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Die Morgensonne schien wirklich ganz warm und freundlich über die Dächer und in die reinlichen Straßen von Lerchental, doch als Brigitte Köllner jetzt aus einem Häuschen der Vorstadt trat, da war es mit einem Male, als ginge ein noch hellerer Schein über die Gasse.
Ehe sie das kleine Vorgärtchen durchschritt, bückte sie sich rasch, brach ein Paar Nelken vom Rabattenbeete ab und befestigte diese an dem Blusenschlitz. Dann hob sie den Kopf und blinzelte wie dankbar hinauf zur Sonne, die heute wieder einen schönen Sommertag versprach. Brigitte Köllner war nicht mehr die Jüngste, und doch lachte alles an ihr wie in unverwüstlicher, lebensprühender Jugend. Diese rosig gesunden Farben! Dieser federnde, leichtbeschwingte Gang! Wie sie sich in den weichen, runden Hüften wiegte! Wie über der vollatmenden Brust auf zierlichem Halse sich das Köpfchen aufbaute, anmutigen Trotz und Schelmensinn verratend! Ein bißchen keck die breite, leicht abwärts geneigte, stroherne »Wippe« zum Hinterkopf geschoben, so stand sie da und grüßte vor ihrem Ausgang das Himmelslicht. Und aus was für Augen! Langbewimpert, groß und brennend! Wie Angelhaken, die sich in Männerherzen festschlagen, daß diese zappeln und nicht wieder davon loskommen können. Eben diese Augen waren das Wundersame an ihr, aus denen herzbetörende Frauenwonne leuchtete.
»Ihr Auge ist alles! Sie ist ganz Auge!« hatte einmal im »Lamm«, als das Gespräch auf die Näherin Brigitte Köllner gekommen war, der lyrisch veranlagte Volksschullehrer Apfelstedt geäußert. »Schade, schade!«»
Adrett und appetitlich!« fügte der Buchhalter Amberg hinzu. »Zum Anbeißen! Schade, schade!«
Der Schlächtermeister Abendroth aber hatte sich den Mund gewischt und dann den Bart gekraut, worauf er mit dem sicheren Nachdruck eines Kenners bemerkte:
»Und diese Brust! Diese Schulterstücken! Wärklich, ä Staatsmäjen! A proppres Ding! Schade, schade!«
Schade, schade! So hatten sie alle bisher gesagt. Dem einen war sie zu arm, der andre stieß sich an die eingebildete Niedrigkeit ihres Berufes. Dieser fühlte sich noch zu jung und hatte selbst nur so viel, um gerade noch in Ehren sich durchs Leben zu schlagen, jener hätte sie gern vom Fleck weg heimgeführt, wäre er nicht längst bereits im Besitz einer besseren Hälfte gewesen. Allen aber brannte lichterloh das Herz, wenn sie einmal wieder in die heißen Augen der Brigitte Köllner geschaut hatten.
Diese selbst aber schien sich um dies alles wenig zu kümmern. Die Jahre kamen und gingen. Sie aber lachte tapfer und hell weiter, und aus ihren Augen ging ein Leuchten, als wolle sie mit jedem neuen Jahre erst mit ihrem Leben und Hoffen beginnen. Daß sie den Männern nicht gleichgültig geblieben war, wußte sie natürlich. Das klang aus jedem Gruße, das gestand ihr jeder Mannesblick, der über sie hinstreifte. Ob hoch oder niedrig: in diesem Punkte blieben sich alle gleich. Mit einer ehrlichen, auf redlichen Grundsätzen aufgebauten Neigung aber war ihr bisher noch keiner nahertreten – und sich einem an den Hals werfen und den Genüssen der Jugend nachjagen, das wollte sie nicht. Davor schützte sie die Tapferkeit ihrer Seele. Dazu dünkte sie sich zu gut. Sie wollte keine Frucht sein, deren süßen Inhalt man auskostet, um dann die Schalen achtlos an den Weg hinzuwerfen. »Komm mit!« hatten die andern Mädchen früher so manchmal zu ihr gesagt. »Man ist ja doch nur einmal jung, und hernach guckt uns keiner mehr an!«
Immerhin! Ihr war es bisher gar nicht so gewesen, als wäre sie bereits aus der Mädchenjugend heraus, trotz ihrer nun fünfundzwanzig Jahre. Alles straffte sich an ihr, die Arbeit machte ihr Freude, und einen Abbruch ihrer inneren Heiterkeit hatte sie ebenfalls nicht feststellen können. Es war bisher ohne Mann gegangen, sogar recht gut, da brauchte sie nicht um die Zukunft zu bangen.
