und nun ... Gabriele sah nach dem ausgestreckten Arm des Jungen ... im nächsten Augenblick war der letztere verschwunden. Hatte er das Gleichgewicht verloren, war einer der Holzstämme ein Stück ins Rollen gekommen?
Sie war aufgesprungen und mit gellendem Schrei zur Treppe geeilt.
»Rettet, rettet! Der kleine Hans ist ins Meer gestürzt!«
Die Musik brach jäh ab. Gruppen erregter Menschen stauten sich auf allen Seiten.
»Wo? Wo?« vernahm sie eine Stimme.
Gabriele kannte sie nur zu gut.
»Dort, dort!« Wie eine Verzweifelte stieß sie es aus, mit dem Arm die Richtung weisend.
Sie sah noch, wie droben Dr. Hellmann sich durch die Menge drängte, seinen Rock von sich schleuderte ... dann ein Sprung ... Aufklatschen im Wasser ... der Retter teilte die Wellen, um seinen kleinen Hauptmann dem Tode zu entreißen.
Der Dampfer hatte bereits gestoppt. Einige Matrosen waren dabei, ein Rettungsboot klar zu machen. Sonst herrschte tiefstes Schweigen. Wie eine erschütternde Lähmung war es über alle gekommen. Gabrieles Hände aber hatten sich zu heimlichem, heißem Gebet gefaltet.
Das Rettungswerk war gelungen. Gabriele hatte den bewußtlos gewordenen Knaben mit tränenfeuchten Augen dem verzweifelt harrenden Vater in den Arm gelegt und war ihm dann zur Kabine gefolgt, dort ihm behilflich zu sein. Nur ein Blick, ein langer, dankbarer, traf den tapferen Retter, der sich lachend schüttelte und dann den beglückwünschend Herandrängenden schleunigst durch die Flucht entzog. Das Schiff aber setzte wieder seine Fahrt fort durch die aufrauschenden Wogen; die Sonne sendete mittägliche Feuerströme nieder, und der reine, tiefblaue Himmel spannte sich wie ein leuchtender Triumphbogen über Afrika und Europa, zwischen deren felsstarrenden Uferklippen es ostwärts nun hinein in das Mittelländische Meer ging.
Der Schiffsarzt hatte ein starkes Fieber bei dem Kleinen festgestellt und mit dem Vater desselben dankbar die von Gabriele sofort angebotene Pflege angenommen.
Es war gegen Abend. Der Kranke war in einen tiefen Schlaf verfallen. Auf Bitten des Vaters hatte Gabriele eingewilligt, für kurze Zeit ihm ihr Amt abzugeben. Aufatmend trat sie hinaus, frische Luft zu schöpfen. Wie magnetisch zog es sie hinauf zum Log, ihrem Lieblingsplätzchen, Als sie droben um die Ecke bog, sah sie einsam Dr. Hellmann dort stehen.
»Herr Doktor! Lieber Herr Doktor!«
Weiter kam sie im Überschwange ihres Empfindens nicht. Sie hatte seine beiden Hände in Ergriffenheit gefaßt und schaute ihn bebend, dankbar und glücklich an.
»Es war so schön von Ihnen ... so edel! ...«
Er lachte sie an, strahlend in heiterer Jugendfrische.
»Was denn? Was denn, Fräulein Gabriele? Der kleine Kopfsprung heute mittag etwa?«
Sie nickte nur. Sie konnte nicht weiter reden. Nur ihn anschauen, wie er so aufrecht, in strahlender Kraft vor ihr stand.
»Er läge jetzt unten,« murmelte sie endlich, »im Meeresgrunde, wenn nicht Sie...«
»Unsinn! Jugend schwimmt immer oben! Mir hat die Abkühlung außerordentlich wohl getan, und dem Kleinen wird sie hoffentlich eine Lehre fürs Leben sein. Aber Sie, Sie sollten für rotere Backen bei sich sorgen.«
Er ließ teilnamsvoll seine hellen Augen auf ihrem Antlitz ruhen, aus dem die erste Erregung wieder verschwunden war und einer Blässe Platz gemacht hatte.