Sie rückte ein wenig an dem roten Bande, das ihren Hals einrahmte, so daß die Schleife mitten unter dem dunkelbraunen Haarzopf des Nackens saß. Dann drückte sie die Gartentür ins Schloß.
Aus dem offenen Fenster im Erdgeschoß des Nachbarhauses klang gedämpftes Klopfen. Auf dem Dreibein hinter der wassergefüllten Glaskugel saß der Schuster Metzler und hämmerte unbarmherzig auf das Leder los.
»Guten Morgen, Herr Nachbar!«
Da hob er lächelnd den struppigen, rotblonden Kopf.
»Ei, guckeda! Scheen guten Morjen, Freilein Köllner! Au schon so früh uff'n Zeich?« Seine Augen weideten sich behaglich an dem hübschen Mädchen.
»Ich geh' heut' zur Frau Kantor nähen!« Sie nannte den Namen eines Nachbardorfes.
»Unn immer fröhlich! Immer ä freindliches Gesicht! Hähä!«
»Was soll man sonst machen? Das Schlechte muß man nicht rechnen und sich freuen an dem, was einem sonst noch bleibt.«
»Gelle? 's is ja schon so! Aber manche lernen's nie!«
»Weil sie dumm sind, Meister Metzler! Adje!«
»Is so! Is so! Adje, adje! Den Nagel uff'n Kopp getroffen!« Und er hieb lachend auf seine Arbeit los, als wollte er damit sinnbildlich die Wahrheit des soeben Gehörten bekräftigen, »'s is unn bleibt ä Staatsmäjen,« wandte er sich dann an seine Frau, die im Hintergrund der Stube just das gemeinsame Ehebett aufschüttelte. »Nich, Aujuste? Schade, schade!«
Diese schien aber andrer Meinung, Die unverhüllte Begeisterung ihres Eheherrn erweckte jedesmal wieder unfrohe Stimmungen in ihrer Brust.
»Bekümmre dich lieber um deine Arbeit,« entgegnete sie spitz. »Jedem alten Esel verdreht sie den Kopp, unn du machst keine Ausnahme. Guck se doch an! Der reine Herrenwinker! Nadierlich is das was für eich Mannsleite! Unn hinten die rote Halsschleife! Ha! Das is die Notflagge! Die zieht jede alte Jungfer uff, wenn's bedenklich wird!«
Meister Metzler antwortete nichts darauf. Er kannte die völlige Zwecklosigkeit solchen Unterfangens. Aber er blickte der hübschen Nachbarin nach, bis sie um die nächste Ecke gebogen war. Und dann meinte er noch immer ihre großen, brennenden Augen auf sich gerichtet zu sehen. Er schmunzelte stillvergnügt und begann darauf aufs neue das Leder zu bearbeiten.
Brigitte Köllner hatte die Stadt bereits im Rücken. Manchen Gruß hatte sie ausgeteilt, noch mehr vielleicht erwidert. Dann kam das letzte Haus, Gärten, ein paar Streifen Ackerland, darauf der Wald. Wie feierlich still war's heute noch unter seinen hohen Wipfeln! Nur die Vögel lärmten, ein halbversteckter Bach murmelte zur Seite, und von irgendwo klang eine Dorfglocke durch die Morgenfrühe. So frisch und würzig herb ging die Luft einher. Ein paarmal blieb sie stehen und atmete tief den Hauch der Bergwälder ein, und dann blickte sie fröhlich über sich. Unbeweglich griffen die Fichtenwipfel in die klare, blaue Luft; im Sonnenglast schimmerten die braunen, langen Fichtenzapfen zwischen den grünen starren Zweigen. Wie schön war doch die Welt!