»Mir ist's ganz wohl,« sagte sie leise und abwehrend und senkte dann den Blick.
»Und unser Hans? Ich darf ja wohl so sagen?«
»Er fiebert stark. Doch der Arzt tröstet ... er ist ja ein derber Junge ... und wird Ihre edle Tat nicht mit Undank lohnen. Der einsame Vater müßte verzweifeln!«
»Wer teilt die Wache mit dem Vater?«
»Ich!«
»Ich sollte mich schämen! Meine Frage war so überflüssig! Nun tun Sie Ihr Bestes, damit wir beide uns dann des Werkes freuen können.«
Sie sah zu ihm auf, ruhig, aber es war ein Blick, der aus der Tiefe einer stillen großen Seele zum Lichte drang. Und vor diesem Blicke fühlte er etwas wie scheue Andacht und Bewunderung.
»Sie sind gut, viel zu gut ... zu mir, zu allen! Die Welt will heute anders angefaßt sein. Sie glaubt nicht mehr recht an Adel und Größe einer Seele!«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Leben Sie wohl! Mich drängt's doch wieder zu unserem kleinen Kranken.«
»Wacht er auf, ist er frei von Fieber... Fräulein Gabriele, grüßen Sie den kleinen Hauptmann von dem langen ›Onkel Dimetri‹. Hören Sie!«
»Es soll mein erstes sein. Ich verspreche es Ihnen!«
Sie reichte ihm die Hand, die er lebhaft an seine Lippen führte.
»Auf baldiges Wiedersehen, Fräulein Gabriele!«
»Auf Wiedersehen!« – – –
Auf Gabrieles dringenden Wunsch hatte der Vater des kleinen Hans endlich eingewilligt, daß sie auch die Nachtpflege bei dem Fieberkranken übernehmen durfte, während der Vater eine noch leer stehende Kabine bezog. Der Arzt war gegen zehn Uhr abends noch einmal gekommen, um nach dem Patienten zu sehen.
Gabriele fragte ihn nicht, doch ihre Augen hingen bangend an den Lippen des dunkelbärtigen Mannes. Er sah ernst aus, als er sich endlich der Pflegerin zuwandte.
»So ein Kind schwebt zwischen Himmel und Erde gleichsam,« sagte er halblaut. »Alles tritt gleich stärker und impulsiver auf. Erkranken wie Gesunden. Aber wir müssen hoffen, Fräulein! Die Hoffnung ist ja eine der wunderreichsten Güter, welche die Natur den Menschen ins Herz pflanzte.«
Er reichte ihr die Hand zum Nachtgruß.
»Heute nacht heißt's für Sie dauernd wach bleiben! Sollte irgend etwas Auffallendes in dem Zustande des Kleinen sich bemerkbar machen – Sie wissen ja, ich bin in der Nähe. Gute Nacht!«
Leise ging er hinaus. Gabriele war allein. Allein mit einer jungen Menschenblüte, um deren Besitz in diesen Stunden zwei Mächte rangen, das Licht und die Finsternis, das Leben und der Tod. Der Tod! Sie schauderte unwillkürlich zusammen. Sie hatte noch nie an einem Krankenbette gewacht, in dem ernsthaft der Kampf um eine Seele tollte. Wie angezogen, blickte sie plötzlich in die Ecke zu Häupten der Bettstelle, als müsse sie dort bereits den bleichen, grimmen Mahner Tod schauen, der mit stumm erhobener Hand ihr wehrte, ihr bedeutete, daß sie kein Anrecht mehr auf dieses fieberzuckende, kleine blonde Menschenkind habe.
In stiller Verzweiflung sank sie auf den Sitz am Bett nieder.
Rundum war alles bereits still geworden. Sie vernahm nur das dumpfe, schwere Stampfen der Maschinen, das heimliche Gurgeln und klatschende Anschlagen der Wellen draußen, dazwischen das Ächzen und Murmeln des mit dem Fieber ringenden Knaben.