Der Weg, den sie eingeschlagen hatte, stieg langsam empor, um auf der andern Seite des Berges ziemlich steil sich in ein weites Wiesental wieder hinabzusenken. Droben auf der Höhe blickte man durch den breiten Waldeinschnitt nieder zu den rotgedächerten Hütten des Dorfes. Dahinter baute sich das Gebirge stufenförmig bis zum Kamm auf.
Einen Augenblick blieb Brigitte stehen und freute sich des im Morgenduft ruhenden Bildes. Dann schritt sie leise trällernd die Straße hinab. Plötzlich vernahm sie hinter sich das schrille Anschlagen einer hellen Glocke. Sie wandte sich um. Droben auf der Höhe stand ein Mann, der sich soeben auf sein Zweirad schwang und nun anschickte, den Berg hinunterzusausen. Noch einmal gab er das Warnungszeichen, dann flog das Rad mit seinem Reiter talab.
»Solch ein gefährlicher Unsinn!« murmelte das Mädchen halblaut und trat darauf seitlich in die Tannen, den tollen Radier vorüberzulassen. Jetzt war er heran. Ein kecker Seitenblick, ein Rühren an der Mütze.
»'n Morrn, Fräulein!«
»Allheil!« antwortete sie. Es klang fast unmutig.
Waren es ihre Augen, die ihn zu lange vom Beobachten des Weges ablenkten, hatte sich ein Stein ihm zwischen die Maschine geschoben? Kaum daß sie seinen leicht herausfordernden Gruß beantwortet hatte, sah sie, wie Stahlroß und Reiter schwankten. Im selben Augenblick flog das Rad klirrend nieder. Daneben brach der Mann zusammen.
Ein leichter Aufschrei entrang sich ihren Lippen. Dann war sie hinüber. Sie beugte sich nieder und sah betroffen und mitleidig in das Gesicht des Gestürzten. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte leicht.
»O, mein Gott! Sind Sie verwundet?« Sie hatte seine Mütze, die daneben lag, ergriffen und blickte immer noch unentschlossen auf den Verunglückten. Ihre Verwirrung und Bestürzung war noch so groß, daß sie nicht recht wußte, was sie zuerst beginnen sollte. Nun aber legte sie ihm eine Hand leicht auf seine Stirn, und nochmals erklang leise und teilnahmsvoll ihre Frage.
Da öffnete er langsam die Augen und blickte sie verwundert an. Dann allmählich schien die Erkenntnis des Vorgefallenen in ihm zurückzukehren.
»Ich ... ich war etwas betäubt von dem Sturz ... aber jetzt ... jetzt ... es wird schon besser ... der Anprall war zu heftig ... wenn Sie mir gütigst etwas helfen wollen ... mm! mm! Mein Bein! Fatale Sache! So, so! Danke Ihnen ... hier am Waldrand ... so, danke vielmals! Äh!«
Er hatte sich nicht erhoben, sondern war, von ihren kräftigen Armen unterstützt, rückwärts bis zu der nahen, sanft sich neigenden Böschung gerutscht. Aufseufzend blieb er da sitzen, und ohne daß sie es eigentlich selbst sich bewußt geworden, hatte sie sich neben ihm niedergelassen. Sie fühlte nur mit dem Instinkt des Weibes, daß hier jemand Unterstützung, Hilfe und Pflege brauchte.
Sie schaute leicht verwirrt den Weg am Berghang auf und nieder. Niemand sonst war zu erblicken. Um diese Morgenstunde war es hier immer still. Wer weiß, welch lange Frist noch verstreichen konnte, ehe ein dritter hier helfend mit einsprang.
Der junge Mann, er mochte im Anfang der Dreißiger stehen, versuchte das linke Bein ein wenig emporzuziehen. Es gelang ihm nur mühsam. Dabei biß er die Lippen zusammen.
»Sie haben Schmerzen? Nicht wahr? Heftige?«
»Hoffentlich ist der Fuß nur verrenkt,« antwortete er, »'s ist mir doch noch nie passiert ... nun gerade heute ... ich weiß selbst nicht, wie's kam. Ich wollte Sie grüßen, und ... da ...« Ein Blick streifte über ihr Gesicht, der das zu sagen schien, was nun der Mund nicht eingestehen mochte.
Brigitte schlug die Augen nieder. Wenn doch nur jemand endlich käme. Wie lange sollte sie denn hier bei dem Fremden sitzen? Und die Frau Kantor! Die wartete ja auch da unten! Auf einmal rief sie erschrocken:
»Sie sind ja auch noch verwundet?« Sie deutete auf die eine Hand. Unter der vorgeschobenen Manschette rieselte sacht ein dunkelroter Blutstrom hervor. »Sie sind zu leichtsinnig gewesen! Den Tod konnten Sie sich holen!« Ihre Stimme klang scheltend und unmutig. Er ließ alles über sich ergehen.
»Vielleicht haben Sie recht! Ich will's auch nie, nie wieder tun, wie die kleinen Kinder immer so hübsch sagen,« erwiderte er leicht lächelnd.
»Um es beim nächsten Male doch wieder zu tun!« entgegnete sie. »Aber wir müssen den Arm untersuchen.«
Sie knöpfte die Manschette ihm ab und streifte dann, von ihm unterstützt, erst den Rockärmel empor, dann den des Hemdes.
»Eine hübsche Schramme!« lachte er.
»Das kommt von der Eitelkeit der Radler!« zürnte sie. »Immer sich hervortun, damit sie auch ja die Bewunderung ernten.«
»Tadeln Sie nur immer zu, Fräulein, die Meisterschaft Europas habe ich heute nicht errungen. Aber ... vielleicht ...« Er brach ab.
»Erlauben Sie,« sagte sie kurz und zog aus der Brusttasche seines Jacketts rasch das kokett hervorlugende weiße Tuch, erhob sich und eilte über den Weg in die Tannen zu einer kleinen Mulde, durch die ein schmales Rinnsal leise gluckerte. Dort durchtränkte sie das Tuch mit dem frischen Wasser, bückte sich darauf noch einmal und riß hastig einige saftige Pflanzenblätter ab. Darauf kehrte sie zurück. An der Seite des Fremden ließ sie sich wieder nieder.
»So!« sagte sie und preßte das feuchte Tuch auf die Wunde. »Nun halten Sie mal recht fest. Jetzt muß ich den Doktor spielen.« Sie öffnete ihre Handtasche und entnahm dieser ein Stück Leinwand, ein Paar Zwirnsfäden sowie eine Sicherheitsnadel. Sie riß die Leinwand in Streifen. Dann wusch sie mit dem Tuch die Wunde rein, legte flink und geschickt die Pflanzenblätter darüber, wand die Leinwand herum, umband sie und steckte sie mit der Nadel noch zu.
»Fürs erste!« lachte sie. »Noch hübsch still gehalten!« Mit dem einen Teil des Tuches säuberte sie noch seinen Arm, schob dann die Ärmel wieder vor und eilte noch einmal zum Bache, dort das Tuch von dem frischen Blut zu reinigen. Wie verträumt ließ der junge Mann alles über sich ergehen.
»Wie soll ich es Ihnen jemals danken, was Sie mir heute an Güte und Barmherzigkeit erweisen?« sagte er, als sie zu ihm zurückkehrte.
»Gar nicht,« erwiderte sie. »Oder ja doch: indem Sie mir versprechen, niemals wieder solche Dummheiten zu begehen.«
»Ich will es Ihnen versprechen,« antwortete er fast treuherzig. »Aber nun geben Sie mir auch mal Ihre Hand. So! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen viel, vielmal! Sehen Sie, so ein Händedruck, das ist wie eine feierliche Unterschrift. Nun kann man gar nicht anders ... nun muß man Wort halten ... ob man will oder nicht!«
»Sie sollen aber wollen!«
»Ich will ja auch! Wahr und wahrhaftig!«
Sie hatte ihm ihre Hand wieder entzogen und blickte mit leiser Unruhe den Weg auf und nieder.