»Hans, mein lieber, kleiner Hans!« flüsterte sie mit bebender Stimme. »Nicht wahr, du bleibst hier... du gehst nicht fort... Die Welt ist ja so weit, so schön ... und das Leben...«
Sie fuhr sich krampfhaft ans Herz. Ein stechender Schmerz hatte sie geschüttelt.
Der Kleine riß die Augen auf. Diese glitten über sie hin, irrten im Raume umher, ein Paar halbartikulierte Laute ... eine hastige Bewegung der Hand, als wolle er die Schwalbe fangen ... Dann fielen die Lider wieder halb nieder, er wandte sich zur Seite und ächzte weiter.
Gabriele war leise aufgestanden und an das kleine runde Fenster getreten.
Sie sah den Mond auf dem weiten, unermeßlichen Wasser liegen, sah das Kommen und Gehen der Wellen ... eine immer die andere drängend, überschlagend, vernichtend ... Das Leben, das Leben! Jede Welle ein Menschensein, daran sich Hoffnungen knüpfen, für heute, für morgen, solange ein Herz noch das bißchen Menschenuhrwerk im Gange hielt. Leben heißt wandern, heißt hoffen! – –
»Onkel Dimetri!« Der Kleine stieß es in seiner Fieberphantasie heraus.
Sie schrak zusammen, Waren ihre Gedanken nicht eben bei ihm gewesen? Bei ihm, an dem heimlich ihre Seele hing im Wachen und Träumen, von dem sie nicht mehr loskommen konnte ... nicht mehr wollte?
Und dicht neben ihr ringt ein Menschenkind mit dem grausamen Würger Tod ... neben ihr ... in deren Herz zur Stunde konnte ein anderes Empfinden aufbegehren ... und in einer anderen Kabine wacht ein einsamer Vater ... dem die Heimat zerstört, die Frau genommen ... und betet und steht zu dem Allmächtigen droben, daß er ihm sein Letztes, sein Einziges erhalten möge ... sein Liebstes, das man ihr anvertraut hat!
Sie wendet sich um, sie fällt vor dem Bette nieder und vergräbt das tränenüberströmte Antlitz in dem Deckkissen.
Nicht mehr denken, alles selbstische Fühlen abtun, still hinnehmen, was beschieden wird, damit die lange, graue Öde ihres Lebens nicht alle freudige Schaffenskraft in ihr ertöte ... aufraffen ... vergessen ... vergessen!
Sie krampft die Hände zum Gebete zusammen ... von dem Gesicht des lieben kleinen Kranken wandern ihre Blicke zur niederen Kajütendecke ... Das Schreckgespenst des Todes ist entschwunden ... ihr ist, als schwebe sacht ein lichter Engel nieder ... als klänge es süß und weich wie Wiegenlied, wie Mutterliebe aus weiter, weiter Ferne ...
»Gott im Himmel! Nur mit dem einen Wunsche im Herzen komme ich zu dir: erhalte ihn, rette ihn! Nimm ihn nicht zu dir zurück; lasse ihn wachsen und gedeihen, denn auf sein Leben wartet noch einer, dem das Schicksal alles raubte ... auf mich aber, die ich klein dachte, harrt niemand. In dieser Stunde fühle ich, daß mein Herz jubeln wird, so du das Kind dem Vater wieder zurückschenkst, dem du es einst gabst, daß er nicht einsam durchs Alter gehe!«
Wie lange sie so gelegen hat, weiß sie nicht. Aber einmal ist's ihr, als streiche eine warme Hand ihr über den Kopf. Sie fährt empor, dann fällt ihr Auge auf den Kranken. Er atmet nicht mehr so stoßweise, ruhiger hebt sich die Brust. Das Fieber hat den Höhepunkt überschritten. Die Krisis ist vorüber.
Sie lauscht. Sie zählt die Atemzüge, sie tastet nach seiner Hand. So still, so friedlich wird's ihr ums Gemüt, als ginge ein leiser, seiner Sommerregen erfrischend nieder ... alles glänzte an Baum und Strauch ... Vögel tirilierten ...