»Es kommt wahrhaftig kein Mensch,« sagte sie. »Ich kann Sie doch unmöglich hier allein lassen.«
»Nein, nein! Um Gottes willen! Ich fürchte mich sonst! Ich müßte ja sterben!« Seine Augen blitzten sie so froh und übermütig an, daß sie nun doch lächeln mußte, so ernsthaft sie auch zu bleiben gedachte.
»Sie verdienen es gar nicht!« sprach sie.
»Das weiß ich ja alles, Fräulein! Aber es tut so wohl.«
»Meine arme Frau Kantor Macheleidt!« seufzte sie halblaut. »Die wird auch denken, ich halte nicht Wort.«
»Da unten?« Er deutete auf das Walddorf in der Tiefe.
»Ja. Es ist heute mein Nähtag bei ihr.«
»Herrgott, da wollt' ich ja auch hin!«
»Sie hat eine neue Nähmaschine bekommen. Heute wollt' ich sie einweihen.«
»Hahaha! Die ist ja von mir! Vorige Woche hab' ich sie ihr geliefert.«
»Sie? Von Ihnen?«
»Na, gewiß! Ich mache ja in Nähmaschinen.«
Jetzt mußte sie lachen.
»Wie das klingt! Hübsch eigentlich nicht.«
»Aber immer noch besser, als wenn einer ganz ernsthaft erklärt: ›Ich mache in Fadennudeln!‹ Oder ›in gestrickten Unterjacken!‹ Meinen Sie nicht?«
Da lachte sie wieder. Diesmal ganz laut, daß es gar fröhlich durch den Wald klang. Und dann sagte sie:
»Also Herr Berthold Küchler aus Gotha?«
»Sie kennen mich?«
»Per Renommee! Ich habe der Frau Kantor Ihre Adresse empfohlen und auch noch andern meiner Kundinnen. Meine eigne Maschine ist auch von Ihnen.«
»Ist's die Möglichkeit? Herrgott, da sind wir ja schon lange bekannt?«
»Zwei Jahre.«
»Bekannt, ohne uns zu kennen.«
»Brigitte Köllner aus Lerchental.«
»Da müssen Sie mir aber noch einmal Ihre Hand geben. Bitte, Fräulein! Bitte! Nein, solch ein Wiedersehen!« Er lachte über das ganze Gesicht.
»Da kommt Rettung!« rief sie plötzlich. »Das ist der Jagdwagen des Oberförsters. Der muß Sie mitnehmen bis zum Bahnhofe, denn heute wird's mm doch nichts mehr mit dem Besuche bei der Frau Kantor.«
»Leider!« seufzte er. »Muß dieser dumme Wagen auch jetzt schon kommen!«
»Seien Sie doch nicht so undankbar!«
»Ach! Sie haben gut spotten. Grüßen Sie nur die Frau Kantor recht schön. Beim besten Willen aber wär's mir nicht möglich gewesen.«
»Ich kann's bezeugen,« lächelte sie schelmisch und eilte dann dem langsam heraufkommenden Gefährt entgegen, um mit dem Oberförster einige Sätze zu wechseln.
Nun war der Wagen heran. Der Oberförster sprang herab und näherte sich dem am Waldrande Sitzenden.
»Herr Oberförster Eberhard – Herr Küchler aus Gotha,« stellte Brigitte die Herren vor.
»Heute müssen Sie 'mal den barmherzigen Samariter spielen, Herr Oberförster,« lachte sie.
»Nachdem Fräulein Köllner mich bereits gerettet und gepflegt hat,« ergänzte der Verwundete.
»Hoffentlich haben Sie stillgehalten?« scherzte der Oberförster.
»Musterhaft artig gewesen! Tadelloser Patient! Was, Fräulein?«
»Na, denn zu!« feuerte der Oberförster an. Er und Brigitte unterstützten den sich mühsam Erhebenden und geleiteten ihn zum Wagen. Dann ward das Rad aufgeladen.