Da schlägt Hans die Augen auf. Sie wandern wie suchend, fragend umher und haften endlich auf Gabriele. Der Atem scheint ihr zu stocken. Stumm, prüfend hält sie seinen Blick aus. Und dann kommt es leise von seinen Lippen:
»Tante Gabriele?!«
Sie fühlt die aufsteigenden Tränen, doch sie hemmt sie zurück. Lächelnd beugt sie sich über sein Gesicht.
»Willst du was?«
»Ich habe solchen Durst!« flüstert er.
Sie möchte aufschreien vor Freude. Sie streichelt ihm sanft die Backen, dann netzt sie seine Lippen.
»Ist Onkel Dimetri auch da?«
»Nein, Hans! Aber er läßt seinen kleinen Hauptmann grüßen!«
Ein mattes Lächeln huscht über sein Antlitz. Dann fallen die Lider zu. Er schläft weiter in regelmäßigen, tiefen Atemzügen. Er ist gerettet!
Als am frühen Morgen der Vater mit dem Arzt in die Kabine treten, kann sie ihnen die Freudenbotschaft künden. Der Vater ist neben den schlafenden Jungen in den Stuhl gesunken und hält sacht die Hand des Kleinen in der seinigen. Er kann nicht viele Worte machen, doch in seinen Zügen spiegelt sich eine heilige Freude wieder.
Der Arzt hat noch für ein paar Tage Bettruhe verordnet und verläßt nun die Kabine.
Gabriele steht am Fenster und blickt auf die rollenden Wellen, in denen die Morgensonne sich wie trunken badet. Eine seltsame Ruhe ist über sie gekommen. Sie würde am liebsten die Augen schließen und mit dem Schiffe all die Meere hinabschwimmen, bis zu dem Ende, wo ihr eine neue Heimat aufgetan werden soll; erst dort möchte sie erwachen ... wenn alles vorbei sei ... alles, an das sie all die Tage mit bitterem Schmerze denken mußte.
Aber vorher ihm erst noch sagen, daß der kleine Hauptmann wieder gesunden, daß er nach ihm gefragt habe... ja, das mußte sie, das war ihre Pflicht. Er wartete sicherlich darauf ... droben am Log ...
Sie nickt dem Vater zu, der ihre Hand ergreift und sie drückt, als wolle er sie nicht mehr loslassen, dann schleicht sie leise hinaus.
Es ist noch still an Deck. Die kleine Treppe empor ... dort, an der Reling, da mußte er stehen, sie fühlte es. Und dort hielt er und träumte in den lichten Morgen hinein.
Heute vernimmt er ihren leichten Schritt, ahnt ihr Erscheinen.
»Fräulein Gabriele?!«
Bei seinem Anblick geht ihr alle Fassung hin. Der stille Kampf dieser Nacht ... die tiefe Herzenswunde ... die glückliche Rettung ...
»Hans,« stammelte sie, »wird wieder gesunden ... noch ein Paar Tage ... er läßt auch seinen ›Onkel Dimetri‹ schön grüßen ... wenigstens sein Lächeln sagte dies!«
Ein Tränenstrom bricht aus ihren Augen ... sie tastet nach der Reling ... nach einem Halt. Doch schon hat der junge Mann sie gefaßt.
»Gerettet?« ruft er. Jubel und Tank zittern durch seine Stimme. »Nun dürfen wir uns beide unseres Werkes freuen! Aber nicht weinen! Lachen müssen Sie, wie ich es tue, wie Himmel und Meer rings um uns lachen. Gerettet? O, das ist schön! Fräulein Gabriele! Das ist ein Tag, an dem die Engel im Himmel sich freuen müssen. Und wir sollen es nicht?«
Er hielt sie in seinem linken Arm noch immer, und dann, in glücklicher, glückseligster Eingebung zieht er sie ein wenig noch fester an sich und küßt ihr die Tränen von den Augen fort.
»Nicht weinen, Fräulein Gabriele! Ich kann es bei Ihnen nicht sehen!«
Einen Augenblick noch, ein paar Herzschläge lang ruht sie nahe ihm mit halbgeschlossenen Augen. Dann zieht eine tiefe Blässe über ihr Gesicht. Heftig befreit sie sich, und ohne ihn noch einmal anzuschauen, wendet sie sich um.