»Tausend Dank vorläufig, Fräulein Köllner! Und grüßen Sie die edle Kantorsfrau.«
»Wird alles besorgt!«
»Wir sehen uns wieder?«
Statt einer Antwort reichte Brigitte dem Oberförster die Hand hinauf.
»Schön Dank auch. Adje!«
»Adje, adje! Vielen Dank! Hühott!«
Die Pferde zogen an, der Wagen rollte weiter zur Höhe empor, um dann jenseits zu verschwinden.
Brigitte Köllner schritt eiligst dem Dorfe zu. ›Na, die Frau Kantor wird Augen machen! Hoffentlich zürnt sie mir nicht allzusehr.‹
Wie sie aber, so still vor sich hinlächelnd, bergein zwischen den Tannen dahinschritt, lag nichts auf ihrem lieben, schönen Gesicht, das von Angst und Kummer etwa sprach.
Mitten durch das tägliche Gesprächsthema des Schusterpaares Metzler zog sich seit Wochen bereits wie ein roter Faden Brigitte Köllner. Die dunkeläugige Nachbarin war den beiden schlichten, kurzblickenden Seelen eine Art Sphinx geworden, ein lächelndes, aber leider schweigendes Geheimnis, das aufzulösen wohl des Schweißes der Edeln wert war.
Jetzt war es nicht mehr die Notflagge, die der wackeren Schusterfrau rascher das Blut durch die Adern trieb. Neue, bisher noch nicht beobachtete Erscheinungen hatten das Interesse aufs höchste gesteigert. Die Neugier glich einem überheizten Dampfkessel. Wenn sich nicht bald ein Ventil öffnete, so stand die dräuende Gefahr eines Zerberstens in Aussicht.
Seit Wochen prangten in den Fenstern des Stübchens der Nachbarin immer neue, frischgeschnittene, kostbare Rosen. Es schien geradezu, als füllten allnächtlich fleißige Heinzelmännchen Vasen und Gläser im Heim Brigittens damit.
»Aus ihren Garten sinn se nich, das sieht doch ä Blinder,« meinte die Meisterin.
»'s is ja richtig! Sonne Rosen wachsen überhaupt hier nich,« stimmte der Meister zu.
»Na, unn denn ... ich will ja nichts Schlechtes sagen: aber wie oft kommt jetzt eener von der Post. Bald ä Brief, bald ä Paket, 's geht mich ja nischt an, aber ... hm! ... ob's moralisch is? ... Hm! ... ich wasch' meine Hände in Unschuld!«
Und Frau Schuhmachermeister Metzler fuhr denn auch fort, ihre Hände in lilienreiner Unschuld zu waschen. Er aber freute sich noch immer, wenn der helle Gruß der Nachbarin an sein Ohr schlug, ihre geschmeidige Gestalt die Gasse hinunterschwebte.
»Hm!« murmelte er dann wohl, »auffallend is es ja, von wegen der vielen Bliemerchen ... aber, du lieber Gott, mich brennt's nich, unn Schlechtes kann man ihr au nich nachsagen.« Poch, poch, poch! vollendete darauf der Hammer den tiefsinnigen Satz.
Es war an einem stillen Sonntagnachmittag. Der Sommer ging bereits zur Rüste. Über dem Wald, dem offenen Lande, dem Bergstädtchen lag es heute wie Blau und Gold. Wie ein von Sehnsucht durchhauchtes Abschiedslied des Sommers, der noch einmal mit all seinem Glühen und Blühen, Drängen und Schwellen an das Menschenherz rühren wollte.
Nachbar Metzlers waren im Sonntagsstaat nach einem beliebten dörflichen Sommergarten gepilgert. Wie ausgestorben lag die Straße. Brigitte hatte erst lesend an einem Fenster gesessen. Dann erhob sie sich und schritt hinaus. Hinter dem Häuschen lag eine hübsche Laube. Von da konnte man drüben die grünen Buchenberge schauen. Dort ließ sie sich nieder. Ihre Hausleute waren ja auch ausgegangen. So war sie heute Alleinherrscherin im Hause.