»Fräulein Gabriele! Fräulein Gabriele! Tat ich Ihnen weh? Zürnen Sie mir denn?«
Sie schüttelt den Kopf, sie stößt wie gebrochen heraus:
»Nein, nein, niemals!«
In ihre eigene Kabine will sie hinab. Dort wirft sie sich auf ihr Bett nieder und läßt dem tiefsten Schmerze freien Lauf.
In dieser Stunde begrub sie einen goldenen Traum. – – –
Am dritten Tage nach dem Unfalle konnte Gabriele, an welche sich Hans jetzt mit besonderer Zärtlichkeit schmiegte, mit dem Kleinen das Deck wieder betreten. Sie hatte in der Zwischenzeit den Dr. Hellmann verschiedene Male wieder gesehen und mit ihm gesprochen, heiter und frei. Aber eine gewisse leise Zurückhaltung ihrerseits blieb für ihn doch fühlbar, deren Grund er sich in seinem starken, fröhlichen und stolzen Jugendgefühl nicht zu erklären vermochte.
Jetzt war sie mit dem Kleinen zum ersten Deck hinangestiegen. Denn jeder wollte heute dem Genesenden die Hand drücken, ihm eine Liebkosung angedeihen lassen. Wie ein gemeinsamer Schmerz bei dem Unglücksfall empfunden wurde: eine gemeinsame Freude einte nun alles. Es war, als sei ein Druck von der gesamten Schiffsbevölkerung genommen worden. Hans ging aus einem Arm in den andern und Worte des ehrlichen Dankes mußte nun auch Gabriele ernten, wie sehr sie auch abzuwehren bemüht blieb.
»Jetzt gehen wir auch noch zum Kapitän hinauf, nicht wahr, Tante Gabriele? Er muß doch wissen, daß ich wieder gesund bin.«
Sie nickte und stieg dann mit ihm zur Kommandobrücke empor, wo beide in den Wohnraum des Kapitäns eintraten und mit kräftigem Händedruck empfangen wurden.
Als beide nach einer Weile draußen die hochliegende Brücke betraten, riß sich Hans plötzlich los.
»Onkel Dimetri! Onkel Dimetri!« schrie er laut, »da bin ich wieder und bringe auch gleich die Tante Gabriele mit.«
»Bist du wieder da? Bist wieder gesund, mein Herzjunge?«
Er hob den Knaben hoch in die Luft, küßte ihn und setzte ihn dann nieder, worauf er Gabriele die Hand reichte.
»Wenn Sie wüßten, wie ich mich nach Ihnen gesehnt habe! Geht's doch heute zu Ende. Lauf, Junge! Da unten steht dein Vater und sucht dich! Auf Wiedersehen, lieber, kleiner Hauptmann!« Er wandte sich wieder Gabriele zu. »Meine Koffer sind bereits gepackt. Gilt's doch bald Abschied nehmen. Bleiben Sie noch ein Weilchen mit hier oben an der Reling. Nirgends ist der Ausblick herrlicher, denn hier droben. Man schwebt fast wie ein Vogel in der Luft, und alle Wunder dieser zauberischen Landschaft steigen vor uns gleichsam aus blauer Meeresflut. Es gibt ja nichts Ergreifenderes, als Neapel zum ersten Male vom Schiffe aus schauen.«
Er blickte sie herzlich an. Ein Zug ernster Teilnahme glitt über sein offenes, gesundheitblühendes Gesicht.
»Wie blaß Sie immer noch aussehen!« fuhr er fort. »Übt denn das Meer auf Sie gar nicht seine Wunderkraft? Sehen Sie, da taucht bereits Ischia herauf, dort zur Rechten, mit der duftig-blauen Silhouette, das ist das Eiland des Tiberius, das wonnige Capri. Da tanzt man noch Tarantella, und glühende Augen lächeln den Fremdling an. Und weiterhin ... dort ... das ist die Sireneninsel. Als einst der arme Odysseus dort vorübersegelte, ließ er sich fest an den Mastbaum binden und Wachs in die Ohren stopfen. Ja, die Frauen! Sie bleiben doch das mächtigste Geschlecht auf unserem Planeten! Ah! Sehen Sie doch! Dort... die kleine Rauchwolke ... das ist der Vesuv ... und wo es weiß schimmert, hingelagert in königlicher Pracht ... das ist Neapel! Neapel, die einzige, lustige, liederliche Stadt... ihren Zauber muß man in vollen Zügen trinken... aber nicht dabei ans Sterben denken, wie das Sprichwort so leichtfertig verkündet. Leben, sich baden, untertauchen in all diese quellende Fülle südlicher Schönheit! Sei mir gegrüßt, du Königin unter den Städten Italiens!«
Sie sagte nichts, sie hörte nur noch zu. Sie wußte, daß sie seiner Stimme niemals wieder lauschen würde, Und so, dicht aneinander an die Reling gelehnt, glitten sie mit dem Weißen, stolzen Schiffe hinein in dieses Wunderreich flammender Schönheit, beide wortlos geworden, beide nur noch staunend, fühlend, wenn auch ihr beider Fühlen durch eine Welt sich trennte. Hinein in den Hafen, hinüber zur Mole. Dort wird das Schiff die Anker niederrasseln lassen. Er ist fortgegangen, nach seinem Gepäck zu sehen, Abschied drunten zu nehmen. Langsam ist sie ihm nachgefolgt. Wie Blei liegt es in ihren Gliedern; wie ein Nebeldunst zittert es ihr über alles Leuchten und Flirren.
Dutzende von Booten und Gondeln umschwirren das Schiff. Gesang, Mandoline, Kastagnetten und Tambourin hallen empor; dazwischen das Rufen der Händler, das Flehen der Bettler. Auf dem Deck stehen die Passagiere, deren Fahrt noch weiter geht, und werfen lachend Landesmünzen ins Wasser, nach denen nackte Burschen flugs hinabtauchen. Alles sprüht Leben, Bewegung, Tätigkeit.
Gabriele fühlt ihre Hand erfaßt. Hans ist's. Er schaut sie kummervoll an.
»Nun geht Onkel Dimetri fort, Tante! Macht's dich denn nicht auch traurig?«
Sie streicht ihm über den Kopf und zwingt sich zu einem Lächeln.
»So müssen wir hübsch zusammenhalten, Hans.« erwidert sie.
»Kommst du mit zu uns, Tante? Papa sagte, das wäre für mich das Allerallerbeste!«
Sie will antworten. Da sieht sie Dr. Hellmann den Weg durch die Menge sich zu ihr bahnen. Nun steht er vor ihr. Auch in seinen hübschen Zügen liegt ein Schimmer von Trauer.
»Ich hätte nicht geglaubt, wie schwer mir nun doch der Abschied werden könnte! Fräulein Gabriele! Was ich Ihnen an schönen und gehaltvollen Stunden schulde – lassen Sie's unausgesprochen sein. Ich sagte Ihnen einmal, ich hätte eigentlich kein Vaterland. In dieser Stunde ist's mir, als ginge ein Stückchen Vaterland doch für mich verloren! Leben Sie wohl, und gedenken Sie hin und wieder meiner – dann tun Sie es, bitte, in Freundlichkeit, Ich werde oft an Sie denken!«
»Leben Sie wohl! Und auch Sie...« Doch sie bricht ab. Sie fühlt noch seinen Kuß auf ihrer Hand ... ein letzter Blick ... Dann wendet er sich um. Für immer!
Über den Hafen hinüber zum Kai trägt ihn eine Barke. Hans läßt sein Taschentuch wehen, sein Vater, welcher jetzt neben ihr steht, winkt ein paarmal mit der Hand. Sie blickt nur starr dem entschwindenden Fahrzeuge nach. Sie fühlt im brennenden Schmerze, daß sie fortan einsam an der Reling stehen wird und im Geiste seine Stimme hören, daß sie sein Bild mit hinaus nehmen muß in das fremde Land ... heimlich ... für immer ... wohl bis zuletzt.