Auf einmal schreckte sie leicht auf. Waren das nicht Schritte im Hausflur? Und jetzt ging die Hoftür ... die niedere Gartentür ward aufgestoßen. Brigitte erhob sich und trat aus der Laube. Da blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Herr Küchler! .... Nein, haben Sie mich erschreckt!«
»Habe ich das nicht schon einmal? Damals ... da oben im Walde?« Sein ganzes Gesicht leuchtete, als er jetzt näher trat, ihr die Hand fest und warm reichte und ihr für ein paar Herzschläge lang stumm ins Angesicht sah.
Dann fuhr er fort, stockend, erregt, immer noch ihre Hand in der seinen festhaltend: »Der dumme Fuß. Sechs Wochen mußte ich stillhalten ... Heute ist mein erster größerer Ausflug ... und der mußte Ihnen gelten ... Ihnen, der ich so viel verdanke.«
»Sie sollen nicht so reden! Ich kann's nicht hören!«
»Sie müssen es! Bedanken will ich mich für alles noch einmal ... Ihre lieben Briefe ...«
»Es war nicht recht, daß ich schrieb. Ich weiß es. Aber Sie baten so energisch darum ... immer wieder ... da bin ich schwach geworden.«
»Und mich hat's stark gemacht! Sie glauben gar nicht, wie ich mich schon vorher auf jeden neuen Brief freute! Wie ein Junge auf das Christkind!« »Nun sind Sie wieder ganz gesund?«
»Körperlich – wie der Fisch im Wasser! Aber ein andres Leiden hat sich bei mir eingestellt ... und da sollen Sie mir wieder helfen ... wie schon einmal Geschäftlich!«
»Geschäftlich?« Sie sah ihn verständnislos an. »Geschäftlich?« wiederholte sie.
»Ja, ja, geschäftlich! Sonst mache ich Pleite! Und das möchten Sie doch nicht, wenn Sie auch sonst mir alles Böse wünschen. Die Generalagentur für Nähmaschinen Berthold Küchler will sich vergrößern, muß sich ausdehnen, soll wachsen, um jeder Konkurrenz die Spitze zu bieten. Sie haben bereits für mich gewirkt, ehe Sie mich kannten, Ihr unvergleichlicher Scharfblick hat bald erkannt, das Gute von der Mittelware zu scheiden ... Sie sind der geborene Geschäftsteilnehmer! Und darum, Fräulein Brigitte, bin ich heute herübergekommen, Sie in aller Form und Feierlichkeit zu fragen, ob Sie geneigt sind ... in mein Geschäft einzutreten ... als stiller Kompagnon ... Fräulein Brigitte: meine Knochen sind wieder heil ... aber ... da drinnen ... das arme Herz ... das haben Sie krank gemacht ... und nun machen Sie es wieder heil. Sagen Sie nicht ›ja‹ noch ›nein‹! Schauen Sie mich an, aus Ihren Augen will ich alles lesen!«
Und sie sagte nicht ›ja‹ noch ›nein‹. Ein einziger Blick suchte den seinen, und dann zog er sie an seine Brust.
Das war ein Aufsehen in Lerchental, als beide Blättchen der Stadt in ihrer nächsten Nummer die Verlobung Brigittens mit dem Generalagenten Berthold Küchler in Gotha brachten. Doch jeder einzelne gönnte dem Mädchen das unerwartete Glück.
»Siehste!« sagte Frau Metzler zu ihrem Ehegespons, »da hammer's! Die hat nich umsonst die Notflagge all die Jahre uffgezogen.«
»Schäme dich, Frau!« erwiderte der Meister. »Die hat redlich ihr Glück verdient. Schließlich find't jedes Deppchen sei Deckelchen!«
»Nu, unn die Wäsche braucht se au nich umzusticken!« Damit hatte Frau Schuhmachermeister Metzler, weil es das letzte Wort war und weil es auch sonst stimmte, recht.